L 5 V 767/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 767/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Eine nachteilige Auswirkung von Schädigungsfolgen im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 2 BVG ist von der durch den Tod selbst verursachten Einkommens- und Vermögensbeeinträchtigung der Witwe zu trennen.
2) Ob Schädigungsfolgen am wirtschaftlichen Betroffensein der Witwe wesentlich mitgewirkt haben, beantwortet sich wegen der Verknüpfung mit wirtschaftlichen Einbußen des Verstorbenen durch diese Schädigungsfolgen in erster Linie danach, ob er zu Lebzeiten mit Erfolg Ansprüche aus § 30 Abs. 2 sowie § 30 Abs. 3 und 4 BVG geltend gemacht hatte.
3) Auch im Rahmen des § 48 Abs. 2 Satz 2 BVG gilt der vom Senat entwickelte Grundsatz, daß die allgemein veränderten wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse in Industrie und Handel nach dem 2. Weltkrieg nach dem ersten Anschein dagegen sprechen, ein Familienvater mittleren Alters mit vorher stets unselbständig ausgeübtem Fachberuf würde sich selbständig gemacht haben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 23. Juli 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin ist die Witwe des 1910 geborenen und 1966 an den Folgen eines Herzinfarkts verstorbenen R. S. Durch Bescheid vom 23. Juli 1951 waren bei ihm "Nasenplastik nach Verlust der Nase mit Herabsetzung des Geruchssinnes u. erschwerter Nasenatmung. Hornhautnarben re. u. reizlose Narbenbildung nach Knochen- u. Hautentfernungen für Nasenplastik. Leichte Empfindungsstörungen am Daumen- u. Zeigefinger der re. Hand. Kleinste Narbenbildungen am re. Unterarm. Narben an der Hornhaut des re. Auges” als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einem Grade der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. im allgemeinen Erwerbsleben anerkannt gewesen. Ansprüche wegen besonderen beruflichen Betroffenseins hatte er nicht gestellt, Berufsschadensausgleich nicht beantragt gehabt.

Der Antrag der Klägerin auf Witwenrente wurde mit einem im Rechtsmittelverfahren bindend gewordenen Bescheid vom 5. April 1967 abgelehnt, da der Tod nicht Schädigungsfolge sei. Durch Bescheid vom 10. April 1967 gewährte das Versorgungsamt Frankfurt/Main jedoch ab 1. Januar 1967 Witwenbeihilfe für sie und ihre minderjährige Tochter in gesetzlicher Höhe. Gleichzeitig teilte es der Klägerin mit, Schadensausgleich könne nicht zugesprochen werden, weil ihr Ehemann vor seinem Tode und trotz der anerkannten Schädigung ohne Zweifel in der Lage gewesen sei, eine ausreichende und angemessene Vorsorge für die Hinterbliebenen zu treffen. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 1967 wurde der insoweit angefochtene Bescheid bestätigt.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt/Main hat die Klägerin vorgetragen, ihr Ehemann sei vor dem Kriege Reproduktionsfotograf gewesen und habe die durch die im Mai 1942 erfolgte Einberufung zum Kriegsdienst vereitelte Absicht gehabt, die Meisterprüfung abzulegen. Zum Zwecke der Vorbereitung habe er in B. die Meisterschule für das graphische Gewerbe besucht gehabt. Die Unterlagen darüber seien vernichtet. Ihr Vater habe ihm alsdann in seinem Hause einen Betrieb (Fotogeschäft) einrichten wollen. Nach der Entlassung aus Lazarettbehandlung sei ihr Ehemann bis etwa 1949 in K. berufsfremd tätig gewesen und alsdann bis zu seinem Tode wieder seinem erlernten Beruf als Kopierer nachgegangen. Durch die anerkannten Schädigungsfolgen sei ein weiterer Aufstieg nicht möglich gewesen, so daß er nicht in der Lage gewesen sei, für seine Hinterbliebenen angemessen zu sorgen. Ihr gebühre Schadensausgleich unter Eingruppierung in die Besoldungsgruppe A 9 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG). Im übrigen bitte sie, Ermittlungen über das besondere berufliche Betroffensein ihres Ehemannes durchzuführen.

Demgegenüber hat der Beklagte ausgeführt, der Ehemann der Klägerin habe nie behauptet gehabt, die Meisterprüfung angestrebt zu haben, ebensowenig wie die Anerkennung von beruflichem Betroffensein und die Gewährung von Berufsschadensausgleich beantragt gewesen seien. Er habe in seinem erlernten Beruf zeitlebens das entsprechende Einkommen bezogen.

Das Sozialgericht hat die Rentenakten über den Ehemann der Klägerin von der Landesversicherungsanstalt Hessen beigezogen und die Klage mit Urteil vom 23. Juli 1970 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die anzuwendende Vorschrift des § 48 Abs. 2 Satz 2 BVG sei eine Ermessensbestimmung. Ermessensfehler des Beklagten seien nicht ersichtlich. Nach dem aktenkundigen beruflichen Werdegang des Ehemannes der Klägerin habe dieser auch nach dem Kriege mit kurzfristigen Unterbrechungen in seinem erlernten Beruf gearbeitet und ein entsprechendes Einkommen gehabt. Über die Frage des besonderen beruflichen Betroffenseins sei nicht zu entscheiden gewesen. Ein Antrag auf dessen Anerkennung sei zu Lebzeiten nicht gestellt worden.

Gegen dieses Urteil, das der Klägerin am 6. August 1970 zugestellt worden ist, richtet sich ihre am 24. August 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung wiederholt sie ihr bisheriges Vorbringen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 23. Juli 1970 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 10. April 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 1967 insoweit abzuändern, als die Gewährung von Schadensausgleich versagt worden ist.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Versorgungs- und die Witwenakten des Versorgungsamtes Frankfurt/Main mit den Grdl. Nummern – XXXX und XYXY – sowie die Akten des Sozialgerichts Frankfurt/Main (Az.: S-1/V-338/67) und die Akten der Landesversicherungsanstalt Hessen über den Ehemann der Klägerin haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 10. April 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 1967 ist auch insoweit rechtlich nicht zu beanstanden, als er die Gewährung von Schadensausgleich abgelehnt hat.

Rechtsgrundlage ist vorliegend § 48 Abs. 2 Satz 2 BVG i.d.F. des 3. Neuordnungsgesetzes (NOG), wonach einer Witwe, die Witwenbeihilfe gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 erhält, Schadensausgleich nur gewährt werden kann, wenn sich die Schädigungsfolgen des Verstorbenen nachteilig auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse auswirken. Die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen dieses letzten Bedingungshalbsatzes, welche die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit im Gegensatz zur Auffassung des Vordergerichts, das nur auf die Prüfung von Ermessensfehlern abgestellt hat, auch in sachlicher Hinsicht zu überprüfen haben, liegen nicht vor. Dem angefochtenen Urteil war deshalb im Ergebnis beizupflichten.

Eine nachteilige Auswirkung von Schädigungsfolgen im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 2 BVG wird dann anzunehmen sein, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse der Witwe ohne dieselben günstiger wären als sie es nach dem Tode tatsächlich sind. Hieraus folgt, daß eine durch den Tod selbst verursachte Einkommens- oder Vermögensbeeinträchtigung außer Betracht zu bleiben hat. Ob die Schädigungsfolgen – nach den Grundsätzen der im Versorgungsrecht geltenden Kausaltheorie wesentlich – am wirtschaftlichen Betroffensein der Witwe mitgewirkt haben, wird sich wegen der Verknüpfung mit wirtschaftlichen Einbußen des verstorbenen Ehemannes durch Schädigungsleiden in erster Linie danach beantworten, ob er zu Lebzeiten mit Erfolg Ansprüche aus § 30 Abs. 2 BVG geltend gemacht oder Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG i.V.m. den einschlägigen Vorschriften der Durchführungsverordnungen bezogen hatte. Diese Rechtsauffassung des Senats deckt sich mit dem Inhalt der Verwaltungsvorschrift Nr. 4 zu § 48 BVG, die er als mit der Rechtsordnung in Einklang stehend betrachtet.

Hiervon ausgehend war dem Berufsschadensausgleich der Klägerin nicht stattzugeben. Denn ihr Ehemann hatte nach dem Inhalt der Versorgungsakten keine Anträge auf Anerkennung des beruflichen Betroffenseins und (oder) Gewährung von Berufsschadensausgleich gestellt. Von Amts wegen ist über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG ebenfalls nicht positiv entschieden worden, weil sich offenbar auf Grund der Tatsache, daß er seit Juli 1949 bei der Firma B. in K., später in B. und ab 1962 bei dem graphischen Großbetrieb L. in F. in seinem Beruf tätig war, keine ersichtliche Veranlassung ergab. Denn die vorhandenen Verdienstbescheinigungen der Arbeitgeber des Ehemannes der Klägerin ergeben nichts für eine mit den Schädigungsfolgen in Zusammenhang zu bringende Minderentlohnung, ebensowenig wie der Inhalt der Versorgungsakten Fakten dafür erbringt, daß er im Sinne des § 30 Abs. 2 Buchst. c) infolge der Schädigung am weiteren Aufstieg in seinen Beruf gehindert war. Dagegen spricht auch der Inhalt von Bl. 7 der Witwenakten, wonach er im Jahre 1966 einen Gesamtbruttoverdienst von rund 16.930,– DM erzielt hatte, überdies ist aus den Rentenakten der Landesversicherungsanstalt Hessen zu entnehmen, daß die Werteinheiten der davorliegenden Jahre nicht entscheidend geringer waren, wenn sie in Vergleich zu der Klasse 9 gesetzt werden, in welcher er 1942 Beiträge entrichtet hatte. Hiernach ist eine nachteilige Auswirkung der Schädigungsfolgen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin nicht ersichtlich, was den erlernten und ausgeübten Beruf angeht.

Daß ihr Ehemann – mit Rückwirkungen auf sie selbst – am weiteren Aufstieg in der Weise gehindert war, daß er die angestrebte Meisterprüfung im Fotografenberuf nicht ablegen konnte, ist darüber hinaus nicht wahrscheinlich. Denn selbst wenn der Senat zu ihren Gunsten als richtig unterstellt, er habe vor dem 2. Weltkrieg die Meisterschule für das graphische Gewerbe in B. besucht, um sich auf diese Prüfung vorzubereiten, dann bleibt offen, weshalb er nach dem Kriege seine Bemühungen nicht fortgesetzt hat, die trotz der Schädigungsfolgen zumutbar gewesen wären. Er selbst hatte ausweislich des Akteninhaltes nichts geäußert, was den Vortrag der Klägerin stützen könnte. Hieraus muß geschlossen werden, daß andere das Versorgungsrecht nicht berührende Erwägungen maßgeblich waren, wenn er das Ziel, selbständiger Fotograf mit Meisterprüfung zu werden, fallengelassen hat. Im übrigen hält der Senat auch im vorliegenden Falle an seiner für das Berufsschadens- und Witwenschadensrecht entwickelten Rechtsprechung fest, daß die allgemein veränderten wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse in Industrie und Handel nach dem 2. Weltkrieg nach dem ersten Anschein dagegen sprechen, daß sich ein Familienvater im Alter des Ehemannes der Klägerin mit vorher stets unselbständig ausgeübtem Fachberuf selbständig gemacht haben würde. Hierfür waren die Risiken ganz einfach zu groß. Gegen diesen Grundsatz sprechen konkrete Anhaltspunkte sind von der Klägerin weder vorgetragen worden noch sind sie aus den Akten ersichtlich.

Nach alledem war der Berufung der Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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