L 1 Ar 830/78

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 5 Ar 21/78
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Ar 830/78
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Leistungsgruppeneinstufung nach § 111 Abs. 2 Nr. 1 AFG ist nicht verfassungswidrig; sie verstößt weder gegen den Gleichheitssatz noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz. Dies gilt auch für den Fall, daß ein Arbeitsloser Unterhaltsverpflichtungen zu erfüllen hat.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 22. Juni 1978 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Arbeitslosengeldes – Alg –.

Der im Jahre 1925 geborene Kläger meldete sich am 29. November 1977 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Die dem Arbeitsamt vorgelegte Lohnsteuerkarte für das Jahr 1977 enthielt die Eintragung Steuerklasse III – keine Kinder – verheiratet. Die Lohnsteuerkarte für das Jahr 1978 enthielt die Eintragung Steuerklasse II – keine Kinder – geschieden. Die Ehe des Klägers war im Februar 1977 – rechtskräftig mit Wirkung vom März 1977 – geschieden worden; aus dieser Ehe sind drei Kinder hervorgegangen.

Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 6. Dezember 1977 Alg ab 1. Dezember 1977 nach der Leistungsgruppe A. Den Widerspruch des Klägers, in dem dieser auf seine erheblichen Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau und den Kindern verwies, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 1978 zurück.

Gegen diesen ihm am 20. Januar 1978 zugestellten Widerspruchsbescheid erhob der Kläger am 25. Januar 1978 Klage. Er trug vor, er sei im Hinblick auf seine Unterhaltsverpflichtung gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau in Höhe von 650,– DM monatlich einem verheirateten gleichzustellen; deshalb sei ihm Alg nach der Leistungsgruppe C zu gewähren. Seine Kinder seien nach der Ehescheidung nicht in seinem Haushalt untergebracht gewesen, vielmehr hätten sie sich von Anfang an bei seiner geschiedenen Ehefrau aufgehalten.

Das Sozialgericht Gießen wies die Klage mit Urteil vom 22. Juni 1978 ab; es ließ die Berufung zu. Zur Begründung führte es an, Alg sei zu Recht nach der Leistungsgruppe A bewilligt worden. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Alg nach der Leistungsgruppe C habe der Kläger nicht erfüllt; zur Zeit der Antragstellung sei er nicht mehr verheiratet gewesen, was unabhängig von der noch bestehenden Eintragung in der Lohnsteuerkarte 1977 zu berücksichtigen gewesen sei. Gleichfalls hätten die Kinder des Klägers nicht berücksichtigt werden können, da sie sich von Anfang an bei seiner geschiedenen Ehefrau aufgehalten hätten.

Gegen dieses, an den Kläger am 4. Juli 1978 zur Post aufgelieferte Urteil richtet sich seine zur Niederschrift des Urkundsbeamten beim Sozialgericht Gießen am 14. Juli 1978 eingelegte Berufung.

Mit dieser verfolgt er seinen Anspruch, Alg in Höhe der Leistungsgruppe C ab 1. Dezember 1977 zu erhalten, weiter. Er ist der Auffassung, die Regelung des § 111 Abs. 2 S. 2 Arbeitsförderungsgesetz – AFG – sei, wie er vorliegend angewandt worden sei, verfassungswidrig, als er gegen den Sozialstaatsgrundsatz wie den Gleichheitssatz verstoße. Der Sozialstaatsgrundsatz gebiete die wirtschaftliche Absicherung von geschiedenen Arbeitnehmern, die gleichfalls eine Familie zu unterhalten hätten, jedoch nicht mehr das formale Kriterium einer bestehenden Ehe vorweisen könnten. Die Lasten geschiedener, unterhaltspflichtiger arbeitsloser Arbeitnehmer seien im wesentlichen die gleichen, wie die verheirateter arbeitsloser Arbeitnehmer. Eine unterschiedliche Behandlung dieser beiden Gruppen hinsichtlich der Leistungshöhe verstoße gegen den Gleichheitssatz, der gebiete, wesentlich gleiches gleich zu behandeln. Wer geschieden sei und Unterhaltsleistungen zu erbringen habe, könne nicht mit demjenigen auf eine Stufe gestellt werden, der nicht verheiratet sei und keinerlei Zahlungen für eine nicht mehr bestehende Familie zu erbringen habe.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 22. Juni 1978 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Dezember 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1978 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld ab 1. Dezember 1977 nach der Leistungsgruppe C zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Unterhaltszahlung eines Geschiedenen könne nicht dazu führen, ihn wie einen Verheirateten einzustufen. § 111 Abs. 2 S. 2 AFG sei auch nicht verfassungswidrig; dies werde auch darin deutlich, daß der Umfang der Unterhaltszahlungen den wirtschaftlichen Verhältnissen des Unterhaltspflichtigen angepaßt werden könnten und der Arbeitslose damit eine Herabsetzung der Unterhaltsverpflichtungen herbeiführen könne.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere auf den der beigezogenen Leistungsakte der Beklagten Stamm-Nr. XXXXX, Arbeitsamt G., der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie durch Zulassung statthaft (§§ 150 Nr. 1, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts, wie auch die Bescheide der Beklagten sind rechtlich nicht zu beanstanden. Das Alg ist gemäß § 111 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 a in Verb. mit § 113 Abs. 1 AFG zu Recht nach der Leistungsgruppe A bewilligt worden. Soweit die Höhe des Alg von der auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen eingetragenen Lohnsteuerklasse abhängt, ist die Lohnsteuerklasse maßgebend, die zu Beginn des Kalenderjahres eingetragen war, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 AFG). Spätere Änderungen der eingetragenen Lohnsteuerklassen werden mit Wirkung des Tages berücksichtigt, an dem erstmals die Voraussetzungen für die Änderung vorlagen (§ 113 Abs. 1 S. 2 AFG). Da die Ehe des Klägers bereits im März 1977 rechtskräftig geschieden war, lagen zum Zeitpunkt des Beginns der Bewilligung von Alg die Voraussetzungen für die Lohnsteuerklasse III nicht mehr vor. Der Kläger war bereits der Lohnsteuerklasse II zuzuordnen, wie aus § 38 b Nr. 2 a Einkommenssteuergesetz 1977 folgt, da er bereits vor Beginn des Kalenderjahres das 49. Lebensjahr vollendet hatte. Zu Recht hatte die Beklagte auch nicht die Einstufung des Klägers nach der Leistungsgruppe B vorgenommen, durch die der Kläger günstiger als in der Leistungsgruppe A eingestuft wäre. Denn bei ihn wurde nicht mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 4, 6 und 7 Einkommenssteuergesetzes 1977 berücksichtigt.

§ 111 Abs. 2 Nr. 1 a AFG konnte vorliegend auch angewandt werden, da weder die Bestimmung als solche noch deren Anwendung im konkreten Fall als verfassungswidrig anzusehen ist. Zu Unrecht rügt der Kläger einen Verstoß gegen den Sozialstaatsgrundsatz und den Gleichheitssatz (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1, S. 3 Grundgesetz – zu den Zusammenhängen von Sozialstaatsgrundsatz und Gleichheitssatz, vgl. Scholz/Pitschas in Sozialrechtsprechung – Festschrift zum 25-jährigen Bestehen das BSG S. 627 ff.). An der in § 111 Abs. 2 Nr. 1 vorgenommenen Differenzierung der Höhe des Alg nach dem familienrechtlichen Status "verheiratet” oder "nicht verheiratet” und der weiteren Aufteilung nach der jeweils zuzuordnenden Lohnsteuerklasse war der Gesetzgeber durch verfassungsrechtliche Grundsätze nicht gehindert. Die Differenzierung verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, an denen die Verfassungsmäßigkeit in erster Linie zu messen ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 22. Juni 1977, Az.: 1 BvR 2/74). Gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 1, 14, 52) dem Gesetzgeber verbietet, wesentlich gleiches ungleich zu behandeln, wird verstoßen, wenn ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung nicht vorhanden ist. Das dem Gesetzgeber erlaubte Ausmaß der Differenzierung richtet sich nach der Natur des in Frage stehenden Lebens- und Sachbereiches (vgl. BVerfGE 42, 176, 186, 188 m.w.Nachw.) unter Beachtung des aus Art. 20 Abs. 1 GG folgenden Sozialstaatsgebots.

Bei der Einstufung in Leistungsgruppen hat sich der Gesetzgeber ersichtlich davon leiten lassen, daß Alg einen Ersatz für ausgefallenen Lohn darstellt. Deshalb wird bei der einzelnen Leistungsgruppe berücksichtigt, inwieweit auch beim Bezug von Arbeitseinkommen eine entsprechende Belastung durch Steuern und Abgaben eingetreten wäre. Hinsichtlich der Lohnsteuerklasse werden bestehende Unterhaltsverpflichtungen jedoch auch bei der Versteuerung von Arbeitseinkommen nicht berücksichtigt, vielmehr handelt es sich hierbei um Aufwendungen, die begrenzt, allerdings in letzter Zeit verstärkt, vom steuerpflichtigen Arbeitseinkommen absetzbar sind. Solange sich der Gesetzgeber jedoch nicht veranlaßt sieht, einkommenssteuerrechtlich der Unterhaltsverpflichtung gegenüber den nahen Angehörigen, auch geschiedenen Ehegatten, eine eigene Steuerklasse zuzuordnen, besteht vorerst keine Veranlassung, dem durch eine eigene Leistungsgruppe nach § 111 Abs. 2 Nr. 1 AFG Rechnung zu tragen. Auch die Anwendung dieser Bestimmung im konkreten Falle kann nicht als verfassungswidrig abgesehen werden. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß der Kläger, entsprechend der von ihm aufgestellten Übersicht, durch die Unterhaltsverpflichtung in erheblicher Weise hinsichtlich seiner Lebensführung eingeschränkt wird. Insoweit weist die Beklagte jedoch zu Recht darauf hin, daß die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die mit der Arbeitslosigkeit des Klägers eingetreten sind, hinsichtlich der Höhe der Unterhaltszahlungen zumindest grundsätzlich berücksichtigt werden können. Soweit die Unterhaltsverpflichtung tituliert sein sollte, verbliebe dem Kläger nur die Möglichkeit, die Leistung abändern zu lassen (vgl. § 323 Zivilprozeßordnung); daß eine Abänderung für die Vergangenheit weitgehend ausgeschlossen ist, kann hier allerdings nicht berücksichtigt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Höchstrichterlich ist, zumindest ausdrücklich, bisher nicht entschieden, inwieweit die Aufteilung nach Leistungsgruppen gemäß § 111 Abs. 2 Nr. 1 AFG den Fallgestaltungen ausreichend Rechnung trägt, in denen der Leistungsempfänger Unterhaltsverpflichtungen zu erfüllen hat.
Rechtskraft
Aus
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