L 1 Ar 542/76

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 5a Ar 55/75
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Ar 542/76
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Bedeutung des Pflegegeldes nach dem JWG auf die BAB.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 25. Mai 1976 wie folgt abgeändert: Unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 26. Juni 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1975 bleibt die Beklagte verurteilt, dem Kläger Berufsausbildungsbeihilfe für die Zeiträume vom 1. August 1974 bis 31. Juli 1976 und vom 1. April 1977 bis 31. Juli 1977 in gesetzlichem Umfang zu gewähren; im übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Im übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, welche Bedeutung das Pflegegeld des Klägers nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) auf die Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) hat (§§ 10, 15, 18 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit – BA – über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung – A-Ausb – vom 31. Oktober 1969 – ANBA 1970, 213 –, hier in der Fassung der 5. Änderungsanordnung – ANBA 1974, 169 –, in Kraft getreten am 31. März 1974, der 6. Änderungsanordnung vom 28. Februar 1974 – ANBA 1974, 597 –, in Kraft getreten am 1. September 1974, der 7. Änderungsanordnung vom 6. Juni 1974 – ANBA 1974, 965 –, in Kraft getreten am 1. September 1974, der 8. Änderungsanordnung vom 11. Dezember 1974 – ANBA 1975, 103 –, in Kraft getreten am 31. März 1975, der 9. Änderungsanordnung vom 30. Juli 1975 – ANBA 1975, 993 –, in Kraft getreten am 1. November 1975, der 10. Änderungsanordnung vom 23. März 1976 – ANBA 1976, 481 –, in Kraft getreten am 1. Januar 1976 und der 11. Änderungsanordnung vom 16. Dezember 1976 – ANBA 1977, 219 –, in Kraft getreten am 1. April 1977).

Der 1959 geborene Kläger begann am 1. August 1974 eine Lehre im Fleischerhandwerk bei der Metzgerei G. K., A., die er am 31. Juli 1977 abschloß. Der Kläger wohnte bereits seit mehreren Jahren bei den Eheleuten K. in G ... Er war dort von dem Bezirksamt R. von B. (Jugendamt) untergebracht. Der Vater des Klägers war verstorben. Der Mutter war das Personensorgerecht entzogen. Dieses Recht war dem Jugendamt übertragen (Beschluss des Amtsgerichts Berlin-Wedding vom 17. April 1963 – –).

Eine Waisenrente stand dem Kläger nicht zu; die Mutter des Klägers war ohne Einkommen. Das Jugendamt leistete ein monatliches Pflegegeld in Höhe von 345,– DM.

Der Lehrherr leistete dem Kläger eine Ausbildungsvergütung. Diese richtete sich nach dem Tarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer und Verkäuferinnen im Fleischerhandwerk. Sie betrug nach den Jahres-Gehaltskarten der Metzgerei G. K. (jeweils monatlich brutto) ab 1. August 1974 290,– DM, ab 1. August 1975 350,– DM und ab 1. August 1976 450,– DM. Der Abzugsbetrag für Lohnsteuer, Kirchensteuer und Arbeitnehmeranteile zu den Beiträgen zur Sozialversicherung und zur BA betrug von der Lehrlingsvergütung von (brutto) 290,– DM (in der Zeit vom 1. August 1974 bis 31. Juli 1974) 45,81 DM (= netto 244,19 DM), von (brutto) 350,– DM (in der Zeit vom 1. August 1975 bis 30. April 1976) 57,52 DM (= netto 292,48 DM) und (in der Zeit vom 1. Mai 1976 bis 31. Juli 1976) 58,40 DM (= netto 291,60 DM), von (brutto) 450,– DM (in der Zeit vom 1. August 1976 bis 31. Juli 1977) 80,39 DM (= netto 369,61 DM). Von dieser Ausbildungsvergütung wurden in den Monaten September 1974 bis Juni 1975 Beträge zwischen 33,80 DM bis 67,60 DM für Kost abgezogen (Gehaltskarten). Im Dezember 1974 und im Dezember 1975 erhielt der Kläger Weihnachtsgeld von je 50,– DM und im Dezember 1976 von 150,– DM (Bescheinigung der Ausbildungsstätte vom 8. Oktober 1974, Gehaltskarten). Die Fahrkosten des Klägers zur Ausbildungsstätte und zur Berufsschule betrugen nach den Aufzeichnungen des Arbeitsamtes in der Leistungsakte ab 1. August 1974 28,– DM und ab 1. Januar 1975 20,– DM monatlich.

Den Antrag des Klägers vom 28. August 1974 auf BAB lehnte die Beklagte ab, weil der Gesamtbedarf des Klägers von seinem Einkommen überschritten werde. Als Einkommen des Klägers rechnete die Beklagte auf den Gesamtbedarf außer der Lehrlingsvergütung auch das Pflegegeld in Höhe von 345,– DM monatlich an (Bescheid des Arbeitsamtes Gießen vom 26. Juni 1975). Demgegenüber ist der Kläger der Meinung, die Anrechnung des Pflegegeldes sei nicht möglich. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. September 1975).

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Fulda durch Urteil vom 25. Mai 1976 den Bescheid vom 26. Juni 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1975 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger BAB ab 1. August 1974 zu gewähren. In den Entscheidungsgründen des Urteils wurde ausgeführt, daß die Beklagte bei der Feststellung des Bedarfs das Pflegegeld nicht als Einkommen des Klägers anrechnen könne, weil dieses gegenüber den speziellen Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) nachrangig sei.

Gegen dieses ihr am 10. Juni 1976 zugestellte Urteil richtet sich die am 30. Juni 1976 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Sie meint, das Pflegegeld sei bei der Bedarfsberechnung zu berücksichtigen. Es werde nach § 6 Abs. 2 JWG unabhängig von dem Bestehen eines Ausbildungsverhältnisses gewährt und könne deshalb nicht als nachrangige Leistung im Sinne des § 37 AFG angesehen werden. Selbst wenn man einen Betrag von 100,– DM monatlich, der nach Auskunft des Jugendamtes des V. 8. September 1976 für die Betreuung des Klägers durch seine Pflegeeltern im Pflegegeld enthalten sei, von einer Anrechnung auf die BAB ausnehme, könne eine Bedürftigkeit nach der A-Ausb nicht festgestellt werden, da das Einkommen des Klägers den Bedarf für die Ausbildung nicht unerheblich übersteige.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 25. Mai 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Er verbleibt bei seiner Auffassung, daß das Pflegegeld nicht anrechenbar sei.

Nach einer Auskunft des Lehrherrn, G. K., an den Senat vom 10. April 1979 hat dieser die Metzgerei inzwischen aufgegeben. Er gab an, er könne sich noch daran erinnern, daß dem Kläger neben der Lehrlingsvergütung wesentliche Sachleistungen nicht erbracht worden seien.

Ergänzend wird ferner auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Leistungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; denn sie ist form- sowie fristgerecht eingelegt und statthaft. Sie ist jedoch nur zum Teil begründet.

Das SG hat im Ergebnis zum Teil zutreffend einen Anspruch auf BAB bejaht, wobei – soweit Ansprüche übergeleitet worden sind – das Jugendamt den Kläger ermächtigt hat, diese in eigenen Namen zu verfolgen (gewillkürte Prozeßstandschaft); dies ergibt sich hinreichend deutlich aus dem Schreiben des Jugendamtes vom 16. Juni 1977 und den weiteren Umständen des vorliegenden Falles.

Auszugehen ist von § 40 AFG. Nach dieser Vorschrift gewährt die Beklagte Jugendlichen und Erwachsenen Zuschüsse und Darlehen für eine geeignete berufliche Ausbildung in Betrieben oder überbetrieblichen Einrichtungen sowie für die Teilnahme an Grundausbildungs- und Förderungslehrgängen und anderen berufsvorbereitenden Maßnahmen, soweit sie die hierfür erforderlichen Mittel nicht selbst aufbringen können und ihren Unterhaltsverpflichteten die Aufbringung üblicherweise nicht zugemutet werden kann – bzw. nach der ab 1. Januar 1976 geltenden Fassung des Haushaltsstrukturgesetzes-AFG (HStruktG-AFG) vom 18. Dezember 1975 (BGBl. I, 3113), soweit ihnen die hierfür erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Die Berechnung der BAB ist in der A-Ausb geregelt. Sie bestimmt sich u.a. nach dem Bedarf für den Lebensunterhalt und nach dem Bedarf für die Ausbildung (§ 9 A-Ausb).

Die persönlichen und fachlichen Voraussetzungen für die Gewährung von BAB (§§ 2, 5, 6, 7 A-Ausb) sind beim Kläger erfüllt. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Aber auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind gegeben.

Der Bedarf des Klägers für den Lebensunterhalt ist nach § 11 A-Ausb in der jeweils hier maßgebenden Fassung mit 285,– DM monatlich, bzw. – ab 1. September 1974 – mit 305,– DM und – ab 1. April 1977 – mit 350,– DM monatlich anzusetzen. Der Bedarf des Klägers für die Ausbildung ist gemäß § 13 A-Ausb mit 10,– DM monatlich für Lernmittel und mit 15,– DM monatlich bzw. – für die Zeit von 1. August 1974 bis 31. Januar 1975 als die ersten sechs Monate einer Ausbildung – 30,– DM monatlich für Arbeitskleidung anzusetzen. Ferner sind als Bedarf für die Ausbildung nach § 13 A-Ausb Kosten der Fahrt zwischen der Unterkunft und der Ausbildungsstätte sowie der Berufsschule zu berücksichtigen, die nach den Ermittlungen des Arbeitsamtes 28,– DM bzw. ab 1. Januar 1975 20,– DM monatlich betragen haben.

Auf diesen Bedarf (§ 9 A-Ausb) ist in dem nach den §§ 15 und 16 A-Ausb bestimmten Umfang das Einkommen (§ 18 A-Ausb) des Klägers in voller Höhe (§ 15 A-Ausb) anzurechnen. Nach § 18 Abs. 1 A-Ausb gelten als Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert nach Abzug der Steuern, der Beiträge zur Sozialversicherung und zur BA oder entsprechende Aufwendungen zur sozialen Sicherung in angemessenem Umfang. Insoweit war nur die Lehrlingsvergütung des Klägers zu berücksichtigen, während das Pflegegeld auf den Bedarf keine Anrechnung findet.

Danach überschreitet aber das Einkommen des Klägers den Bedarf in dem Zeitraum von 1. August 1974 bis 31. Juli 1976 nicht, weil die Lehrlingsvergütung nach Abzug der Steuern, der Beiträge zur Sozialversicherung und zur BA in dieser Zeit jedenfalls unter dem jeweils anzusetzenden Bedarf liegt. Hierbei war allein von der tariflichen Lehrlingsvergütung auszugehen, weil darüber hinaus nennenswerte Sachbezüge von dem Ausbildenden nicht gewährt worden sind, wie sich aus den Gehaltskarten und der Auskunft des früheren Lehrherrn, Georg Koch, an den Senat vom 4. April 1979 ergibt. In der Zeit vom 1. August 1976 bis 31. März 1977 übersteigt jedoch das (Netto-)Einkommen des Klägers i.S. des § 18 Abs. 1 A-Ausb (369,61 DM) aus der Lehrlingsvergütung den in diesem Zeit anzusetzenden Bedarf von 350,– DM. Durch die Erhöhung des Bedarfssatzes gem. § 11 A-Ausb ab 1. April 1977, wodurch sich hier ein Bedarf von 395,– DM ergibt, bleibt die (Netto-)Lehrlingsvergütung des Klägers in der Zeit vom 1. April 1977 bis 31. Juli 1977 (369,61 DM) wiederum unter dem Bedarf. Damit besteht kein Anspruch des Klägers auf BAB für die Zeit ab 1. August 1976 bis 31. März 1977. Zwar kann nach § 15 Satz 2 A-Ausb von der Anrechnung des Einkommens des Auszubildenden auf den Bedarf nach § 9 A-Ausb in voller Höhe abgewichen werden, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist. Einen solchen Härtefall hat der Senat aber unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des vorliegenden Falles nicht angenommen.

Das vom SG Fulda erlassene Grundurteil, dessen Tenor dahin auszulegen ist, daß die Beklagte dem Grunde nach verurteilt wird, BAB für die gesamte Lehrzeit des Klägers (1. August 1974 bis 31. Juli 1977) zu gewähren, kann deshalb nur Bestand haben, soweit es um die BAB für die Zeiträume ab Beginn der Lehre (1. August 1974, § 8 Abs. 2 A-Ausb) bis 31. Juli 1976 und vom 1. April 1977 bis 31. Juli 1977 geht. Entgegen der Auffassung der Beklagten findet die Anrechnung des Pflegegeldes auf den Bedarf nicht statt. Hierbei handelt es sich um eine nach dem JWG gewährte Leistung von wirtschaftlicher Hilfe im Einzelfall (§ 6 Abs. 1 und 2 JWG). Nach § 6 Abs. 3 JWG gelten die Bestimmungen über die Gewährung wirtschaftlicher Hilfen im Einzelfall nicht für die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen. Die Vorschrift des § 6 Abs. 3 JWG ist 1961 mit Rücksicht auf die damals erwarteten Förderungen der Ausbildung Jugendlicher und bundeseinheitlicher Regelungen in das JWG abgenommen worden. Es sollte dadurch sichergestellt werden, daß damals bestehende Verpflichtungen zur Ausbildungsförderung (z.B. nach dem AVAVG) nicht berührt und spätere neue Regelungen zur Förderung der Ausbildung Jugendlicher durch die Bestimmungen des JWG über wirtschaftliche Hilfen nicht nachrangig würden (vgl. Jans-Happe, Komm. zum JWG, Anm. 5 zu § 6 JWG). Der Wortlaut des § 6 Abs. 3 JWG stellt somit auch unter Berücksichtigung der Gesetzesmotive klar, daß die Anwendung des § 6 Abs. 1 und 2 JWG entfällt, soweit Ausbildungsbeihilfen zu gewähren sind (Prinzip des Nachrangs sozialhilfeähnlicher Leistungen, vgl. Gutachten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 6. April 1971, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt am Main, Nr. 6, 51. Jahrgang, 1971; im Ergebnis auch BSG, Urt. vom 25. März 1976 – 12/7/RAr-75/74 –). Die Regelung des § 37 AFG, nach der Leistungen zur individuellen Förderung der beruflichen Bildung nur gewährt werden dürfen, soweit nicht andere Stellen zur Gewährung solcher Leistungen gesetzlich verpflichtet sind, führt hier zu keinem anderen Ergebnis. Denn bei den Leistungen des Jugendamtes handelt es sich nicht um solche Leistungen, weil es an der gleichen Zweckbestimmung fehlt. "Solche Leistungen” im Sinne des § 37 AFG können nur Leistungen sein, die die Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Bildung voraussetzen, die also insoweit zweckgebunden sind und andernfalls nicht beansprucht werden können (vgl. BSG, SozR 4100, § 37 AFG Nr. 2; BSG, Urt. vom 5. Dezember 1978 – 7 RAr-54/77 –). Die dem Kläger gewährten Leistungen nach dem JWG setzen die Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Bildung – hier der beruflichen Ausbildung (§ 40 AFG) – jedoch nicht voraus.

Diese Rechtslage bedeutet, daß die BA durch die Leistung der Jugendhilfe nach dem JWG auch nicht den Bedarf teilweise, hinsichtlich des Bedarfs für den Lebensunterhalt, als gedeckt ansehen darf. Soweit in ihren Durchführungsanweisungen eine andere Auffassung vertreten wird, kann dem nicht gefolgt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision hat der Senat zugelassen, da er der Rechtssache im Hinblick auf die Frage der Anrechnung des Pflegegeldes nach dem JWG auf die BAB grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat.
Rechtskraft
Aus
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