L 5 V 422/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 422/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Führt ein Lungenkarzinom innerhalb von 5 Monaten zum Tode, treten alle anderen Gesundheitsstörungen, auch anerkannte Schädigungsfolgen so in den Hintergrund, daß sie als Ursachen im Rechtssinne ausscheiden.
2. Entfällt aus Zeitgründen die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges eines Krebsleidens mit Einflüssen einer Haft, so fehlt es an einer Grundvoraussetzung für die Gewährung einer Kannleistung nach § 1 Abs. 3 S. 2 BVG.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 8. April 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 1906 geborene Ehemann der Klägerin H. R. (künftighin R. genannt), der vom 27. Juli 1948 bis 21. Mai 1953 in Ostdeutschland wegen angeblicher Spionage inhaftiert war, ist am 15. Januar 1966 verstorben. Die von OMRM Dr. H. ausgestellte amtsärztliche Bescheinigung führte als Todesursache Herzinfarkt, Arteriosklerose, Coronarsklerose, abszedierende Pneumonie und Lungentumor auf.

R. hatte aufgrund der Untersuchung durch Dres. O. und B. mit Erstanerkennungsbescheid vom 4. März 1955 eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. wegen Schädigungsfolgen:

"1) Restfolgen eines Eiweißmangelschadens.

2) Reizlose Narben (funktionell bedeutungslos) am linken Unterschenkel” bezogen.

Die auf seinen Erhöhungsantrag durchgeführten Untersuchungen durch Dres. H., U., B. und H. hatten ergeben, daß Folgen einer während der Haft durchgemachten Dystrophie weder klinisch noch labormäßig nachzuweisen seien. Als einziger auffälliger Befund habe eine gewisse vegetative Überregbarkeit mit Neigung zu Pulsbeschleunigung bestanden. Die klinische, röntgenologische und elektrocardiografische Herzuntersuchung habe keinen organischen krankhaften Herzbefund ergeben.

Der hiernach erteilte Bescheid vom 10. Oktober 1957 führte als Schädigungsfolgen lediglich noch auf:

"1) Narbe am linken Unterschenkel und 4. Zehe links (MdE – 0 v.H.),

2) geringe Blasenschließmuskelschwäche (MdE unter 10 v.H.)”.

Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1957).

Mit Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 29. November 1961 bezog R. seit 1. Dezember 1960 eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. da die Erwerbsfähigkeit wegen eines frischen Herzvorderwandspitzeninfarktes, peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen beider Beine, vorwiegend aber links bei allgemeiner Gefäßsklerose, einer geringen Blasenschließmuskelschwäche, Narben am linken Unterschenkel, an der vierten Zehe links und am rechten Jochbogen sowie wegen Regulationsstörungen im unwillkürlichen Nervensystem eine wesentliche Einschränkung erfahren hatte.

Das Sozialgericht Darmstadt hat nach Beweisaufnahme durch Einholung von Gutachten von Prof. Dr. S. vom 3. Oktober 1959, Prof. Dr. P. vom 8. Mai 1961 mit der Ergänzung vom 23. Februar 1963 und von Prof. Dr. R. vom 23. Juli 1962 mit Urteil vom 29. Mai 1963 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Gefäßveränderungen seien nicht als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Ein Zusammenhang der organischen Veränderungen der Herzkranzgefäße mit den Belastungen der politischen Haft bestehe nicht. Vielmehr sei nach bisheriger ärztlicher Erfahrung auf diesem Gebiet zu sagen, daß die Haftsituation mit ihren zumeist dystrophischen Ernährungsbedingungen den schicksalmäßigen Ablauf der Gefäßveränderungen nicht gefördert und beschleunigt habe, sondern sogar verhindert oder bewirkt habe, daß er stationär geblieben sei. Auch für die Entstehung des Gefäßleidens durch ein haftbedingtes Hochdruckleiden habe sich kein Anhalt ergeben. Es handele sich um eine schicksalhafte Entwicklung.

Nachdem Prof. Dr. A. in dem Berufungsverfahren vor dem Hessischen Landessozialgericht das Gutachten vom 17. Dezember 1964 erstattet hatte, erließ der Beklagte nach Anhörung des Facharztes für innere Krankheiten Dr. V. den Neufeststellungsbescheid vom 29. Oktober 1965, mit dem eine Versorgungsrente nach einer MdE um 30 v.H. ab 1. Dezember 1957 gewährt worden ist. Der Bescheid führte als Schädigungsfolgen auf:

"1) Narbe am linken Unterschenkel.

2) Geringe Blasenschließmuskelschwäche.

3) Herzmuskelschädigung”, und zwar zu 1) und zu 2) hervorgerufen im Sinne des § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), zu 3) verschlimmert durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 4 HHG.

In dem weiteren Gutachten vom 12. September 1966 vertrat Prof. Dr. S. die Ansicht, weder für den Hochdruck noch für die Coronarsklerose lasse sich eine meßbare Begünstigung, d.h. eine abgrenzbare Mitverursachung durch schädigende Einflüsse der sowjetzonalen Haft wahrscheinlich machen.

Nachdem Prof. Dr. R. das Gutachten vom 9. Mai 1967 abgegeben hatte, schlossen die Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres am 15. Januar 1966 verstorbenen Ehemannes und der Beklagte einen Vergleich, mit dem letzterer sich bereit erklärte, in Abänderung des Bescheides vom 29. Oktober 1965 die Blasenschließmuskelschwäche mit 10 v.H. zu bewerten und Versorgungsbezüge ab 1. Dezember 1957 nach einer MdE um 40 v.H. bis zum Tode zu gewähren. Diesen Vergleich führte der Bescheid vom 19. Januar 1968 aus.

Die Klägerin beantragte am 20. Januar 1966 Hinterbliebenenrente gemäß § 38 BVG, die nach Anhörung des Dr. M. mit Bescheid vom 7. Mai 1968 abgelehnt worden ist, da R. an einem Bronchialcarzinom und nicht an den anerkannten Schädigungsfolgen verstorben sei.

Der Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 1968 führte noch aus, die anerkannten Schädigungsfolgen seien in ihrer Auswirkung allezeit auf die betroffenen Körperpartien beschränkt geblieben. Bei dem Lungenkrebs habe es sich um ein neues, andersartiges Krankheitsgeschehen gehandelt. Regelrechte Brückensymptome einer chronischen Vorkrebskrankheit in der langjährigen Zwischenzeit seit Entlassung aus der politischen Haft im Jahre 1953 seien nicht nachweisbar gewesen. Der rapide Verlauf der Krebskrankheit von 5 Monaten sei durch den Wehrdienst oder die politische Haft weder hervorgerufen noch verschlimmert worden. Die allgemeine generalisierte Gefäßverkalkung und der abgelaufene Herzinfarkt mit Herzleistungsschwäche seien nicht als Schädigungsfolgen zu betrachten.

Der Bescheid vom 4. Oktober 1968 und Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1968 lehnten eine Kannversorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG ab, da die anerkannt gewesenen Schädigungsfolgen das Entstehen der zum Tode führenden Krebserkrankung wahrscheinlich nicht verursacht hätten. Die Gewährung einer Witwenbeihilfe nach § 48 Abs. 1 Satz 2 BVG als Kannversorgung im Wege des Härteausgleichs nach § 89 BVG ist ebenfalls abgelehnt worden, weil ein MdE-Grad von mindestens 70 v.H. nicht erreicht werde.

Mit Urteil vom 8. April 1970 hat das Sozialgericht Darmstadt die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, eine Hinterbliebenenrente gemäß § 38 BVG stehe der Klägerin nicht zu, da R. nicht an den anerkannten Schädigungsfolgen verstorben sei. Er sei an dem Lungencarzinom etwa zur gleichen Zeit gestorben, wenn er die Schädigungen nicht erlitten hätte. Die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen hätten sich nicht lebensverkürzend ausgewirkt. Der Lungenkrebs habe sich rein schicksalshaft entwickelt. Eine Versorgung als Kannleistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG sei nicht möglich. Gleichfalls komme eine Witwenbeihilfe nach § 48 Abs. 1 Satz 1 BVG oder Satz 2 BVG in Verbindung mit § 89 BVG nicht in Betracht.

Gegen das an die Klägerin mittels eingeschriebenen Briefes am 23. April 1970 abgesandte Urteil ist die Berufung am 12. Mai 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen, zu deren Begründung sie vorträgt, die Herzerkrankung beruhe allein auf der politischen Haft. Durch diese Erkrankung sei es auch zu dem Bezug der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit gekommen. Der Herzinfarkt habe, wie aus der ärztlichen Bescheinigung des Dr. H. hervorgehe, mit zum Tode geführt. Dieser wiederum gehe auf das anerkannte Herzleiden zurück. Ein Herzversagen sei die Todesursache gewesen. Das anerkannt gewesene Herzleiden habe sich durch 4 Herzinfarkte verschlimmert. Bereits im Jahre 1954 habe der Grad der Erwerbsminderung 60 v.H. betragen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 8. April 1970 und den Bescheid vom 7. Mai 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 1968 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, Hinterbliebenenrente gemäß § 38 BVG ab 1. Januar 1966 zu gewähren und den Bescheid vom 4. Oktober 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 1968 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus, die Todesursache sei das Lungencarzinom gewesen und nicht der vierte Herzinfarkt. Dem schädigungsbedingten Anteil an der Herzmuskelschädigung komme keine ursächliche Bedeutung zu. Die Herzinfarkte seien nicht als Folge der anerkannten Herzmuskelschädigung eingetreten.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Versorgungsakten mit der Grundlisten-Nr. , die Akte der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und die Akte des Sozialgerichts Darmstadt – S-3/V-6/58 – waren beigezogen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakte beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten gemäß § 142 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist zulässig; sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 SGG). Sie ist jedoch unbegründet. Die Bescheide vom 7. Mai und 4. Oktober 1968, die in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18. Oktober und 12. Dezember 1968 Gegenstand der Klage geworden sind (§ 95 SGG), sind zu Recht ergangen, denn der Klägerin steht keine Hinterbliebenenversorgung (§ 1 Abs. 5 BVG) gemäß § 38 BVG oder als Kannleistung gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG zu. Ebenfalls kommt eine Witwenbeihilfe gemäß § 48 BVG und auch nicht in Verbindung mit § 89 BVG in Betracht.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente, die nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG dann zu gewähren ist, wenn ein Beschädigter an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG stirbt. Dabei gilt nach § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG der Tod stets dann als Folge einer Schädigung, wenn ein Beschädigter an einem Leiden stirbt, das als Folge einer Schädigung rechtsverbindlich anerkannt und für das ihm im Zeitpunkt des Todes Rente zuerkannt war. Die Voraussetzungen der Rechtsvermutung liegen nicht vor. Denn bei dem Beschädigten R. waren auf Grund des rechtsverbindlichen Bescheides vom 19. Januar 1968 als Schädigungsfolgen "Narbe am linken Unterschenkel, geringe Blasenschließmuskelschwäche, Herzmuskelschädigung”, letztere im Sinne der Verschlimmerung, mit einer MdE um 40 v.H. anerkannt. Nach dem vom Bundessozialgericht (BSG) – Urteil vom 6.9.1961 – 11 RV 1052/58 (Soz.Recht § 38 Nr. 12) – aufgestellten Grundsatz muß der Beschädigte "an” dem Schädigungsleiden verstorben sein. Das ist dann der Fall, wenn das Schädigungsleiden eine wesentliche Ursache – auch Mitursache – des Todes gewesen ist. Ein im Sinne der Verschlimmerung anerkanntes Leiden kann ebenfalls ursächlich für den Tod sein (vgl. BSG vom 23.6.1960 – 11 RV 1320/59 – Soz-Recht S. 38 Nr. 9). Hier ist jedoch der Beschädigte ausschließlich an einem Lungencarzinom verstorben. Damit sind die als Rentenleiden anerkannt gewesenen Gesundheitsstörungen nicht identisch mit dem zum Tode führenden Leiden. Sie haben nicht den Tod im tatsächlichen Sinne verursacht und können somit auch nicht als wesentliche Ursache des Todes im Rechtssinne angesehen werden. Insoweit schließt sich der Senat der Äußerung des Dr. M. vom 24. April 1968 an, der zutreffend und nicht widerlegbar unter Auswertung des Obduktionsbefundes des Pathologischen Instituts der Universität H. ausgeführt hat, daß sich weder zeitliche noch ursächliche Beziehungen zwischen den anerkannt gewesenen Schädigungsfolgen und dem 1966 eingetretenen Tod herstellen ließen, der nur nach fünfmonatiger klinisch erkennbarer Krankheitsdauer eingetreten sei. Dieser rapide Verlauf sei durch den Wehrdienst oder die politische Haft weder hervorgerufen noch verschlimmert worden. Denn regelrechte Brückensymptome einer chronischen Vorkrebskrankheit wären in der langjährigen Zwischenzeit seit der Entlassung 1953 aus der politischen Haft nicht zu erkennen. Auch fehlten Kennzeichen jenes Vorstadiums von Lungenkrebs, in dem eine schwere chronisch eitrige, klinisch und röntgenologisch nachweisbare Bronchitis über Jahre bestanden und der Krebs sich im Gebiet der chronischen Entzündung durch Metaplasie entwickelt habe. Weder auf den Röntgenbildern vom Mai 1954, Juni 1957 und Oktober 1959 ließen sich nämlich im Bereich der Lungenfelder pathologische Herdschatten nachweisen. Erst im Herbst 1965 zeige das Röntgenbild eine homogene Verschattung der Lunge und auf Grund von Tumorzellen im Sputum sei dann das Lungencarzinom diagnostiziert worden.

Die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen hätten sich nicht lebensverkürzend ausgewirkt. Denn trotz zytostatischer Behandlung sei der tödliche Verfall an Lungenkrebs, der bereits von der linken in die gesamte rechte Lunge hineingewuchert sei, nicht mehr aufzuhalten gewesen. Bei diesem Sachverhalt kann die Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht eingreifen, weil nach Med. Direktor Dr. M. das Lungencarzinom allein die wesentliche Ursache des Todes darstellt und dieses als Schädigungsfolge nicht anerkannt war.

Der im Sinne der Verschlimmerung anerkannte Herzmuskelschaden ist für das Todesgeschehen ebenfalls ohne Bedeutung. Das gilt besonders auch für den festgestellten Herzinfarkt. Dieser scheidet als mittelbare Schädigungsfolge der anerkannten Herzmuskelschädigung aus. Insoweit hat der Facharzt für innere Krankheiten Dr. V. in seiner Stellungnahme vom 10. November 1965 (Beiakten L 5/V-724/63) in Auswertung des Gutachtens des Prof. Dr. A. vom 17. Dezember 1964 nachgewiesen, daß zwar ein Herzmuskelschaden als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung angenommen werden könne. Der erste im Jahre 1961 aufgetretene Herzinfarkt sei aber schon nicht mehr ursächlich auf die Einflüsse der schon im Jahre 1953 beendeten Haft zurückzuführen. Diese Feststellung wurde auch schon früher von Prof. Dr. P. in seinen Gutachten vom 8. Mai 1961 und 21. Februar 1962 getroffen und später von Prof. Dr. S. in einem weiteren ausführlichen Gutachten geteilt. Die gegenteilige Ansicht des Prof. Dr. R. ist durch diese Sachverständigen eindeutig widerlegt worden. Wenn im Hinblick hierauf Med. Direktor Dr. M. dem als Schädigungsfolge anerkannten Herzmuskelschaden keine Bedeutung für das Todesgeschehen beigemessen hat, so ist diese Feststellung eindeutig und überzeugend, weil sie letztlich auch durch den Obduktionsbefund gesichert ist. Denn danach nahm das Lungencarzinom einen so raschen und stürmischen Verlauf, daß daneben alle anderen Gesundheitsstörungen in den Hintergrund gedrängt wurden und als Todesursachen im Rechtssinne ausscheiden. Das folgt auch aus dem Bericht des staatlichen Gesundheitsamtes H. von 8. Februar 1968 (Bl. 137 VA), in dem als unmittelbare Todesursache das Bronchialcarzinom mit dem Klammerzusatz "5 Monate” bezeichnet wird. Demgegenüber ist die im Obduktionsbericht angegebene Todesursache "Rechtsherzversagen” (Bl. 152 VA) nur so zu verstehen, daß schließlich jeder Tod auf einem Herzstillstand beruht. Ursächlich für das Herzversagen war aber hier nicht ein Herzinfarkt, der auch nicht als Sekundärfolge des im Sinne der Verschlimmerung anerkannten Herzmuskelschadens anzusehen ist, sondern der Herzinfarkt ist im Zusammenwirken mit dem zum Tode führenden Lungencarzinom eingetreten. Scheidet nach allem ein Herzinfarkt als Sekundärfolge des anerkannten Herzmuskelschadens aus, kann auch insoweit die Rechtsvermutung des § 38 BVG nicht eingreifen.

Im Rahmen des § 38 BVG hatte der Senat aber nicht nur zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Rechtsvermutung vorliegen, die sich ausschließlich auf die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen und auf eventuelle Sekundärfolgen dieser Schädigungen zu beziehen hatte. Seine Prüfung mußte sich auch darauf erstrecken, ob die im Obduktionsbericht vom 18. Februar 1966 aufgeführten weiteren Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen in Frage kommen und zum Todesgeschehen beigetragen haben. Hierbei ist vor allem an die allgemeine Arteriosklerose, aber auch an das in früheren Gutachten ausführlich erörterte Bluthochdruckleiden zu denken. Auch insoweit folgt der Senat den Gutachten des Prof. Dr. P., des Prof. Dr. S. und des Med. Dir. Dr. V. die überzeugend die gegenteilige Auffassung des Prof. Dr. R. widerlegt haben. Danach haben die psychischen Belastungen der Haft nicht zu der Bluthochdruckerkrankung, aber auch nicht zu der schweren allgemeinen Arteriosklerose mit besonderer Beteiligung der Coronar- und Nierenarterien geführt. Demzufolge kann ein Zusammenhang zwischen Haftzeit und Gefäßerkrankung, auch im Sinne einer richtunggebenden Verschlimmerung, nicht angenommen werden. Damit liegen insgesamt die Voraussetzungen zur Gewährung von Hinterbliebenenrente im Sinne des § 38 BVG nicht vor.

Auch eine Witwenbeihilfe hat der Beklagte zu Recht versagt, wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat. Der Einwand der Klägerin, das erlittene Kriegs- und Haftleiden habe die völlige Erwerbsunfähigkeit herbeigeführt, was die Gewährung der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Wirkung vom 30. November 1960 durch die BfA beweise, ist nicht stichhaltig. Die begutachtenden Ärzte hatten damals keine Entscheidung darüber zu treffen welche Ursachen für die Erkrankungen die zur Erwerbsunfähigkeit geführt haben, zugrunde liegen, sondern sie hatten lediglich die Frage zu beantworten, ob durch die diagnostizierten Erkrankungen eine wesentliche Einschränkung der Erwerbsfähigkeit gegeben war. Das war jedoch erst ab 1961 der Fall, nachdem der erste Herzinfarkt sich schädigungsunabhängig eingestellt hatte. Dagegen hatten im Jahre 1954 lediglich nervös bedingte Kreislaufregulationsstörungen sowie eine Zwölffingerdarmschleimhautentzündung vorgelegen, die Dr. K. mit einer Erwerbsminderung von 60 v.H. bewertet hatte, aber nur im Sinne einer vorübergehenden Invalidität. Auch Dr. B. hat in seinem Gutachten vom 26. Oktober 1954 keine Berufsunfähigkeit angenommen, sondern lediglich eine Erwerbsminderung von 30–35 v.H. für eine schädigungsunabhängige neurozirkulatorische Dystonie mit einer schädigungsbedingten Tachycardie und einem gleichfalls schädigungsunabhängigen Zwölffingerdarmkatarrh festgestellt. Damit decken sich diese Feststellungen weitgehend mit den Befunden, wie sie sich aus den Gutachten des Dr. O. (Bl. 13 VA) und des Dr. Z. (Bl. 38 VA) ergeben. Sie rechtfertigen die damalige Annahme einer MdE von 30 v.H., wie sie der Bescheid vom 4. März 1955 (Bl. 61 VA) angenommen hatte. In gleicher Weise rechtfertigen sie auch die Ablehnung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit, die der Bescheid der BfA am 8. Februar 1955 ausgesprochen hat. Einen Grad der MdE um 70 v.H., den die Klägerin für angemessen hält, hatte auch nicht der Bescheid vom 19. Januar 1968 festgestellt, der für die Schädigungsfolgen "Narbe am linken Unterschenkel, geringe Blasenschließmuskelschwäche und Herzmuskelschädigung” die MdE mit 40 v.H. angenommen hatte. Das ist eine Bewertung, die auf Grund der ergangenen Gutachten der Prof. Dres. P. und S. ihre Richtigkeit hat, nach denen weder der Hochdruck noch die Coronarsklerose durch schädigende Einflüsse der sowjetzonalen Haft entstanden oder verschlimmert worden ist. Durch diese Gutachten ist Prof. Dr. R. eindeutig widerlegt worden, der bei seiner Begutachtung nicht bedacht hat, daß gerade die Hungerdystrophie der Entwicklung von Arteriosklerosen und ganz besonders von coronarsklerotischen Prozessen eindeutig entgegenwirkt. Außerdem stellte die Coronarsklerose bei R. nur die Teilerscheinung einer allgemeinen arteriosklerotischen Systemerkrankung der Schlagadern dar, wobei der Anlagefaktor eindeutig zutage trat. Dazu kam noch ein mittelstarker Nikotingenuß, der ebenfalls eine schädigende Wirkung auf die Entwicklung der Coronarsklerose nach Prof. Dr. S. ausgeübt hat. Die psychischen Belastungen der Inhaftierung treten gegenüber diesen Faktoren in den Hintergrund.

Bei diesem Sachverhalt hat das Sozialgericht zu Recht dem Begehren der Klägerin auf eine Witwenrente gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 BVG nicht entsprochen, denn ihr verstorbener Ehemann bezog im Zeitpunkt seines Todes weder die Rente eines Erwerbsunfähigen oder eine Pflegezulage noch hatte er einen Anspruch hierauf. Da der Grad der MdE auf Grund des vor dem Hessischen Landessozialgericht geschlossenen Vergleich vom 10. Januar 1968 lediglich 40 v.H. betrug, kommt auch eine Witwenbeihilfe gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht in Betracht, die dann gewährt werden kann, wenn ein Beschädigter im Zeitpunkt seines Todes einen Anspruch auf eine Rente nach einer MdE um wenigstens 70 v.H. hatte. Das schließt es ferner aus, eine Witwenbeihilfe nach § 89 BVG im Wege des Härteausgleichs zu gewähren, da dafür auch ein Grad der MdE um 70 v.H. Voraussetzung wäre. Die Ablehnung eines solchen Anspruchs stellt damit kein ermessensmißbräuchliches Verhalten des Beklagten dar.

Auch eine Hinterbliebenenversorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG kommt nicht in Betracht. Nach dieser gesetzlichen Vorschrift kann mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung – ersatzweise mit Zustimmung des Hessischen Sozialministers – Versorgung als Kannleistung gewährt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der ärztlichen Wissenschaft Ungewißheit besteht. Zu diesen Erkrankungen gehört der Krebs, der zu dem Tod des R. am 15. Januar 1966 geführt hatte, nachdem die Krankheit im Herbst 1965 erstmalig erkannt worden war. Der Senat hat jedoch ebenso wie das Vordergericht in der Ablehnung einer Hinterbliebenenversorgung kein ermessensfehlerhaftes Verhalten der Versorgungsbehörde finden können, da bei der Entscheidung das eingeräumte Ermessen nicht willkürlich, sondern pflichtgemäß ausgeübt worden ist. Da es sich als Kannleistung um eine Ermessensentscheidung der Versorgungsbehörde handelt, obliegt den Gerichten nicht die Nachprüfung des Verwaltungsermessens selbst, sondern nur die Prüfung der Frage, ob die Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Ermessensmißbrauch oder eine Ermessensüberschreitung war nicht festzustellen, da die Ablehnung des Antrages einmal auf dem Grundsatzgutachten des Prof. Dr. B. beruht und zum anderen auf der medizinischen Äußerung des Dr. M. Nach dem Grundsatzgutachten des Prof. Dr. B. kommt eine Versorgung als Kannleistung nur dann in Betracht, wenn die betreffende Person durch die Besonderheiten der Haft einer länger dauernden Einwirkung krebsbegünstigender oder krebsauslösender Schädigungen ausgesetzt gewesen ist, ohne daß jedoch den Umständen nach die Exposition eine so schwere war, daß die Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG bejaht zu werden vermöchte. Die von Prof. Dr. B. erarbeiteten Richtlinien für eine Härteausgleichsversorgung haben jetzt auch ihren Niederschlag in dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit vom 16. Juni 1969 (BVBl. 1969, 70) gefunden, nach dem die Voraussetzungen für eine Versorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG dann gegeben sind, wenn das allgemeine Krebsrisiko durch Tatbestände des § 1 BVG individuelle erheblich erhöht worden ist. Das trifft danach bei Personen zu, die durch dienstliche Verhältnisse in vermehrten Maße der Einwirkung karzinogener Substanzen ausgesetzt waren, wobei aber die Exposition nicht so massiv war, daß man die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs annehmen, andererseits aber auch nicht so gering war, daß man dieser Exposition im Verhältnis zu der Menge im täglichen Leben aufgenommener gleichartig wirkender karzinogener Substanzen keine wesentliche Bedeutung zumessen könnte. Das trifft nach diesem Rundschreiben auch bei Personen mit chronischen Entzündungen zu, die mit schädigenden Einwirkungen in ursächlichem Zusammenhang stehen, sofern die chronische Entzündung über mindestens fünf Jahre bestanden und der Krebs sich in dem Gebiet der chronischen Entzündung entwickelt hat.

Vorliegend sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, da keine Anzeichen für eine schädigungsbedingte mindestens fünfjährige chronische Entzündung am Orte der späteren Krebsentstehung gegeben sind. Denn weder auf den Röntgenbildern vom Mai 1954, Juni 1957 und Oktober 1959 ließen sich im Bereich der Lungenfelder pathologischen Herdschatten nachweisen, was erst im Herbst 1965 der Fall war, wo erstmals eine homogene Verschattung der Lunge festgestellt werden konnte. Damit kann nicht von einer lang dauernden chronischen Verlaufsform gesprochen werden, die bis in die Jahre 1953 zurückgeht. Es ist vielmehr eindeutig festzustellen, daß das Lungencarzinom ohne erkennbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Inhaftierung des R. schicksalhaft aufgetreten ist.

Hiernach konnte der Senat sich nicht die Überzeugung verschaffen, daß Anhaltspunkte für einen zeitlichen Zusammenhang des Krebsleidens mit Erkrankungen während der Inhaftierung bestehen. Damit scheidet nach Dr. M. von vornherein die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges des Krebsleidens mit Einflüssen der ostzonalen Haft aus, die die Voraussetzung einer Kannleistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG bildet. Zu Recht ist daher mit Bescheid vom 4. Oktober 1968 und Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1968 die Gewährung einer Kannleistung abgelehnt worden. Ein Ermessensfehler kann darin nicht erblickt werden.

Nach alledem hat der Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung in Form der Hinterbliebenenrente gemäß § 38 BVG, als Kannleistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG oder im Wege der Witwenbeihilfe gemäß § 48 Abs. 1 BVG keine sachliche Grundlage. Demzufolge war der Berufung der Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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