L 3 U 222/75

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 1b U 101/73
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 222/75
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. § 150 Nr. 3 SGG ist auch auf Fälle anzuwenden, in denen über den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer versicherten Tätigkeit und einem Unfallereignis zu entscheiden ist.
2. Eine 13-jährige Schülerin, die beim Diktat die Mine ihres Farbstiftes verschluckt, ist dabei gegen Unfall versichert.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 10. Januar 1975 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, der Klägerin 672,30 DM zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die 1959 geborene Beigeladene ist durch ihren Vater bei der Klägerin familienversichert. Nach der Unfallanzeige der Marienschule in F. steckte sie am 30. Mai 1972 während des Schulunterrichts gegen 12.30 Uhr bei einem Diktat ihren Kugelschreiber in den Mund. Dabei löste sich das Endteil des Vierfarbenstiftes, das sie verschluckte. Infolge der notwendig gewordenen stationären Behandlung in den Städt. Krankenanstalten entstanden der Klägerin 672,30 DM an Krankenhauskosten für die Zeit vom 30. Mai bis 7. Juni 1972.

Nachdem der Beklagte eine Erstattung dieses Betrages ablehnte, hat die Klägerin am 6. September 1973 bei dem Sozialgericht Fulda (SG) Klage erhoben. Durch Urteil vom 10. Januar 1975 hat dieses die Klage abgewiesen. Das Verschlucken der Spitze eines Kugelschreibers sei kein Ereignis, das auf typische Gefahren des Schulbetriebes zurückzuführen sei. Der Unfall habe sich zwar während des Schulunterrichts ereignet, stehe aber nicht in ursächlichem Zusammenhang mit diesem, zumal es nicht an der erforderlichen Aufsicht gefehlt habe. Das SG erteilte die Rechtsmittelbelehrung, daß das Urteil mit der Berufung angefochten werden könne.

Gegen das ihr am 28. Februar 1975 durch Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. März 1975 schriftlich bei dem Hessischen Landessozialgericht (HLSG) Berufung eingelegt. In Fragen der haftungsbegründenden Kausalität dürfe bei Schülern nicht kleinlich verfahren werden. Ihr Unfallversicherungsschutz müsse möglichst alle Gefahren abdecken, die in örtlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Schulbesuch aufträten. Durch die Schulpflicht werde der noch nicht erwachsene, lebensunerfahrene Mensch in eine besondere Gefahrenlage gebracht. Das Kauen an der Kugelschreiberspitze während des Diktates sei möglicherweise auch wegen eines bei Kindern stark entwickelten Spieltriebes erfolgt. Hierdurch gehe der Unfallversicherungsschutz jedoch im allgemeinen nicht verloren, da die im jugendlichen Alter stehenden Schüler eine Möglichkeit brauchten, sich abzureagieren.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 10. Januar 1975 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an sie DM 672,30 zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die im Berufungsverfahren gem. § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und nichts vorgetragen.

Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Urteilseingang war dahin zu berichtigen, daß Beklagter das Land Hessen, vertreten durch die Hessische Ausführungsbehörde für Unfallversicherung, ist. Nach § 766 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nehmen die Aufgaben der Länder als Träger der Unfallversicherung die Ausführungsbehörden wahr, welche die Landesregierungen bestimmen. Die Ausführungsbehörde selbst ist kein Versicherungsträger und damit nicht Beteiligter (vgl. BSG, Urt. v. 30.1.1975 – 2 RU 200/72 und die dort zitierte Rechtsprechung).

Vorliegend handelt es sich um eine echte Leistungsklage eines Versicherungsträgers gegen einen anderen, da ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte, wie sich aus § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergibt (vgl. BSG 24, 156). Nach übereinstimmender Erklärung der Beteiligten ist nur ein Erstattungsbetrag von 672,30 DM streitig, so daß der Berufungsschließungsgrund des § 149 SGG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl. I S. 1625) vorliegt, da der Beschwerdewert von Eintausend Deutsche Mark nicht überstiegen wird. Dies ist vom SG offensichtlich übersehen worden.

Ungeachtet dieser Bestimmung ist die Berufung aber gem. § 150 Nr. 3 SGG zulässig, wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. HLSG, Urt. v. 14.6.1972 – L-3/U-407/70 –). Zwar steht im vorliegenden Falle lediglich der ursächliche Zusammenhang zwischen einem Unfallereignis und eher versicherten Tätigkeit zur Entscheidung, nicht jedoch – dem Wortlaut des § 150 Nr. 3 SGG entsprechend – der "ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall”. Die Frage, ob beide Fälle gleichzubehandeln sind, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung I S. 250 × mit Nachweisen; für enge Auslegung: Carstensen, Zentralblatt für Versicherung und Versorgung 55, 261 ff. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zum SGG, § 150 Anm. 4; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 27.9.1967 abgedruckt in "Rechtsprechungsdienst der Sozialgerichtsbarkeit, "9000, § 144 SGG S. 15; für weite Auslegung: Hoffmann SGb 57, 33, 34). Peters-Sautter-Wolff (Kommentar zum SGG, § 150 Anm. 4) beziehen sich zu Unrecht auf die zu § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG a.F. ergangene Entscheidung des Großen Senates des Bundessozialgerichtes (Urt. v. 21.11.1957 – BSG 6, 120), in der diese Bestimmung nicht auch auf die Frage des ursächlichen Zusammenhangs eines Unfallereignisses mit einer Tätigkeit i.S. des § 542 Abs. 1 RVO a.F. erstreckt worden ist. Das Bundessozialgericht hat nämlich ausdrücklich festgestellt (a.a.O. S. 122, 124), daß diese Entscheidung nicht die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes berühre, die eine ähnliche Fassung wie § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG a.F. hätten; diese Regelungen unterschieden sich nicht nur im Wortlaut voneinander, sondern hätten auch eine verschiedene Stellung im Verfahren. Das Bundessozialgericht stützt seine Entscheidung einmal auf den Wortlaut des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG a.F., der eine vollständige Überprüfung der mit dem Vorliegen eines Arbeitsunfalls i.S. des § 542 RVO a.F. zusammenhängenden Rechtsfragen ausschließe, vielmehr nur einen kleinen "Ausschnitt” von Fällen zulasse, soweit er ähnlich den Zusammenhang von Gesundheitsstörungen mit einem Unfallereignis betreffe. In systematischer Sicht wird die Begründung unter Berücksichtigung der übrigen Voraussetzungen der Statthaftigkeit der Revision im wesentlichen darauf gestützt, daß keine Gründe ersichtlich seien, die Revision in der gesetzlichen Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung in einem wesentlich weiteren Umfang statthaft sein zu lassen als auf anderen der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Gebieten. Ferner müsse es sich bei den die Anwendbarkeit des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG a.F. rechtfertigenden Voraussetzungen um eine Beurteilung handeln, die beiden Rechtsgebieten, sowohl der Unfallversicherung als auch der Kriegsopferversorgung, gemeinsam sei; das aber sei nur die ursächliche Verknüpfung der Gesundheitsstörung oder des Todes einerseits mit einem Arbeitsunfall oder einer Schädigung i.S. des Bundesversorgungsgesetzes andererseits. Zwar seien die Fragen hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale von Arbeitsunfall und Schädigung i.S. des Bundesversorgungsgesetzes wichtig, aber nicht wesensgleich und auch nicht wichtiger oder schwieriger als andere Anspruchsvoraussetzungen der der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Gebiete. Schließlich bleibe der Norm auch bei enger Auslegung noch eine ausreichende Bedeutung. Gegen diese Auffassung sind erhebliche Bedenken geäußert worden (vgl. z.B. Münzel in BG 57, 205 ff.), auf die hier jedoch aus Gründen der andersgearteten Funktion des § 150 Nr. 3 SGG gegenüber der Regelung des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG a.F. nicht eingegangen zu werden braucht. Jedenfalls ist § 150 Nr. 3 SGG gegen § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG a.F. erweiternd auszulegen. Gerade die Kausalitätsprobleme in der Unfallversicherung verschließen sich fast völlig einer gesetzlichen Regelung, sind aber für den Einzelnen unter Umständen von so großer Tragweite, daß allein die Möglichkeit des Eingreifens anderer Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Berufung nicht ausreicht. Deshalb ist es nach Auffassung des Senats notwendig, insoweit eine weitere Tatsacheninstanz zu eröffnen.

Die form- und fristgelegt eingelegte Berufung ist daher zulässig.

Sie ist auch begründet, da es sich um einen Schulunfall i.S. der §§ 539 Abs. 1 Nr. 14 b, 548 RVO handelt.

Im Rahmen der Familienkrankenpflege (§ 205 RVO) erbrachte die Klägerin Leistungen (Krankenhauskosten) für die bei ihrem Vater familienversicherte Beigeladene, für die sie in entsprechender Anwendung von § 1510 Abs. 2 RVO einen Ersatz gegen den allein leistungspflichtigen Unfallversicherungsträger beanspruchen kann (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, § 1510 Anm. 8 unter Berufung auf BSG, Urt. v. 18.12.1974 – 2/8 RU 34/73).

Hierzu ist festzustellen, daß die am 1. Mai 1959 geborene Beigeladene am 30. Mai 1972 während des Schulunterrichts in der Marienschule in P. beim Diktat ihren Vierfarbenstift in den Mund steckte und dabei dessen Endstück verschluckte. Sie befand sich dieserhalb in der Zeit vom 30. Mai bis 7. Juni 1972 in stationärer Behandlung im Städt. Krankenhaus in F ... Hierdurch entstanden der Klägerin Kosten im Betrage von 672,30 DM (9 Tage × 74,70 DM). Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

Die Beigeladene stand während des Schulunterrichts grundsätzlich unter Versicherungsschutz (§§ 539 Abs. 1 Nr. 14 b, 548 RVO). Zwar war sie nicht bereits durch die Gestaltung der Betriebsverhältnisse, insbesondere eine unzureichende Beaufsichtigung, in die Lage versetzt worden, sich mit ihrem Schreibgerät zu verletzen. Eine dahingehende Feststellung kann jedenfalls nicht getroffen werden, zumal sich der schädigende Vorgang sehr schnell abgespielt haben kann. Das in-den-Mund-stecken sowie das Verschlucken des Endteiles eines Vierfarbenstiftes stand hier aber in einem inneren ursächlichen Zusammenhang mit dem Schulunterricht. Wie das Bundessozialgericht (BSG 6, 164) zutreffend ausgeführt hat, ist ein Versicherter keineswegs allein gegen betriebsübliche Gefahren geschützt, da der Begriff des Arbeitsunfalls eine dem Unternehmen oder der versicherten Tätigkeit eigene Unfallgefahr nicht voraussetzt, wie das SG anscheinend annimmt. In Fällen, in denen ein Versicherter sich selbst einer erhöhten Gefahr aussetzt und dadurch zu Schaden kommt, ist entscheidend, ob der selbstgeschaffene Gefahrenbereich der versicherten Tätigkeit wesentlich zuzurechnen ist, also zu ihr in einem inneren ursächlichen Zusammenhang i.S. der Unfallversicherung steht (vgl. u.a. BSG 11, 156). Das ist hier der Fall, da die Beigeladene das Endteil des Vierfarbenstiftes während des Schulunterrichts aus Anlaß eines Diktats verschluckte. Angesichts ihres jugendlichen Alters kommen in Fällen dieser Art die sonst in der Unfallversicherung geltenden Maßstäbe, denen erwachsene Personen unterliegen, nicht in gleichem Umfange zur Anwendung (vgl. Urt. des BSG vom 30.9.1970 – 2 RU 150/68). Vielmehr ist die erhöhte Anspannung durch die Anfertigung des Diktats unter Aufsicht der Lehrkraft in ihrer Auswirkung auf die Psyche des Kindes als wesentliche Ursache neben einem in diesem Alter noch vorhandenen Spieltrieb zu berücksichtigen, da ein vernunftgemäßes Handeln in einer derartigen Situation nicht immer zu erwarten und die Unsitte, das Schreibgerät in den Mund zu stecken, gerade bei Jugendlichen weit verbreitet ist, zumal davon im allgemeinen keine Gefahr ausgeht und es sich im vorliegenden Fall um ein außergewöhnliches Hantieren mit einem offensichtlich gedankenlos umgedrehten Vierfarbenstift handelte. Da Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr gegenüber den Gefahren des Arbeitslebens – dies gilt in übertragenem Sinn auch für den Schulbesuch – nicht nur besondere Beaufsichtigung, sondern auch Schutz verdienen (vgl. Vollmar, Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten, 1972 S. 34/35), würde der Zweck der Schülerversicherung jedenfalls vereitelt, wenn hier ein versicherter Schulunfall entfiele.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Streitsache war gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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