L 18 B 1272/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 123 AS 10845/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 B 1272/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juni 2007 aufgehoben. Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird in vollem Umfang zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu erstatten.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden zu entscheiden.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist begründet.

Auch für den im Beschwerdeverfahren (nur) noch streitigen Leistungszeitraum vom 11. Mai 2007 bis 31. Dezember 2007 – hinsichtlich der im Übrigen durch das Sozialgericht (SG) verlautbarten Antragsablehnung ist der angefochtene Beschluss in Rechtskraft erwachsen – ist im Hinblick auf die begehrte Übernahme der "vollen" Unterkunftskosten ein Anordnungsgrund für die von dem Antragsteller begehrte gerichtliche Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG nicht ersichtlich (1.); soweit das SG daneben den Antragsgegner zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verpflichtet hat, war diese Entscheidung aufzuheben, weil der Antragsteller eine derartige gerichtliche Entscheidung erstinstanzlich nicht beantragt hat (2.).

(1.) Im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen für Unterkunft und Heizung liegt ein Anordnungsgrund schon deshalb nicht vor, weil eine Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit des Antragstellers derzeit nicht zu besorgen ist. Zwar sind seit März 2007 erhebliche Zahlungsrückstände des Antragstellers bei seiner Vermieterin aufgelaufen (vgl. Kontoauszug der G vom 30. Juli 2007), eine (außerordentliche) Kündigung des Mietverhältnisses ist bislang jedoch nicht erfolgt, erst recht droht derzeit keine Räumungsklage. In derartigen Fällen besteht regelmäßig kein eiliges Regelungsbedürfnis für eine den Antragsgegner verpflichtende einstweilige Anordnung auf Übernahme von Unterkunftskosten, die nur eine "Notfallhilfe" darstellen kann. Es ist derzeit nicht erkennbar, dass insoweit mit dem Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht mehr rückgängig zu machende Nachteile für den Antragsteller verbunden sind. Für den Fall einer etwaigen Räumungsklage enthält § 22 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) eine Regelung zur Sicherung der Unterkunft (vgl. hierzu: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 -). Dem Antragsteller steht es frei, in einem solchen Fall erneut um einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen. Im Übrigen erzielt der Kläger seit Juli 2007 Arbeitseinkommen, durch das er in die Lage versetzt wird, zumindest die laufenden Mietzahlungen zu leisten.

Ob die Unterkunftskosten des Antragstellers "angemessen" im Sinne von § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind und ob die Übernahme von Unterkunftskosten vorliegend einer vorherigen Zusicherung des Antragsgegners nach § 22 Abs. 2a SGB II bedurft hätte, kann somit dahinstehen. Das Gericht weist indes darauf hin, dass die Angemessenheit der tatsächlichen Wohnkosten des Antragstellers erheblichen Bedenken begegnet. Denn unabhängig davon, dass die (beheizte) Wohnungsgröße von 42,84 qm typisierend für eine Person als abstrakt angemessen angesehen werden kann, dürfte nach der erforderlichen Einzelfallprüfung (vgl. zur sog. Produkttheorie: BSG, Urteil vom 7. November 2006 – 7b AS 10/06 R – veröffentlicht in juris) die Angemessenheitsgrenze im Hinblick auf die Höhe der monatlichen Bruttowarmmiete (= 377,77 EUR) überschritten sein. Selbst wenn zu Gunsten des Antragstellers von dem gewichteten Mietspiegelwert (alle Wohnungen, nettokalt) des B Wohnungsmarktberichts 2006, der einen Betrag von 4,49 EUR pro qm festgestellt hat, der nicht nur einfache Wohnlagen betrifft, auszugehen wäre und im weiteren ebenfalls zu Gunsten des Antragstellers – abweichend vom B Mietspiegel und den Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz des Landes B, zuletzt geändert mit Verwaltungsvorschriften vom 30. Mai 2006 (ABl. 2062) – zusätzlich "warme" Betriebskosten von mittlerweile durchschnittlich 2,74 EUR pro qm (vgl. Betriebskostenspiegel 2006 des Deutschen Mieterbundes) in Ansatz zu bringen wären, würde sich – ausgehend von einer abstrakten Angemessenheit nach den landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die Förderung des sozialen Wohnungsbaus bei einer Größe bis 50 qm - eine Angemessenheitsgrenze von monatlich 361,50 EUR ergeben (4,49 EUR x 50qm = 224,50 EUR zzgl. 2,74 x 50 qm = 137,- EUR, ergibt insgesamt 361,50 EUR). Die monatliche Bruttowarmmiete des Antragstellers liegt deutlich höher. Der Antragsteller räumt dies, mit einer unterschiedlichen Berechnungsweise, auch ein (vgl. Schriftsatz vom 1. August 2007). Hinzu kommt, dass der B Mietmarkt nach einer überschlägigen Recherche des Gerichts auch für den von dem Antragsteller bewohnten Stadtteil ein hinreichendes Angebot an konkret verfügbaren Wohnungen mit einem Mietzins innerhalb der dargelegten Angemessenheitsgrenze aufweist.

(2.) Soweit das SG den Antragsgegner zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Übrigen "unter Berücksichtigung der Regelleistung" von 345,- EUR monatlich verpflichtet hat, hat es eine Entscheidung getroffen, die von dem Antragsteller gar nicht beantragt war. Das Gericht darf aber nicht mehr zusprechen, als gewollt war. Die Dispositionsmaxime gilt uneingeschränkt auch im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. § 123 SGG). In seiner Antragsschrift hat der Antragsteller ausdrücklich und auch unter Würdigung des Inhalts seiner Begründung (nur) die Berücksichtigung der "vollen" Unterkunftskosten geltend gemacht. Eine derartige Beschränkung des Begehrens ist zulässig (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 8/06 R – veröffentlicht in juris). Das SG hätte folglich nur über dieses Begehren entscheiden dürfen. Auch insoweit bedarf es daher keiner Entscheidung in der Sache, ob dem Antragsteller dem Grunde nach eine Regelleistung von 345,- EUR bzw. – ab 1. Juli 2007 – 347,- EUR (vgl. Bekanntmachung über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II für die Zeit ab 1. Juli 2007 vom 18. Juni 2007 - BGBl. I 1139) - monatlich oder nur in Höhe von 276,- EUR bzw. 277,60 EUR monatlich gemäß § 20 Abs. 2a SGB II zusteht. Im Übrigen wäre hier das von dem Kläger bezogene Arbeitslosengeld und das – erstmals im Juli 2007 zugeflossene - Arbeitsentgelt als Einkommen zu berücksichtigen. Dass der Antragsteller nunmehr mit seinem Schriftsatz vom 1. August 2007 darauf verweist, er habe bereits bei dem SG beantragt, den "vollen Regelsatz als Bedarf" zu berücksichtigen, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn aus objektiver Sicht befasste sich die Antragsschrift ausschließlich mit Rechtsausführungen zur Frage der Unterkunftskosten und insoweit insbesondere mit der Anwendbarkeit des § 22 Abs. 2a SGB II. Soweit der Antragsteller nunmehr auch die Gewährung weiterer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geltend machen sollte, handelt es sich um einen neuen Rechtsschutzantrag, der indes beim SG zu stellen wäre. Denn das Landessozialgericht entscheidet (nur) zweitinstanzlich über Entscheidungen des SG (vgl. § 29 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Über den Vollstreckungsaussetzungsantrag des Antragsgegners war nicht mehr zu befinden; dieser ist durch die Beschwerdeentscheidung gegenstandslos geworden.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved