L 3 U 1054/96

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 284/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1054/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 16. Juli 1996 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit.

Der im Januar 1936 geborene Kläger war in der Zeit von 1968 bis 1986 bei der Firma E. GmbH & Co. KG in B. in der Lackiererei beschäftigt. Zu den Aufgaben des Klägers gehört es, Bleche und Metallteile in einem Bad mit auf 80 Grad erhitztem Trichloräthylen zu entfetten. Der Kläger ist seit dem 1. November 1986 arbeitsunfähig. Mit Schreiben vom 6. August 1991 teilte der Kläger der Beklagten mit, er sei mittlerweile erblindet. Die seit 1982 aufgetretene zunehmende Sehverschlechterung führe er auf die Einwirkung des Berufsstoffs "Tri” zurück. Der den Kläger seit Juni 1987 behandelnde Augenarzt Dr. L. vertrat in seinem von der Beklagten angeforderten Befundbericht die Auffassung, die bei dem Kläger bestehende Erblindung sei vornehmlich durch eine Opticusatrophie verursacht. Die ebenfalls festgestellten Netzhaut-Aderhaut-Veränderungen im Sinne einer Retinopathia diabetica erklärten die Funktionsminderung des Sehorgans nicht. Ursache für die Erblindung sei die Tri-Intoxikation und nicht der diätetisch gut eingestellte Diabetes mellitus. Prof. Dr. G., Leitender Oberarzt in der Augenklinik des Klinikums der Universität H., berichtete, der Kläger habe sich erstmals im Mai 1984 in der Klinik wegen einer Retinopathia diabetica beidseits vorgestellt. Die ausgeprägten zuckerbedingten Netzhautveränderungen seien mit Laserstrahlen behandelt worden. Für die bei dem Kläger vorliegende Sehschwäche sei mit Wahrscheinlichkeit der Diabetes mellitus und die an beiden Augen aufgetretene Retinopathia diabetica verantwortlich zu machen.

Die Beklagte ließ von dem Priv.-Doz. Dr. H. und dem Assistenzarzt Dr. D. Augenklinik des Klinikums der Justus-Liebig-Universität G., unter dem 20. Januar 1994 ein augenärztliches Gutachten erstellen. Die Gutachter gelangten zu dem Ergebnis, eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit liege bei dem Kläger nicht vor. Für die vorliegende Sehschwäche seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Zuckerkrankheit und das an beiden Augen aufgetretene zuckerbedingte proliferative Netzhautleiden verantwortlich. Eine Trichloräthylenintoxikation als Ursache der Augenveränderungen könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Freies Chlor sowie Phosgen befinde sich nicht im Trichloräthylen. Erst ab einer Erhitzung auf 110 Grad könne als Zersetzungsprodukt z.B. Phosgen entstehen. In der Literatur werde nach Trichloräthylenexposition z.B. eine Bindehautentzündung, Pupillenerweiterung, Glaskörperentzündung oder auch Sehnervenentzündung beschrieben. Diese Befunde bzw. Folgeerscheinungen lägen bei dem Kläger nicht vor. Zwar liege bei dem Kläger eine Sehnervenkopfabblassung vor, wie sie gelegentlich auch nach Sehnervenentzündungen auftreten könne. Jedoch könne die Sehnervenkopfabblassung bei dem Kläger auch durchaus Folge der Kleingefäßerkrankung, des chronischen Bluthochdrucks sowie der ausgeprägten zuckerbedingten Netzhauterkrankung sein. Eine direkte Intoxikation des Auges durch Trichloräthylen sei extrem unwahrscheinlich, da von dem Kläger anamnestisch weder Reizungen der Augen oder ähnliches angegeben werde, noch Folgeerscheinungen hiervon vorlägen. Der Kläger leide an einem durch Minderdurchblutung hervorgerufenen teilweisen Schwund des Sehnervenkopfes sowie an einer zuckerbedingten und bluthochdruckbedingten Netzhauterkrankung.

Durch Bescheid vom 16. August 1994 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Sehschwäche des Klägers als Berufskrankheit ab.

Der Kläger hat hiergegen am 30. August 1994 Widerspruch eingelegt und geltend gemacht, auch ein Toxikologe müsse als Sachverständiger gehört werden.

Im Auftrag der Beklagten gab daraufhin der Arzt für Pharmakologie und Toxikologie und Direktor der Abteilung Toxikologie und Arbeitsmedizin am Institut für Arbeitsphysiologie der Universität Dortmund, Prof. Dr. Dr. B. eine toxikologische Stellungnahme unter dem 24. Oktober 1994 ab. Prof. Dr. Dr. B. gelangte zu dem Ergebnis, der Kläger sei in erheblichem Maße Trichloräthylen ausgesetzt gewesen. Nach heutigem Verständnis seien die Expositionsverhältnisse der damals vorliegenden Art nicht mehr tolerabel. Jedoch sei mit allergrößter Wahrscheinlichkeit kein kausaler Zusammenhang zwischen der inkriminierten Arbeitsstoffexposition und der Augenerkrankung des Klägers anzunehmen. Denn eine spezielle toxische Wirkung des Lösemittels Trichlorethen bzw. Trichloräthylen auf den Sehnerven sei in der hier vorliegenden Konstellation nicht bekannt. Die Überlegungen und Schlußfolgerungen des augenärztlichen Gutachtens seien auch aus toxikologischer Sicht voll und ganz mitzutragen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1995 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Der Kläger hat hiergegen am 23. Februar 1995 beim Sozialgericht Darmstadt (SG) Klage erhoben. Der Kläger übersandte eine Stellungnahme seines Augenarztes Dr. L. vom 20. September 1995 und einen Aufsatz des Instituts für Arbeitsmedizin der Universität des Saarlandes über "Schädigung des zentralen Nervensystems durch heterogene Lösungsmittelgemische”. Er machte geltend, er leide zwar unter einem Diabetes mellitus. Dieser sei jedoch diätetisch gut eingestellt und nicht insulinpflichtig. Auch typische Gefäßschäden im Bereich der Niere oder Nervenschädigungen, die bei Diabetes mellitus typischerweise aufträten, seien bei ihm nicht vorhanden. Der wissenschaftlichen Arbeit sei im übrigen zu entnehmen, daß in 2/3 der Fälle bei Arbeitnehmern, die Kontakt zu Lösungsmittelgemischen gehabt hätten, Augenbeschwerden aufgetreten seien.

Das SG hat durch Urteil vom 16. Juli 1996 die Klage abgewiesen.

Gegen dieses seinem Prozeßbevollmächtigten am 26. Juli 1996 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 8. August 1996, eingegangen am 12. August 1996, beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und geltend gemacht, Trichlorethen sei ein starkes Nervengift, das sehr wohl zu Augenbeschwerden führe. Der Diabetes mellitus sei diätetisch gut eingestellt, es lägen auch keine sonstigen diabetischen Folgeerkrankungen bei ihm vor, so daß es nicht gerechtfertigt sei, die bestehenden Augenveränderungen allein dem Diabetes anzulasten. Auch der im Jahr 1984 einmal festgestellte Bluthochdruck könne nicht für die Sehschädigung verantwortlich sein, denn der Bluthochdruck sei in der Folgezeit nicht einmal behandlungsbedürftig gewesen. Er halte es für ausgeschlossen, daß Erkrankungen mit einer so leichten Verlaufsform derartige Veränderungen auslösen könnten.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 16. Juli 1996 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. August 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 1995 zu verurteilen, die Sehstörung beider Augen als Berufskrankheit nach Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat von dem Hausarzt des Klägers Dr. K. einen Befundbericht eingeholt. Dieser teilte unter dem 19. Dezember 1996 und 22. Mai 1997 mit, bei dem Kläger sei seit ca. 10 Jahren ein Diabetes mellitus bekannt, der bisher medikamentös und diätetisch behandelt worden sei. Aufgrund einer Blutzucker-Entgleisung und Ketoazidese sei der Kläger im August 1996 stationär behandelt worden. Dabei sei er auf Insulin-Gabe umgestellt worden. Aufgrund einer Retinopathia diabetica sei es bei dem Kläger schon mehrfach zu Laserkoagulationen gekommen, welche in der Augenklinik der Universität Heidelberg durchgeführt worden seien. Der Kläger sei wegen eines Bluthochdruckleidens anfänglich mit Beta-Rezeptorenblockern und anschließend mit Calcium-Antagonisten behandelt worden.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die Gerichtsakte und die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Urteil des SG und die von dem Kläger angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtlich nicht zu beanstanden. Denn der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung seiner beidseitigen Sehstörungen als Berufskrankheit.

Trichlorethen, früher Trichloräthylen genannt, gehört zu den Halogenkohlenwasserstoffen. Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe sind unter Nr. 1302 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) als Berufskrankheiten anerkannt. Zwar war der Kläger an seinem Arbeitsplatz in der Lackiererei der Firma E. GmbH & Co. KG einer Trichlorethenexposition ausgesetzt, die grundsätzlich geeignet war, Gesundheitsstörungen zu verursachen. Jedoch kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, daß diese Einwirkungen von Trichlorethen bei dem Kläger die ärztlicherseits festgestellte Sehminderung verursacht hat. Denn es sprechen mehr medizinisch-wissenschaftliche Gründe gegen als für einen Ursachenzusammenhang.

Der Kläger leidet den augenärztlichen Feststellungen zufolge an einem Schwund des Sehnervenkopfes und einer Retinopathia diabetica, einer durch die Zuckerkrankheit verursachten Kleingefäßerkrankung der Netzhaut. Wegen dieser Netzhauterkrankung wurde bereits ab dem Jahr 1984 an beiden Augen mehrmals eine Laserkoagulation durchgeführt. Daneben besteht bei dem Kläger ein Fundus hypertonicus, ein durch Bluthochdruck bedingtes Netzhautleiden. Diese Erkrankungen der Netzhaut sind nach ärztlicher Aussage geeignet, einen durch Minderdurchblutung hervorgerufenen Schwund des Sehnervenkopfes zu verursachen. Sowohl die von der Beklagten als Gutachter gehörten Ärzte der Universitätsaugenklinik Gießen, Priv.-Doz. Dr. H. und Dr. D. als auch die den Kläger in der Universitätsklinik H. behandelnden Augenärzte führen den bei dem Kläger festgestellten teilweisen Schwund des Sehnervenkopfes und die damit einhergehende Sehschwäche auf die Retinopathia diabetica zurück.

Priv.-Doz. Dr. H. und Dr. D. legen überzeugend dar, daß eine am Arbeitsplatz des Klägers erfolgte Trichlorethenintoxikation als Ursache für die bei dem Kläger vorgefundenen Augenveränderungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist. So führen diese aus, daß freies Chlor sowie Phosgen sich nicht in den am Arbeitsplatz des Klägers freigewordenen Trichlorethendämpfen befunden hat und erst ab einer Erhitzung auf 110 Grad als Zersetzungsprodukt Phosgen entstehen kann. Sie weisen daraufhin, daß in der Literatur nach Trichlorethenexpositionen eine Bindehautentzündung, Pupillenerweiterung, Glaskörperentzündungen oder auch eine Sehnervenentzündung beschrieben wird und gelegentlich aufgrund einer Sehnervenentzündung auch eine Sehnervenkopfabblassung herbeigeführt werden kann. Sie weisen jedoch daraufhin, daß bei dem Kläger weder solche Befunde erhoben worden sind noch von dem Kläger selbst Augenreizungen oder ähnliches als Symptome angegeben worden sind. Der von der Beklagten gehörte Toxikologe Prof. Dr. Dr. B. hat ausgeführt, daß eine spezielle toxische Wirkung des Lösemittels Trichlorethen auf den Sehnerv in der wie im Falle des Klägers vorliegenden Konstellation nicht bekannt sei. Er gelangte zu dem Ergebnis, daß die Überlegungen und Schlußfolgerungen des augenärztlichen Gutachtens auch aus toxikologischer Sicht zutreffend seien.

Diese Ausführungen der von der Beklagten gehörten Gutachter, deren Gutachten im Rahmen des Urkundenbeweises zu verwerten war, werden bestätigt durch die von dem Kläger vorgelegte wissenschaftliche Arbeit des Instituts für Arbeitsmedizin der Universität des Saarlandes. Dort wird als Folge einer Einwirkung des Lösungs- und Reinigungsmittels Trichlorethen eine lokale Reizung insbesondere der Augenschleimhaut genannt.

Entgegen der Ansicht des Klägers können die von dem Augenarzt Dr. L. vorgetragenen Argumente einen Kausalzusammenhang zwischen der Einwirkung von Trichlorethen und der Sehminderung des Klägers nicht begründen. Dr. L. vertritt die Auffassung, daß aufgrund des klinischen Verlaufs des Diabetes mellitus ein Kausalzusammenhang zwischen dieser Erkrankung und der stark fortschreitenden Sehverschlechterung nicht zu bejahen sei. Dr. L. übersieht dabei, daß bei dem Kläger bereits im Jahre 1984 ausgeprägte zuckerbedingte Netzhautveränderungen mit Gewebsneubildung festgestellt worden sind, die eine Laserkoagulationsbehandlung notwendig machten. Diese aufgrund der Zuckerkrankheit bedingte Kleingefäßerkrankung der Netzhaut besteht somit schon seit über einem Jahrzehnt und hat über diesen Zeitraum auch zu einer Minderdurchblutung geführt Diese jahrelange Minderdurchblutung war zweifellos geeignet, den bei dem Kläger festgestellten teilweisen Schwund des Sehnervenkopfes beidseits und die zunehmende Sehverschlechterung beidseits herbeizuführen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), die über die Nichtzulassung der Revision aus § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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