S 9 AL 44/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 AL 44/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 94/07
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist ein Arbeitslosengeldanspruch der Klägerin in Deutschland.

Die Klägerin ist 1965 in Deutschland geboren und nach eigenen Angaben auch in Deutschland aufgewachsen. Sie ist niederländische Staatsangehörige, da ihr Vater niederländischer Staatsangehöriger ist. Seit 1995 wohnt die Klägerin nach Heirat mit einem Niederländer in den Niederlanden, wo auch ihre Tochter zur Schule geht. Beruflich war die Klägerin nach eigenen Angaben immer in Deutschland tätig. Ihr letztes Arbeitsverhältnis vom 00.00.0000 bis 00.00.0000 war eine Stelle als Textilverkäuferin in C. bei der A. u.T. GmbH, der deutschen Tochter einer niederländischen Filialkette. Vom 00.00.0000 bis 00.00.0000 bezog die Klägerin Krankengeld/Übergangsgeld von der B. Rheinland.

Seit spätestens November 0000 bewarb sich die Klägerin bei verschiedenen Arbeitgebern in den Niederlanden. Im Mai 0000 beantragte sie bei der V. in I., Niederlande, WAO-Leitsungen. Ab dem 00.00. beantragte sie WW-Uitkering (Leistungen nach dem Werkloosheidswet), die der niederländische Träger ablehnte, weil die Klägerin ohne Not selbst gekündigt und damit ihre Arbeitslosigkeit herbeigeführt habe (Bescheid vom 00.00.0000). Die Klägerin, die sich bereits am 00.00.0000 bei der Beklagten arbeitslos gemeldet hatte, beantragte darauf hin am 00.00.0000 Arbeitslosengeld. Sie machte gesundheitliche Einschränkungen geltend, die sie mit einem Attest ihres Hausarztes in M., Niederlande, belegte.

Die Beklagte verneinte ihre Leistungsverpflichtung (Bescheid vom 00.00.0000). Nach § 30 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) bestehe ein Anspruch nur für Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland, was bei der Klägerin nicht der Fall sei. Auch nach Europarecht (Artikel 71 VO 1408 aus 71) unterfalle die Klägerin nicht dem deutschen Rechtsstatut, sondern es sei der niederländische Träger für sie zuständig. Den Widerspruch wies die Beklagte zurück (Bescheid vom 00.00.0000).

Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin beruft sich auf die Grundsätze der Entscheidung 1 BvR 809/95 des Bundesverfassungsgerichtes vom 30.12.1999, wonach arbeitslosen Grenzgängern § 30 SGB I nicht entgegengehalten werden könne, wenn in Deutschland Beitragspflicht bestanden habe. Diese Rechtsauffassung habe auch das LSG NRW sich in einem Termin vom 30.01.2004 (Aktenzeichen: L 9 AL 80/03) zu eigen gemacht. Das Sozialgericht Aachen habe mit Urteil vom 27.04.2007 (S 8 (11) AL 103/06) einen vergleichbaren Sachverhalt im Sinne der Klägerin entschieden. Es liege ein sogenannter "Miethe-Fall" nach der EuGH-Rechtsprechung vor, da die Klägerin die besten Vermittlungschancen in Deutschland habe, wohin auch ihre beruflichen und persönlichen Beziehungen wiesen. Sie beherrsche nicht ausreichend Niederländisch für eine erfolgreiche Vermittlung in den Niederlanden.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 21.09.2005 und den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 03.04.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin antragsgemäß Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf einen Vermerk in ihren Akten vom September 0000, wonach die Klägerin ausgezeichnet niederländisch spreche.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch eine Einholung einer Auskunft des niederländischen Trägers, auf deren Inhalt Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin kann kein Arbeitslosengeld in Deutschland beanspruchen.

Die Klägerin hat keinen Anspruch nach innerstaatlichem deutschem Recht, denn deutsches Recht ist nicht anwendbar. Es liegt ein sog. Sachverhalt mit Auslandsberührung vor, weshalb zunächst zu ermitteln ist, das Recht welchen Staates - hier Niederlande oder Deutschland - anwendbar ist. Im Verhältnis der Niederlande zu Deutschland ergibt sich das Kollisionsrecht aus dem sog. supranationalen Recht, dem Recht der Europäischen Union, für den Bereich der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer geregelt in der Verordnung (VO) 1408/71.

Die VO 1408/71 verweist vorliegend auf niederländisches Recht. Die von der Klägerin für sich in Anspruch genommene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist hingegen nicht einschlägig, denn sie betraf den Anspruch eines Grenzgängers in einem damals noch nicht der Europäischen Union angehörigen Land. Deshalb konnte das Bundesverfassungsgericht § 30 SGB I im Licht des deutschen Verfassungsrechts auslegen und zu einem Anspruch nach deutschem innerstaatlichem Recht gelangen. Das Recht der Europäischen Union geht aber deutschem Recht vor, auch deutschem Verfassungsrecht einschließlich des Grundrechtsschutzes (zuletzt Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 14.05.2007, 1 BvR 2036/05 - sog. Solange-Rechtsprechung).

Nach Artikel 71 VO 1408/71 unterfällt die Klägerin dem niederländischen Rechtsstatut. Die Klägerin hat zwar ihren Wohnsitz in den Niederlanden, war aber in Deutschland beschäftigt. Sie ist damit Grenzgängerin. Grenzgänger sind Arbeitnehmer, die die Beschäftigung eines Mitgliedsstaates ausüben, aber im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates wohnen, so dass Wohnsitz und Beschäftigungsstaat auseinander fallen.

Unterschieden wird dabei zwischen dem echten und dem unechten Grenzgänger. Der echte Grenzgänger ist der Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedsstaates beschäftigt ist und im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates wohnt, in das er in der Regel täglich, mindestens aber einmal wöchentlich zurückkehrt (Artikel 1 Buchst b VO 1408/71). Unechte Grenzgänger erfüllen dieses Rückkehrerfordernis nicht, weil sie sich längere Zeit im Beschäftigungsstaat aufhalten.

Echte und unechte Grenzgänger unterstellt Artikel 71 VO 1408/71 hinsichtlich des Leistungsbezuges aus der Arbeitslosenversicherung unterschiedlichen Statuten.

Nach Artikel 71 Abs. 1 Buchst a Ziff. ii VO 1408/71 erhalten echte Grenzgänger, bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates in dem sie wohnen, als ob während der letzten Beschäftigung die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates für sie gegolten hätten. Hingegen haben unechte Grenzgänger ein Wahlrecht zwischen Leistungsansprüchen gegen den Wohnsitzstaat oder den letzten Beschäftigungsstaat (Artikel 71 Abs. 1 Buchst b Ziff. ii VO 1408/71). Arbeitnehmer, die nicht (echte) Grenzgänger sind und die sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaates zur Verfügung stellen, in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren, erhalten bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates, als ob sie dort zuletzt beschäftigt gewesen wären. Im Ergebnis können unechte Grenzgänger dadurch, dass sie sich der Arbeitsvermittlung im Wohnsitz- oder im bisherigen Beschäftigungsstaat zur Verfügung stellen, zwischen den Trägern der beiden in Betracht kommenden Mitgliedstaaten wählen (Landessozialgericht - LSG - für das Saarland, Urteil vom 04.04.2006, L 6 AL 21/04). Der Verordnunggeber konnte nämlich bei den unechten Grenzgängern nicht eindeutig davon ausgehen, dass in der Regel am Wohnsitz oder im Beschäftigungsstaat die besseren Vermittlungschancen bestehen, weshalb ein Wahlrecht sachgerecht sei (LSG Saarland, a.a.O.).

Die Klägerin war echte Grenzgängerin, da sie in den Niederlanden wohnte, aber täglich ihren Beschäftigungsort in C. aufsuchte. Nach den vorstehend geschilderten Grundsätzen ist deshalb das niederländische Recht auf sie anzuwenden.

Allerdings ist der Klägerin zuzugeben, dass die vorstehend geschilderte Rechtslage nicht ohne Einschränkungen zutrifft. Denn mit der sog. Miethe-Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urteil vom 12.06.1986, C- 1/85) das Wahlrecht auch atypischen echten Grenzgängern zugestanden, deren Interessenlage mit den unechten Grenzgängern vergleichbar ist. Danach soll das Wahlrecht auch Arbeitslosen zustehen, die nicht im Beschäftigungsstaat wohnen, in diesem aber persönliche und berufliche Bindungen solcher Art aufrecht erhalten, dass sie dort die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung haben. Die Feststellung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, obliegt den nationalen Gerichten (EuGH, a.a.O.). Hinter der Miethe-Rechtsprechung steht der Gedanke, dass Wanderarbeitnehmern Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu den Bedingungen garantiert werden sollen, die für die Suche nach einem Arbeitsplatz am günstigsten sind (LSG Saarland, a.a.O.).

Ein solches Wahlrecht steht der Klägerin nicht zu. Ihre Vermittlungschancen in Deutschland sind jedenfalls nicht besser als in den Niederlanden. Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt werden maßgeblich durch die schulische und berufliche Ausbildung sowie die kulturelle und soziale Bindung bestimmt (LSG NRW, Urteil vom 16.03.2005, L 12 AL 187/04). Hier lässt sich nicht feststellen, dass die niederländisch-deutsche Grenze bisher im Leben der Klägerin eine einschneidende Rolle gespielt hat. Zwar ging sie in Deutschland zur Schule und hat auch dort gearbeitet. Sie arbeitete jedoch zuletzt für die Auslandsniederlassusng eines niederländischen Unternehmens. Sie selbst ist Niederländerin und mit einem Niederländer verheiratet. Auch ihr Vater ist Niederländer, die Mutter jedoch Deutsche. Wo die Schwiegereltern wohnen, ist nicht vorgetragen. Die Tochter geht in den Niederlanden zur Schule, auch ihren Hausarzt hat die Klägerin in den Niederlanden. Der Lebenslauf der Klägerin zeigt eher, dass im Aachen-Limburger-Grenzgebiet sozio-kulturelle Zuordnungen zu der einen oder anderen Seite der Grenze häufig nicht eindeutig möglich sind, wenn auch im Falle der Klägerin seit 0000 der Schwerpunkt eher auf die Niederlande verweist. Jedenfalls ergibt sich aber aus einer Abwägung dieser Kriterien nicht - was aber nach der o.g. genannten EuGH-Rechtsprechung notwendig wäre - dass die Klägerin in Deutschland bessere Vermittlungschancen hätte als in den Niederlanden. Es gibt aber auch keine anderen Umstände, die eine bessere Vermittelbarkeit der Klägerin in Deutschland im Vergleich zu den Niederlanden nahelegen.

Dabei kommt es zum einen auf die Verhältnisse des Arbeitsmarktes an, die nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in dem auch von der Klägerin herangezogenen Verfahren Sozialgericht Aachen, S 8 (11) AL 103/06 in den Niederlanden entspannter sind als in der Bundesrepublik. Anders in der in jenem Verfahren ergangenen Entscheidung ist die erkennende Kammer der Auffassung, dass die Verhältnisse der jeweiligen Arbeitsmärkte sehr wohl zu berücksichtigen sind, da es auf die konkreten Vermittlungschancen ankommt. Soweit in dem zitierten Urteil vom 27.04.2007 darauf abgestellt ist, bei der Durchsetzung nach Art. 14 GG geschützter Anwartschaftsrechte aus Beitragszahlungen dürfe es nicht auf Zufälle der Arbeitslosenstatistik ankommen, folgt die Kammer dem ausdrücklich nicht. Eine Prüfung anhand des deutschen innerstaatlichen Verfassungsrechtes findet im vorliegenden Fall schon aus kollisionsrechtlichen Gründen nicht statt (s.o.). Im übrigen stellt Art. 71 VO 1408/71 sicher, dass die Beitragszahlung eine entsprechende Versicherung bewirkt, wenn auch unter Umständen in verschiedenen Mitgliedsstaaten. Die Verordnung regelt sogar ausdrücklich, dass für die Beitragserhebung und die Leistungsgewährung unterschiedliche Mitgliedsstaaten zuständig sein können.

Soweit zum anderen die Klägerin erstmals in der deshalb vertagten mündlichen Verhandlung am 25.01.2007 hat, nicht ausreichend niederländisch zu können, spricht der ermittelte Sachverhalt gegen ein ernstes Vermittlungshindernis in den Niederlanden.

Ausweislich der vom niederländischen Träger übersandten Unterlagen hat sich die Klägerin seit 0000 in gutem Niederländisch um verschiedene Arbeitsstellen beworben und dabei immer auch wieder ihre gute Kommunikationsfähigkeit hervorgehoben. Ihr Arbeitsvermittler bei der Beklagten hat am 00.00.0000 als Ergebnis eines Beratungsgespräches u.a. festgehalten, dass "ausgezeichnete" niederländische Sprachkenntnisse bestehen. Auch im Widerspruchsbescheid ist auf die guten niederländischen Sprachkenntnisse Bezug genommen, ohne dass dies in der sehr ausführlichen Klageschrift - die Sprachkenntnisse ausdrücklich problematisiert - auch nur erwähnt worden wäre. Die Kammer geht vor diesem Hintergrund nicht davon aus, dass auf dem niederländischen Arbeitsmarkt ein wesentliches Sprachhindernis besteht. Jedenfalls wiegt es aber auch nicht schwerer, als umgekehrt die Tatsache, dass die im Jahre 0000 geborene Tochter der Klägerin eine niederländische Schule besucht und nach den eigenen Angaben der Klägerin im Termin am 25.01.2007 - insoweit nicht protokolliert - die Kinderbetreuung "auch eines der Probleme mit dem Arbeitgeber" in Deutschland war.

Als nur ergänzendes Indiz kommt die Tatsache hinzu, dass die Klägerin seit 0000 Arbeitsstellen in den Niederlanden suchte, während die Arbeitslosmeldung in der Bundesrepublik vom 00.00.0000 datiert.

Offen bleiben kann vor diesem Hintergrund, ob die Klägerin durch ihre Meldung beim niederländischen Träger das ihr nach ihrer Ansicht zustehende Wahlrecht nicht bereits ausgeübt hatte. Denn die Meldung beim deutschen Träger erfolgte erst nach Ablehnung der Leistungen in den Niederlanden, die nicht erfolgte, weil der niederländische Träger die Zuständigkeit des deutschen angenommen hätte (offenbar wurden demnach keine Vermittlungshindernisse gesehen), sondern weil die Leistungsvoraussetzungen nicht gegeben waren. Denn offensichtlich führt das der Sperrzeit entsprechende Rechtsinstitut in der niederländischen Arbeitslosengesetzgebung, anders als in Deutschland, zu einem dauerhaften Ausschluss der Leistungen. Das Wahlrecht nach "Miethe"-Grundsätzen dient jedoch nicht der Wahl des günstigeren Leistungsrechtes, sondern orientiert sich ausschließlich an den Vermittlungschancen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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