L 3 U 557/75

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 557/75
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
MdE-Bewertung bei Schülern
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Februar 1975 bezüglich der Rentengewährung für die Zeit ab 27. März 1972 abgeändert und die Klage insoweit abgewiesen.

Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Nach der Unfallanzeige des Gymnasiums in W. erlitt der 1956 geborene Kläger am 22. Januar 1972 in der Sportstunde beim Sprung über das Pferd eine Fraktur des rechten Ellenbogengelenks. Zur operativen Versorgung befand er sich bis zum 8. Februar 1972 in der Universitätsklinik in H. Am 23. Februar 1972 besuchte er wieder die Schule und am 26. März 1973 wurde der Gipsverband abgenommen. Der Kläger stand auch in der Folgezeit bis zum 11. April 1972 in ambulanter Behandlung und wurde vom 6. bis 22. Dezember 1972 erneut stationär nur intensiven krankengymnastischen Übungsbehandlung aufgenommen. Nach dem Gutachten von Priv. Dozent Dr. med. R. und Dr. med. T. (Orthopädische Universitätsklinik in H.) wurde der rechte Arm – der Kläger ist Rechtshänder – in einer leichten Adduktionshaltung im Schultergelenk sowie in einer Beugehaltung von 160 Grad im Ellenbogengelenk gehalten. Hinsichtlich der Schulter- und Oberarmmuskulatur bestanden keine Seitendifferenzen; die Hauttemperatur war im Bereich der oberen Extremitäten seitengleich. An der Außenseite des rechten Ellenbogengelenkes fand sich eine längs verlaufende, etwa 15 cm lange Narbe, die im mittleren Bereich deutlich verbreitert und mit Keloid versehen war. Die Ellenbogengelenkskonturen waren etwas verplumpt und über dem Epicondyluß ulnaris bestand eine leichte Druckempfindlichkeit. Bei Bewegung im rechten Schultergelenk war ein deutliches Knorpelreiben wahrnehmbar, wie auch die Unterarmmuskulatur rechts gegenüber links geringgradig vermindert war. Die Hohlhandbeschwielung war rechts etwas vermindert, wie auch die grobe Kraft der gleichen Hand. Dagegen bestand freie Handgelenksbeweglichkeit, Finger- und Daumenspreizung waren aktiv wie passiv möglich, Fingerspitzgriff und Faustschluß beiderseits durchführbar. Im gesamten Ellenbogenbereich bestand nach der Röntgenaufnahme eine Minderung des Kalksalzgehaltes. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzten die untersuchenden Ärzte mit 100 v.H. für die Zeit vom 22. Januar 1972 bis 26. März 1973 (soll wohl heißen: 1972) und für die Zeit danach mit 20 v.H. ein. In dem zweiten Rentengutachten vom 11. Januar 1974 hielten Prof. Dr. med. R. und Dr. med. G., H., für das rechte Ellenbogengelenk eine Streckung/Beugung von 140/70 und für das linke eine solche von 180/35 fest. Gegenüber dem letzten maßgeblichen Gutachten sei es zu keiner wesentlichen Besserung gekommen.

Durch Bescheid vom 22. Februar 1974 erkannte die Beklagte als Unfallfolgen an: "Zustand nach Bruch des rechten Oberarmes im Bereich des Ellenbogengelenkes, der unter Verplumpung des körperfernen Endes des Oberarmes fest durchbaut ist. Bewegungseinschränkung des rechten Ellenbogengelenkes, X-Stellung der Bruchstücke im Bruchbereich, Verschmälerung des rechten Ellenbogengelenkspaltes. Muskelminderung des rechten Ober- und Unterarmes,” und gewährte für die Zeit vom 23. Januar bis 22. Februar 1972 eine Unfallrente nach einer MdE um 100 v.H. Dabei ging sie davon aus, daß der Kläger wegen der Unfallfolgen die Schule nicht bis zum 22. Februar 1972 habe besuchen können. Ab 23. Februar 1972 gewährte sie laufend eine Rente nach einer MdE um 20 v.H.

Gegen den am 22. Februar 1974 zur Post aufgelieferten Bescheid hat der Kläger am 20. März 1974 bei der Beklagten Klage erhoben, die diese an das Sozialgericht Darmstadt (SG) abgegeben hat. Zur Begründung berief er sich ergänzend auf ein Schreiben des ärztlichen Direktors der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in L. Dr. med. A. vom 12. Juli 1974, der aufgrund klinischer und röntgenologischer Untersuchung ausführte, er würde die MdE wahrscheinlich mit 25–30 v.H. eingeschätzt haben.

Durch Urteil vom 26. Februar 1975 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides vom 22. Februar 1974 verurteilt, die Verletztenrente des Klägers bis zum 26. März 1972 nach einer MdE um 100 v.H. zu bemessen, ab 27. März bis 23. Dezember 1972 nach einer MdE um 40 v.H. und ab 24. Dezember 1972 nach einer MdE um 30 v.H. Da der Kläger den rechten Arm im Gipsverband bzw. in einer Oberarmschiene bis zum 26. März 1972 habe tragen müssen, könne die Erwerbsminderung nicht unter 100 v.H. eingeschätzt werden, da dem Kläger für diesen Zeitraum von 2 Monaten eine Erwerbstätigkeit von wirtschaftlichem Wert nicht zugemutet werden könne. Für den Zeitraum vom 27. März bis 23. Dezember des gleichen Jahres sei zu berücksichtigen, daß sich vom 8. bis 22. Dezember eine stationäre Behandlung mit intensiver Krankengymnastik als erforderlich erwiesen habe; im Zusammenwirken mit der nur allmählich zurückgegangenen Narbenempfindlichkeit sei deshalb eine MdE um 40 v.H. bis zum 23. Dezember 1972 für notwendig zu erachten. Das SG erteilte die Rechtsmittelbelehrung, daß gegen dieses Urteil Berufung nur statthaft sei, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt werde und dieser auch tatsächlich vorliege.

Gegen das ihm am 22. Mai 1975 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 19. Juni 1975 Berufung eingelegt. Das erstinstanzliche Gericht habe mindestens drei wesentliche Verfahrensfehler begangen. Im Hinblick auf die Anwendung des § 581 Abs. 1 und Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) auf den Kreis der nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 b RVO Versicherten hätte das SG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulassen müssen. Ein weiterer Mangel des Verfahrens bestehe in der unzureichenden Sachaufklärung (§ 103 SGG). Das SG habe sich über die Einschätzung der MdE in den Gutachten des Prof. Dr. med. R. vom 28. März 1973 und 11. Januar 1974 (mit 20 v.H.) hinweggesetzt, in dem es die MdE mit 30 v.H. bewertet habe, und zwar ohne ausreichende Begründung und ohne selbst die erforderliche Sachkunde zu besitzen oder in den Entscheidungsgründen darzulegen, worauf die eigene Fachkunde beruhe. In dem Verhalten des Gerichtes sei aber auch ein Überschreiten der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung zu sehen. Weiter liege ein Verstoß gegen die Erfahrungssätze des täglichen Lebens bzw. gegen Denkgesetze vor. Dieser bestehe darin, daß das SG die Fortdauer der Erwerbsunfähigkeit bei dem Kläger trotz des Schulbesuches für gegeben erachtet habe. Schließlich sei der Rechtsstreit nicht durch den gesetzlichen Richter entschieden. Die Sache sei zunächst bei der 4. und dann plötzlich bei der 5. Kammer bearbeitet worden, ohne daß die Beteiligten hierauf in irgendeiner Weise hingewiesen worden seien.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Darmstadt vom 26. Februar 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Unfall- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist – entgegen der Rechtsmittelbelehrung – statthaft. Sie betrifft zwar lediglich den Grad der MdE, jedoch hängt die Schwerbeschädigteneigenschaft davon ab, so daß der Ausschließungsgrund des § 145 Nr. 4 SGG nicht vorliegt. Das SG hat den Beklagten nämlich zur Gewährung von Verletztenrente nach einer MdE um 100 % bis zum 26. März 1972 verurteilt. Da er sich gegen das Urteil des SG auch insoweit wendet und dem Kläger nicht entsprechend seinem Schriftsatz vom 2. Oktober 1974 nachträglich für diesen Zeitraum Rente nach einer MdE um 50 % gewährt hat, ergreift die bezüglich dieses Teilanspruchs statthafte Berufung einheitlich die gesamte Verurteilung zur Rentengewährung. Die Berufung ist daher insgesamt statthaft.

Sie ist jedoch nur zum Teil begründet, und zwar soweit das SG den Beklagten verurteilt hat, dem Kläger ab 27. März 1972 Rente nach einer höheren MdE als 20 % zu gewähren.

Das SG hat zwar zutreffend die Auffassung vertreten, daß bei Schülerunfällen (§ 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchstabe b RVO) in Bezug auf die MdE-Festsetzung keine von den allgemeinen Regeln abweichenden Grundsätze gelten. Auch hier gilt, wie bei allen Versicherten, der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung, wobei die MdE wie bei Erwachsenen mit gleichen Unfallfolgen zu bewerten ist.

Insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Indem das SG die unfallbedingte MdE ab 27. März 1972 mit 40 % bzw. 30 % festsetzte, hat es sich jedoch ohne hinreichende Begründung über die Bewertung des Prof. Dr. R. in dessen Gutachten vom 11. Januar 1974 hinweggesetzt. Ärztliche Schätzungen des MdE-Grades sind zwar weder für die Versicherungsträger noch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bindend, wohl aber bedeutsame Anhaltspunkte, von denen abzuweichen nur gerechtfertigt ist, wenn dies unter Berücksichtigung aller Einzelumstände nach der Lebenserfahrung geboten ist (vgl. u.a. BSG 4, 147). Die gleichmäßige Behandlung aller Unfallverletzten erfordert es dabei auch, daß Bewertungsmaßstäbe herangezogen werden, denen im Schrifttum und Rechtsprechung allgemeine Bedeutung beigemessen wird. Das SG hat demgegenüber den MdE-Grad losgelöst hiervon nach eigenem Ermessen bewertet.

Für den Dauerzustand am rechten Arm des Klägers hat Prof. R. in seinem Gutachten vom 11. Januar 1974 zutreffend einen MdE-Grad von 20 % geschätzt. Der Oberarmbruch ist nämlich fest ausgeheilt, allerdings unter Verplumpung des körperfernen Oberarmendes mit einer leichten X-Fehlstellung im Bruchbereich. Wesentlich für die MdE-Bildung ist aber die Funktionsbeeinträchtigung des rechten Armes, die im wesentlichen durch eine Bewegungseinschränkung im rechten Ellenbogengelenk verursacht wird, während die Beweglichkeit in den Hand- und Fingergelenken sowie die Armbeweglichkeit gegenüber links nicht abweicht. Das Ellenbogengelenk konnte rechts bis 140° (links 180°) gestreckt und bis 70° (links 55°) gebeugt werden. Die Restbeweglichkeit dieses Gelenkes beträgt daher mehr als 45–90°, wofür bei Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, 5. Auflage, S. 66, ein MdE-Grad von 20 % angenommen wird. Der Kläger kann seinen rechten Arm noch wesentlich benutzen, so daß ein MdE-Grad von 30 % nicht zu rechtfertigen ist. Das gilt umsomehr für die vom SG ausgesprochene Verurteilung des Beklagten zur Rentenzahlung nach einer MdE um 40 % für die Zeit vom 27. März bis 23. Dezember 1972. Das SG hat diese Bewertung damit begründet, der Kläger sei vom 8. bis 22. Dezember 1972 stationär krankengymnastisch behandelt worden. Eine vermehrte Funktionsbeeinträchtigung hat es jedoch nicht festgestellt. Auch die als weiterer Grund angeführte "allmählich zurückgehende Narbenempfindlichkeit” war unter diesem ausschlaggebenden Gesichtspunkt nicht geeignet, den MdE-Grad zu erhöhen.

Im übrigen, d.h. in Bezug auf die Verurteilung zur Gewährung der Vollrente bis zum 26. März 1972, dem Zeitpunkt der Abnahme des Gipsverbandes, ist die Berufung dagegen unbegründet. Der Kläger konnte in diesem Zeitraum zwar am Unterricht teilnehmen, jedoch keine schriftlichen Arbeiten verrichten. Die Ansicht des Beklagten, in diesem Falle dürfe nicht wie beim krankheitsbedingten Fernbleiben vom Unterricht die Vollrente gewährt werden, geht fehl. Wie bereits oben ausgeführt wurde, gelten hinsichtlich der MdE-Festsetzung bei Schülern die gleichen Grundsätze wie bei Erwachsenen, d.h. die MdE bemißt sich abstrakt nach der Arbeitsmöglichkeit, die nach dem Unfall verbleiben würde, wenn sie dem Arbeitsmarkt bereits zur Verfügung stünden; Auswirkungen des Unfalls auf die besondere erzieherische und schulische Situation bleiben dabei unberücksichtigt (so auch Rundschreiben Nr. 78/74 der Bundesarbeitsgemeinschaft der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand e.V.). Da ein Versicherter mit einem Oberarmgips aber keine Arbeiten von nutzbringendem Wert verrichten kann, ist die unfallbedingte MdE entsprechend dem Gutachten des Prof. Dr. R. vom 28. März 1975 für den genannten Zeitraum mit 100 % zu bewerten. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, die über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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