Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Kg 731/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§§ 2 Abs. 3 BKGG, 11 BGB, Artikel 3 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit vom 22. Dezember 1966, Artikel 3 des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluß der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11. Dezember 1953.
Ein türkischer Bastarbeitnehmer hat für seine Kinder, die sich in der Republik Österreich in Pflege befinden, regelmäßig keinen Anspruch auf Kindergeld.
Der Geltungsbereich des Deutsch-Österreichischen Abkommens über Soziale Sicherheit wird durch das Vorläufige Europäische Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluß der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen nicht erweitert.
Minderjährige Kinder können einen von ihren Eltern verschiedenen Wohnsitz im Sinne des Kindergeldrechts haben.
Ein türkischer Bastarbeitnehmer hat für seine Kinder, die sich in der Republik Österreich in Pflege befinden, regelmäßig keinen Anspruch auf Kindergeld.
Der Geltungsbereich des Deutsch-Österreichischen Abkommens über Soziale Sicherheit wird durch das Vorläufige Europäische Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluß der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen nicht erweitert.
Minderjährige Kinder können einen von ihren Eltern verschiedenen Wohnsitz im Sinne des Kindergeldrechts haben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Giessen vom 27. Mai 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der in Deutschland lebenden türkischen Klägerin, dessen Kinder in Österreich leben, Anspruch auf Gewährung von Kindergeld gegenüber der Beklagten zusteht.
Die Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige und leben seit Februar 1969 in der Bundesrepublik Deutschland, nachdem sie zuvor in Österreich einige Jahre gewohnt hatten. Aus ihrer Ehe stammen die Kinder U. (geb. 1961), Ö. (geb. 1964) und S. B. (geb. 1969). Die Kinder U. und Ö. befinden sich seit Oktober 1964, das Kind S. B. seit seiner Geburt in dem Haushalt der Eheleute A. J. in M. (Bezirk F.; Republik Österreich) in Pflege. Für den Unterhalt der Kinder wenden die Klägerin und ihr Ehemann monatlich 200,– DM auf. Nach einer Auskunft des Finanzamtes F. (Österreich) erhalten weder die Klägerin noch die Eheleute J. für die Kinder Familienbeihilfe nach österreichischem Recht.
Durch Bescheid vom 21. April 1970 lehnte die Beklagte den am 7. April 1970 gestellten Antrag auf Gewährung von Kindergeld ab, weil nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei über Soziale Sicherheit ein türkischer Arbeitnehmer nur dann Anspruch auf Kindergeld habe, wenn er in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sei und sich die zu berücksichtigenden Kinder gewöhnlich im Gebiet der Republik Türkei aufhielten. Die Kinder der Klägerin befänden sich jedoch in Österreich in Pflege.
Den von der Klägerin eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 6. April 1970 als unbegründet zurück.
Zur Begründung der Klage hat die Klägerin vorgetragen, der Aufenthalt ihrer Kinder in Österreich sei nur eine vorübergehende Lösung. Die familiären Bande zu den Kindern seien weder gelockert noch aufgelöst; denn sie und ihr Ehemann sorgten für den Unterhalt der Kinder, die Familienmitglieder besuchten sich regelmäßig, und in der Hauptferienzeit hielten sich die Kinder im elterlichen Haushalt auf.
Durch Urteil vom 27. Mai 1971 hat das Sozialgericht Giessen die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen führte es aus, ein Anspruch nach dem Bundeskindergeldgesetz bestehe deshalb nicht, weil die Kinder weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 hätten. Auch aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei über Soziale Sicherheit lasse sich ein Anspruch auf Kindergeld nicht herleiten, weil seine Anwendung voraussetze, daß sich die Kinder gewöhnlich im Gebiet der Republik Türkei aufhielten. Das Deutsch-Österreichische Abkommen über Soziale Sicherheit sei auf die Klägerin nicht anwendbar, da diese nicht Staatsangehörige eines Vertragsstaates sei und auch nicht ihren Anspruch auf Kindergeld von dem Staatsangehörigen eines Vertragsstaates ableite.
Gegen das am 18. Juni 1971 zur Post gegebene Urteil hat die Klägerin am 20. Juni 1971 schriftlich beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Zur Begründung trägt sie vor, ihr ständiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland stelle sie im Sinne des Deutsch-Österreichischen Abkommens über Soziale Sicherheit einem deutschen Staatsangehörigen gleich.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. Mai 1971 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. April 1970 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Oktober 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab Oktober 1969 Kindergeld unter Berücksichtigung von drei Kindern zu gewähren. hilfsweise, die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich sowie die Botschaft der Republik Türkei in Bonn gutachtlich zu hören sowie gegebenenfalls die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich zu dem Rechtsstreit beizuladen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, die sie für zutreffend hält und trägt ergänzend vor, daß die Republik Österreich nicht Vertragsschließender des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit und der Geltungsbereich des Deutsch-Österreichischen Abkommens über Soziale Sicherheit auf den in Art. 3 des Abkommens festgelegten Personenkreis begrenzt sei.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Kindergeldakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten damit einverstanden waren.
Die an sich statthafte und in rechter Form und Frist eingelegte Berufung ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
In dem angefochtenen Urteil wird mit zutreffender Begründung ausgeführt, daß der Klägerin gegenüber der Beklagten ein Kindergeldanspruch nicht zusteht.
Zwar erfüllt die türkische Klägerin die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG); denn sie hat ihren Wohnsitz seit der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich dieses Gesetzes. Ihre in Österreich lebenden Kinder können jedoch nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 BKGG nicht berücksichtigt werden, da sie weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 haben (§ 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG).
Die Begriffe "Wohnsitz” und "gewöhnlicher Aufenthalt” sind, wie sich aus der Verweisung auf die §§ 13 und 14 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) in § 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG ergibt, nach steuerrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen. Gemäß § 13 StAnpG hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung innehat unter Umständen, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Sinne hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesen Ort oder in diesem Land nicht nur vorübergehend verweilt (§ 14. Abs. 1 Satz 1 StAnpG). Für die Beurteilung ist dabei ausschließlich der äußere Tatbestand maßgebend, und es kommt nicht auf die Absicht und die Willensfähigkeit des Betreffenden an, so auch Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Finanzgerichtsordnung und den Nebengesetzen Bd. IV § 13 StAnpG Anm. 4). Der Wohnsitzbegriff des bürgerlichen Rechts (§§ 7 ff. BGB) kann zur Auslegung nicht herangezogen werden (Hübschmann-Hepp-Spitaler a.a.O. Anm. 4; Urteil des BSG vom 21.9.1967 – 7 RKg 2/65 – zu § 34 Abs. 1 KGG). Insbesondere kann die Vorschrift des § 11 Abs. 1 BGB über den Wohnsitz minderjähriger Kinder nicht angewendet werden, vielmehr können auch minderjährige Kinder einen von ihrem gesetzlichen Vertreter abweichenden eigenen Wohnsitz im Sinne des o.a. Steuerrechtes haben (so auch (Hübschmann-Hepp-Spitaler a.a.O. § 13 StAnpG Anm. 6 b; Entscheidung des Reichsfinanzhofes III/252/39 vom 16. November 1939 – RSt-Bl. 1939, 1209; Urteil des BSG vom 21.9.1967 – 7 RKg 2/65). Sowohl der Wohnsitz als auch der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder der Klägerin liegen außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches; denn die Kinder U., Ö. und S. befinden sich seit 1964 beziehungsweise seit Januar 1969 im Hause des A. J. in Österreich in Pflege. Gelegentliche Besuche bei ihren Eltern in der Bundesrepublik, insbesondere während der Hauptferienzeit, ändern nichts an der Tatsache, daß sie einen von ihren Eltern verschiedenen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthaltsort haben.
Eine die Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG abändernde Rechtsverordnung der Bundesregierung nach § 2 Abs. 3 Satz 2 BKGG, die die Berücksichtigung der Kinder von Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland erwerbstätig sind, auch dann zuließe, wenn diese Kinder sich außerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches nach dem Stand von 31. Dezember 1937 aufhielten, ist bisher nicht ergangen. Die Klägerin hat auch nicht insgesamt mindestens fünfzehn Jahre lang ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Deutschen Reiches gehabt, so daß die Sonderregelung nach § 3 Abs. 3 Satz 5 BKGG auf sie nicht anwendbar ist.
Aus zwischenstaatlichen und überstaatlichen Rechtsvorschriften läßt sich ein Kindergeldanspruch der Klägerin gleichfalls nicht herleiten.
Artikel 33 Abs. 1 des "Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit” vom 30. April 1964 (Bundesgesetzblatt Teil II 1963 S. 1169) mit den Änderungen durch das Abkommen vom 28. Mai 1969 (Bundesgesetzblatt Teil II 1972 S. 1) setzt für die Gewährung von Kindergeld an die Klägerin nach dem Bundeskindergeldgesetz voraus, daß sich die Kinder im Gebiet der Republik Türkei gewöhnlich aufhalten. Das ist jedoch nicht der Fall; denn die Kinder haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Republik Österreich, wie bereits ausgeführt.
Die Klägerin fällt auch nicht unter den Geltungsbereich des "Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit” vom 22. Dezember 1966 (Bundesgesetzblatt Teil II 1969 S. 1233). Zwar bestimmt Artikel 32 Abs. 1 des Abkommens, daß dann, wenn nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates der Anspruch auf Familienbeihilfen davon abhängt, daß die Kinder im Gebiet dieses Vertragsstaates ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, Kinder, die sich im Gebiet des anderen Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten, so berücksichtigt werden, als hielten sie sich im Gebiet des ersten Vertragsstaates auf. Diese Gleichstellung bei der Kindergeldgewährung bezieht sich nach Artikel 3 des Abkommens jedoch nur auf a) die Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaates, b) Flüchtlinge im Sinne des Artikels 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 20. März 1951, die sich im Gebiet eines Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten, sowie c) auf Personen, die sich im Gebiet eines Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten und nicht Staatsangehörige eines Vertragsstaates sind, in Bezug auf ihre Rechte, die sie von einem Staatsangehörigen eines Vertragsstaates ableiten.
Die Klägerin besitzt weder die deutsche noch die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie wird auch nicht auf Grund ihres ständigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland einem deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt. Das zwischen der Bundesrepublik und der Republik Österreich bestehende Abkommen über Soziale Sicherheit stellt es für die Anwendung seiner Rechtsvorschriften in Artikel 3 Buchst. a nicht darauf ab, daß sich jemand im Gebiet des anderen Vertragsstaates gewöhnlich aufhält, sondern daß er Staatsangehöriger des anderen Vertragsstaates ist. Die Frage, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, bestimmt sich nach dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland. Danach sind türkische Staatsangehörige, die als Gastarbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland tätig sind, nicht als Deutsche im Sinne von Artikel 116 des Grundgesetzes anzusehen. Auch die Voraussetzungen des Artikels 3 c sind nicht gegeben; denn die Klägerin leitet den von ihr geltend gemachten Kindergeldanspruch, der originärer Natur ist, nicht von einem deutschen oder österreichischen Staatsangehörigen ab.
Der Geltungsbereich des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich bestehenden Abkommens über Soziale Sicherheit kann auch nicht nach Artikel 3 des "Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluß der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen” vom 11. Dezember 1953 (Bundesgesetzblatt Teil II 1956 S. 507) auf die Klägerin ausgedehnt werden. Zwar haben sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Türkei dieses Abkommen ratifiziert. Zu den Vertragsschließenden dieser internationalen Übereinkunft gehört jedoch nicht die Republik Österreich. Da somit nicht beide Parteien des Deutsch-Österreichischen Abkommens an das Vorläufige Europäische Abkommen gebunden sind, ist der Anwendungsbereich dieses bilateralen Vertrages durch das Vorläufige Europäische Abkommen nicht erweitert worden.
Dem Antrag der Klägerin, die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Österreich sowie die Botschaft der Republik Türkei in Bonn gutachtlich zu hören, konnte nicht stattgegeben werden. Der Senat war nicht verpflichtet, vor der Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften eine gutachtliche Äußerung dieser amtlichen Stellen einzuholen. Die Voraussetzungen einer Beiladung der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich nach § 75 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind nicht gegeben. Nach § 75 Abs. 1 Satz 2 SGG ist lediglich in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung die Bundesrepublik Deutschland auf Antrag beizuladen. Eine notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG würde voraussetzen, daß die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich an dem zwischen der Klägerin und der Beklagten streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Das ist jedoch nicht der Fall, da in diesem Rechtsstreit weder Rechte der Bundesrepublik Deutschland noch der Republik Österreich streitbefangen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Frage, ob minderjährige eheliche Kinder einen von ihren Eltern abweichenden Wohnsitz im Sinne des Kindergeldrechtes haben können, von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der in Deutschland lebenden türkischen Klägerin, dessen Kinder in Österreich leben, Anspruch auf Gewährung von Kindergeld gegenüber der Beklagten zusteht.
Die Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige und leben seit Februar 1969 in der Bundesrepublik Deutschland, nachdem sie zuvor in Österreich einige Jahre gewohnt hatten. Aus ihrer Ehe stammen die Kinder U. (geb. 1961), Ö. (geb. 1964) und S. B. (geb. 1969). Die Kinder U. und Ö. befinden sich seit Oktober 1964, das Kind S. B. seit seiner Geburt in dem Haushalt der Eheleute A. J. in M. (Bezirk F.; Republik Österreich) in Pflege. Für den Unterhalt der Kinder wenden die Klägerin und ihr Ehemann monatlich 200,– DM auf. Nach einer Auskunft des Finanzamtes F. (Österreich) erhalten weder die Klägerin noch die Eheleute J. für die Kinder Familienbeihilfe nach österreichischem Recht.
Durch Bescheid vom 21. April 1970 lehnte die Beklagte den am 7. April 1970 gestellten Antrag auf Gewährung von Kindergeld ab, weil nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei über Soziale Sicherheit ein türkischer Arbeitnehmer nur dann Anspruch auf Kindergeld habe, wenn er in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sei und sich die zu berücksichtigenden Kinder gewöhnlich im Gebiet der Republik Türkei aufhielten. Die Kinder der Klägerin befänden sich jedoch in Österreich in Pflege.
Den von der Klägerin eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 6. April 1970 als unbegründet zurück.
Zur Begründung der Klage hat die Klägerin vorgetragen, der Aufenthalt ihrer Kinder in Österreich sei nur eine vorübergehende Lösung. Die familiären Bande zu den Kindern seien weder gelockert noch aufgelöst; denn sie und ihr Ehemann sorgten für den Unterhalt der Kinder, die Familienmitglieder besuchten sich regelmäßig, und in der Hauptferienzeit hielten sich die Kinder im elterlichen Haushalt auf.
Durch Urteil vom 27. Mai 1971 hat das Sozialgericht Giessen die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen führte es aus, ein Anspruch nach dem Bundeskindergeldgesetz bestehe deshalb nicht, weil die Kinder weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 hätten. Auch aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei über Soziale Sicherheit lasse sich ein Anspruch auf Kindergeld nicht herleiten, weil seine Anwendung voraussetze, daß sich die Kinder gewöhnlich im Gebiet der Republik Türkei aufhielten. Das Deutsch-Österreichische Abkommen über Soziale Sicherheit sei auf die Klägerin nicht anwendbar, da diese nicht Staatsangehörige eines Vertragsstaates sei und auch nicht ihren Anspruch auf Kindergeld von dem Staatsangehörigen eines Vertragsstaates ableite.
Gegen das am 18. Juni 1971 zur Post gegebene Urteil hat die Klägerin am 20. Juni 1971 schriftlich beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Zur Begründung trägt sie vor, ihr ständiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland stelle sie im Sinne des Deutsch-Österreichischen Abkommens über Soziale Sicherheit einem deutschen Staatsangehörigen gleich.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. Mai 1971 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. April 1970 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Oktober 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab Oktober 1969 Kindergeld unter Berücksichtigung von drei Kindern zu gewähren. hilfsweise, die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich sowie die Botschaft der Republik Türkei in Bonn gutachtlich zu hören sowie gegebenenfalls die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich zu dem Rechtsstreit beizuladen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, die sie für zutreffend hält und trägt ergänzend vor, daß die Republik Österreich nicht Vertragsschließender des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit und der Geltungsbereich des Deutsch-Österreichischen Abkommens über Soziale Sicherheit auf den in Art. 3 des Abkommens festgelegten Personenkreis begrenzt sei.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Kindergeldakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten damit einverstanden waren.
Die an sich statthafte und in rechter Form und Frist eingelegte Berufung ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
In dem angefochtenen Urteil wird mit zutreffender Begründung ausgeführt, daß der Klägerin gegenüber der Beklagten ein Kindergeldanspruch nicht zusteht.
Zwar erfüllt die türkische Klägerin die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG); denn sie hat ihren Wohnsitz seit der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich dieses Gesetzes. Ihre in Österreich lebenden Kinder können jedoch nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 BKGG nicht berücksichtigt werden, da sie weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 haben (§ 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG).
Die Begriffe "Wohnsitz” und "gewöhnlicher Aufenthalt” sind, wie sich aus der Verweisung auf die §§ 13 und 14 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) in § 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG ergibt, nach steuerrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen. Gemäß § 13 StAnpG hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung innehat unter Umständen, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Sinne hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesen Ort oder in diesem Land nicht nur vorübergehend verweilt (§ 14. Abs. 1 Satz 1 StAnpG). Für die Beurteilung ist dabei ausschließlich der äußere Tatbestand maßgebend, und es kommt nicht auf die Absicht und die Willensfähigkeit des Betreffenden an, so auch Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Finanzgerichtsordnung und den Nebengesetzen Bd. IV § 13 StAnpG Anm. 4). Der Wohnsitzbegriff des bürgerlichen Rechts (§§ 7 ff. BGB) kann zur Auslegung nicht herangezogen werden (Hübschmann-Hepp-Spitaler a.a.O. Anm. 4; Urteil des BSG vom 21.9.1967 – 7 RKg 2/65 – zu § 34 Abs. 1 KGG). Insbesondere kann die Vorschrift des § 11 Abs. 1 BGB über den Wohnsitz minderjähriger Kinder nicht angewendet werden, vielmehr können auch minderjährige Kinder einen von ihrem gesetzlichen Vertreter abweichenden eigenen Wohnsitz im Sinne des o.a. Steuerrechtes haben (so auch (Hübschmann-Hepp-Spitaler a.a.O. § 13 StAnpG Anm. 6 b; Entscheidung des Reichsfinanzhofes III/252/39 vom 16. November 1939 – RSt-Bl. 1939, 1209; Urteil des BSG vom 21.9.1967 – 7 RKg 2/65). Sowohl der Wohnsitz als auch der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder der Klägerin liegen außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches; denn die Kinder U., Ö. und S. befinden sich seit 1964 beziehungsweise seit Januar 1969 im Hause des A. J. in Österreich in Pflege. Gelegentliche Besuche bei ihren Eltern in der Bundesrepublik, insbesondere während der Hauptferienzeit, ändern nichts an der Tatsache, daß sie einen von ihren Eltern verschiedenen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthaltsort haben.
Eine die Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG abändernde Rechtsverordnung der Bundesregierung nach § 2 Abs. 3 Satz 2 BKGG, die die Berücksichtigung der Kinder von Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland erwerbstätig sind, auch dann zuließe, wenn diese Kinder sich außerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches nach dem Stand von 31. Dezember 1937 aufhielten, ist bisher nicht ergangen. Die Klägerin hat auch nicht insgesamt mindestens fünfzehn Jahre lang ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Deutschen Reiches gehabt, so daß die Sonderregelung nach § 3 Abs. 3 Satz 5 BKGG auf sie nicht anwendbar ist.
Aus zwischenstaatlichen und überstaatlichen Rechtsvorschriften läßt sich ein Kindergeldanspruch der Klägerin gleichfalls nicht herleiten.
Artikel 33 Abs. 1 des "Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit” vom 30. April 1964 (Bundesgesetzblatt Teil II 1963 S. 1169) mit den Änderungen durch das Abkommen vom 28. Mai 1969 (Bundesgesetzblatt Teil II 1972 S. 1) setzt für die Gewährung von Kindergeld an die Klägerin nach dem Bundeskindergeldgesetz voraus, daß sich die Kinder im Gebiet der Republik Türkei gewöhnlich aufhalten. Das ist jedoch nicht der Fall; denn die Kinder haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Republik Österreich, wie bereits ausgeführt.
Die Klägerin fällt auch nicht unter den Geltungsbereich des "Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit” vom 22. Dezember 1966 (Bundesgesetzblatt Teil II 1969 S. 1233). Zwar bestimmt Artikel 32 Abs. 1 des Abkommens, daß dann, wenn nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates der Anspruch auf Familienbeihilfen davon abhängt, daß die Kinder im Gebiet dieses Vertragsstaates ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, Kinder, die sich im Gebiet des anderen Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten, so berücksichtigt werden, als hielten sie sich im Gebiet des ersten Vertragsstaates auf. Diese Gleichstellung bei der Kindergeldgewährung bezieht sich nach Artikel 3 des Abkommens jedoch nur auf a) die Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaates, b) Flüchtlinge im Sinne des Artikels 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 20. März 1951, die sich im Gebiet eines Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten, sowie c) auf Personen, die sich im Gebiet eines Vertragsstaates gewöhnlich aufhalten und nicht Staatsangehörige eines Vertragsstaates sind, in Bezug auf ihre Rechte, die sie von einem Staatsangehörigen eines Vertragsstaates ableiten.
Die Klägerin besitzt weder die deutsche noch die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie wird auch nicht auf Grund ihres ständigen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland einem deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt. Das zwischen der Bundesrepublik und der Republik Österreich bestehende Abkommen über Soziale Sicherheit stellt es für die Anwendung seiner Rechtsvorschriften in Artikel 3 Buchst. a nicht darauf ab, daß sich jemand im Gebiet des anderen Vertragsstaates gewöhnlich aufhält, sondern daß er Staatsangehöriger des anderen Vertragsstaates ist. Die Frage, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, bestimmt sich nach dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland. Danach sind türkische Staatsangehörige, die als Gastarbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland tätig sind, nicht als Deutsche im Sinne von Artikel 116 des Grundgesetzes anzusehen. Auch die Voraussetzungen des Artikels 3 c sind nicht gegeben; denn die Klägerin leitet den von ihr geltend gemachten Kindergeldanspruch, der originärer Natur ist, nicht von einem deutschen oder österreichischen Staatsangehörigen ab.
Der Geltungsbereich des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich bestehenden Abkommens über Soziale Sicherheit kann auch nicht nach Artikel 3 des "Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluß der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen” vom 11. Dezember 1953 (Bundesgesetzblatt Teil II 1956 S. 507) auf die Klägerin ausgedehnt werden. Zwar haben sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Türkei dieses Abkommen ratifiziert. Zu den Vertragsschließenden dieser internationalen Übereinkunft gehört jedoch nicht die Republik Österreich. Da somit nicht beide Parteien des Deutsch-Österreichischen Abkommens an das Vorläufige Europäische Abkommen gebunden sind, ist der Anwendungsbereich dieses bilateralen Vertrages durch das Vorläufige Europäische Abkommen nicht erweitert worden.
Dem Antrag der Klägerin, die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Österreich sowie die Botschaft der Republik Türkei in Bonn gutachtlich zu hören, konnte nicht stattgegeben werden. Der Senat war nicht verpflichtet, vor der Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften eine gutachtliche Äußerung dieser amtlichen Stellen einzuholen. Die Voraussetzungen einer Beiladung der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich nach § 75 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind nicht gegeben. Nach § 75 Abs. 1 Satz 2 SGG ist lediglich in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung die Bundesrepublik Deutschland auf Antrag beizuladen. Eine notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG würde voraussetzen, daß die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich an dem zwischen der Klägerin und der Beklagten streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Das ist jedoch nicht der Fall, da in diesem Rechtsstreit weder Rechte der Bundesrepublik Deutschland noch der Republik Österreich streitbefangen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Frage, ob minderjährige eheliche Kinder einen von ihren Eltern abweichenden Wohnsitz im Sinne des Kindergeldrechtes haben können, von grundsätzlicher Bedeutung ist.
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