L 1 B 39/07 AS ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 27 AS 147/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 B 39/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Dem Antragsteller wird im Hinblick auf die versäumte Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 08.06.2007 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 10.05.2007 bis zum Abschluss des vor dem Sozialgericht Dortmund geführten Klageverfahrens einen Betrag von monatlich 30,68 Euro für kostenaufwändige Ernährung zu zahlen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt X, I-straße 0, E beigeordnet.

Gründe:

I.

Der Antragsteller nimmt die Antragsgegnerin auf Zahlung eines krankheitsbedingten Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung in Anspruch.

Der 1968 geborene Antragsteller steht bei der Antragsgegnerin im Leistungsbezug. Er wird von der Diakonie N e.V. (D.) betreut. Der Regelsatz wird von der Antragsgegnerin an D. überwiesen; die Kosten der Unterkunft und Heizung erhält der Vermieter unmittelbar von der Antragsgegnerin.

Frau Dr. I, behandelnde Ärztin des Antragstellers, führt bei ihm eine Methadonsubstitution durch. Aufgrund der von Frau Dr. I gestellten Diagnosen "Leberzirrhose" und "Hepatitis-C" beantragte der Antragsteller die Anerkennung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung nach § 21 Abs. 5 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB II). Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin nach Einholung einer Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes ab (Bescheid vom 18.01.2007).

Den hiergegen erhobenen Widerspruch begründete der Antragsteller mit einer Stellungnahme der Frau Dr. I vom 19.03.2007. Frau Dr. I hatte dort auf die Therapierichtlinien der WHO Bezug genommen und mitgeteilt, dass bei einer durch Virusinfektionen hervorgerufenen chronischen Lebererkrankung eine vitaminreiche Kost mit erhöhtem Eiweiß erforderlich sei.

In einer von der Antragsgegnerin veranlassten Stellungnahme des ärztlichen Dienstes führte die Ärztin Frau W aus, dass bei einer Hepatitis eine gesunde Ernährung erforderlich sei. Darüber hinaus müssten Lebergifte wie Alkohol gemieden werden. Besondere Mehrkosten entstünden hierdurch jedoch nicht. Die Antragsgegnerin wies daraufhin den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 12.04.2007).

Mit dem am 10.05.2007 gestellten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und der gleichzeitig erhobenen Klage hat der Antragsteller geltend gemacht, dass er dringend auf kostenaufwändigere Ernährung angewiesen sei, um einer Verschlechterung der Leberfunktion und einem Leberversagen entgegenwirken zu können. Aus einem weiteren Attest der Frau Dr. I vom 09.05.2007 ergebe sich, dass GGT, GOT und GPT bis auf das 10-fache erhöht seien und die Lebersyntheseleistung gestört sei.

Die Antragsgegnerin ist dem Vorbringen des Antragstellers mit einer Stellungnahme der Frau W (Ärztlicher Dienst) vom 21.05.2007 entgegengetreten. Frau W hat in dieser Stellungnahme die Ansicht vertreten, dass die Leberwerte des Antragstellers anlässlich einer im Dezember 2006 durchgeführten Untersuchung praktisch im normalen Bereich gelegen hätten. Die Untersuchung habe zudem keine Anhaltspunkte für eine beginnende Leberzirrhose erbracht.

Mit Beschluss vom 08.06.2007 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es hat ausgeführt, dass ein Anordnungsanspruch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht worden sei. Nach der Stellungnahme der Frau W spreche vieles dafür, dass den gesundheitlichen Problemen des Antragstellers durch das Meiden von schädigenden Einflüssen begegnet werden könne. Ungeachtet dessen sei ein Anordnungsgrund nicht erkennbar. Denn es sei nicht ersichtlich, dass durch die Vorenthaltung eines Betrages von etwa 30,00 Euro eine Notlage eintreten könne.

Gegen den ihm zunächst per Telefax am 11.06.2007 (bzw. 08.06.2007) und sodann am 13.06.2007 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 13.07.2007 Beschwerde erhoben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Aufgrund eines Büroversehens sei nicht die richtige Frist eingetragen worden. In der Sache sei zu berücksichtigen, dass sich aus einem Attest der Frau Dr. I vom 26.06.2007 ergebe, dass die Leberschädigung als Nebenwirkung aus der Verabreichung des Methadons resultiere. Das Gericht habe jedenfalls eine Folgenabwägung durchzuführen, die vorliegend zu seinen Gunsten ausfallen müsse.

Der Antragsteller beantragt seinem schriftsätzlichen Vorbringen entsprechend,

die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihm ab 10.05.2007 bis zum Abschluss des vor dem Sozialgericht Dortmund geführten Klageverfahrens einen Betrag von monatlich 30,68 Euro für kostenaufwändige Ernährung zu zahlen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie vertritt unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der Frau W vom 09.08.2007 die Ansicht, dass eine Leberinsuffizienz bislang nicht nachgewiesen sei. Das Medikament Methadon habe keine leberschädigende Wirkung.

II.

Dem Antragsteller war gemäß § 67 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Seinem Prozessbevollmächtigten ist der angefochtene Beschluss ausweislich des übersandten Empfangsbekenntnisses bereits am 11.06.2007 bzw. schon am 08.06.2007 per Telefax zugestellt worden, so dass die Beschwerdefrist spätestens am 11.07.2007 abgelaufen ist. Der Prozessbevollmächtigte war jedoch ohne Verschulden gehindert, die Beschwerdefrist einzuhalten. Aufgrund eines Büroversehens bzw. einer Verkettung von Büroversehen wurde im Ergebnis ein unzutreffender Fristablauf in den Fristenkalender eingetragen. Der Senat geht davon aus, dass die Mitarbeiter/innen des Prozessbevollmächtigten ihre Tätigkeiten sorgfältig verrichten und vom Prozessbevollmächtigten sorgfältig in ihre Aufgabenbereiche eingewiesen worden sind. Hat er jedoch zuverlässige Angestellte mit der Organisation des Betriebsablaufs und insbesondere der Fristenkontrolle beauftragt, so muss er sich auch ohne ständige Kontrollen auf deren Angaben und Handlungen verlassen können.

Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfebeschluss vom 16.07.2007), hat in der Sache Erfolg. Der Antragsteller hat gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch auf Anerkennung eines Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung im Wege einstweiliger Anordnung.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes voraus. Ein Anordnungsanspruch liegt vor, wenn der Antragsteller das Bestehen eines Rechtsverhältnisses glaubhaft macht, aus dem er eigene Ansprüche ableitet. Ein Anordnungsgrund ist nur dann gegeben, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm unter Berücksichtigung der widerstreitenden öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache nicht zuzumuten ist (vgl. Berlit, info also 2005, 3 [7]). Erforderlich ist mithin das Vorliegen einer gegenwärtigen und dringenden Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht. Soweit es um die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz geht, müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen bzw. - wenn dies nicht möglich ist - auf der Grundlage einer Folgenabwägung entscheiden (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12.05.2005 - Az.: 1 BvR 569/05, Breithaupt 2005, 803 ff., m.w.N.; Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage 2005, § 86b, Rn. 29a).

Gemäß § 21 Abs. 5 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Mit dem Mehrbedarf sollen drohende oder bestehende Gesundheitsstörungen abgewendet oder gelindert werden (vgl. Münder in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 21, Rn. 24). Im Hinblick auf die Art der Erkrankung und der Höhe der Krankenkostzulage kann auf die vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelten und an typisierten Fallgestaltungen orientierten Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen zurückgegriffen werden (BT-Drs. 15/1516, S. 57; vgl. auch Lang in Eicher/Spellbrink, SGB II, 1. Auflage 2005, § 21, Rn. 64 ff.; Münder in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 21, Rn. 28 ff, beide m.w.N.). Diese Empfehlungen sind in die Durchführungshinweise der Bundesagentur für Arbeit eingeflossen.

Mit dem Sozialgericht ist der Senat der Ansicht, dass gegenwärtig nicht abschließend geklärt ist, ob der Antragsteller unter einer einen Mehrbedarf rechtfertigenden Leberinsuffizienz leidet und vor diesem Hintergrund einer eiweißdefinierten Kost bedarf. Während die den Antragsteller behandelnde Ärztin Dr. I in ihren Stellungnahmen eine Leberzirrhose mit jedenfalls zeitweilig deutlich erhöhten Laborwerten diagnostiziert hat, hat Frau W eine derartige Erkrankung bislang nicht feststellen können und die Auffassung vertreten, dass eine eiweißdefinierte Kost nicht erforderlich sei. Vor dem Hintergrund dieser sich widersprechenden Stellungnahmen sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache als offen zu bezeichnen, so dass auch ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht ist.

Allerdings ist der Senat bei dem hier gegebenen Sachverhalt mit den möglicherweise beim Antragsteller vorliegenden schweren Erkrankungen aufgrund einer Folgenabwägung zu einer dem Antragsteller günstigen Entscheidung gelangt. Dabei hat der Senat der Intensität des Grundrechtsbezuges - vorliegend insbesondere einer möglichen Verletzung der durch Art. 1 Grundgesetz (GG) garantierten Menschenwürde und der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Garantie der körperlichen Unversehrtheit - maßgebliches Gewicht beigemessen. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, ergäbe sich jedoch im Rahmen der Hauptsache, dass der Anspruch auf den geltend gemachten Mehrbedarf besteht, wäre der Antragsteller in den genannten Grundrechten verletzt, ohne dass sich diese Verletzung wieder rückgängig machen ließe. Denn der Regelsatz deckt lediglich das soziokulturelle Existenzminimum ab. Der Antragsteller wäre damit vor die Wahl gestellt, entweder seinen krankheitsbedingten Mehrbedarf aus dem Regelsatz zu tragen - und damit das Existenzminimum zu unterschreiten - oder ggf. zu Lasten seiner Gesundheit eine Unterdeckung des Mehrbedarfs in Kauf zu nehmen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Antragsteller gegenwärtig noch ein von der Antragsgegnerin gewährtes Kautionsdarlehen in Höhe von 350,00 Euro mit monatlichen Raten von 25,00 Euro zu tilgen hat (vgl. Bescheid vom 21.09.2006), so dass ihm der Regelsatz bereits jetzt nicht in voller Höhe zur Verfügung steht. Würde sich demgegenüber im Rahmen der Hauptsache herausstellen, dass dieser Beschluss zu Unrecht ergangen wäre, hätte die Antragsgegnerin grundsätzlich die Möglichkeit, den Antragsteller auf Rückzahlung der erhaltenen Leistungen in Anspruch zu nehmen (vgl. ausführlich Hessisches Landessozialgericht [LSG], Beschluss vom 05.02.2007 - Az.: L 7 AS 241/06 ER, sozialgerichtsbarkeit.de sowie Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 86b, Rn, 22 und 49 ff., m.w.N.).

Bei der Höhe des zuerkannten Mehrbedarfs hat sich der Senat an den Empfehlungen des Deutschen Vereins orientiert, die bei einer Leberinsuffizienz einen Mehrbedarf in Höhe von 30,68 Euro vorsehen. Da der Antragsteller engmaschig durch D. betreut wird, ist eine zweckwidrige Verwendung des zuerkannten Mehrbedarfs jedenfalls gegenwärtig nicht zu befürchten.

Angesichts der obigen Ausführungen hat die vom Antragsteller im Beschwerdeverfahren beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung, so dass Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu bewilligen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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