L 5 V 645/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 645/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Nimmt eine Beschädigte mit 20 Jahren eine unterbrochene Schulausbildung nicht wieder auf, obwohl sie durch Schädigungsfolgen hieran nicht gehindert wird, ist die Ablegung der Reifeprüfung unwahrscheinlich.
2) Da Hausfrauen mit drei minderjährigen Kindern allgemein nur in beschränktem Umfang, zumeist nur halbtags, beruflich tätig zu sein pflegen, spricht die größere Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Ehefrau eines Anwalts in derselben Lage im Hauptberuf Hausfrau bleibt.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 25. Juni 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die 1930 geborene Klägerin ist verheiratet und Mutter von drei Kindern unter 15 Jahren. Sie bezog nach dem Bescheid des Beklagten vom 25. September 1952 ab 1. August 1952 eine von seither 50 v.H. auf 70 v.H. erhöhte Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen, Inaktive Lungentuberkulose, Zustand nach Plastik mit hochgradiger Linksverkrümmung der Brustwirbelsäule und Verziehung der Brustorgane, Streuherde rechts, ausgleichende Lungenerweiterung, ausgedehnte Verschwartung”.

Am 24. Juli 1957 hat die Klägerin geheiratet. Am 8. April 1964 hat sie bei dem Beklagten die Gewährung von Berufsschadensausgleich beantragt. Auf dem entsprechenden Fragebogen gab sie an, sie habe nach der Volksschule das L. in F.-H. von 1940 bis 1942 sowie die Mittel- und Oberschule im W. von 1942 bis 1945 besucht. Das Reifezeugnis besitze sie nicht, da nach ihrer Flucht aus dem W. im Jahre 1945 die Oberschule noch nicht wieder eröffnet gewesen sei; 1946 sei sie dann bereits an der Lungen-Tbc erkrankt und habe sich sehr lange in stationärer Behandlung befunden. Vorher sei sie vom Oktober 1945 bis März 1946 als Stenotypistin bei einer amerikanischen Dienststelle tätig gewesen. Den von ihr angestrebten Beruf als Kunsthandwerkerin habe sie wegen der Schädigungsfolgen nicht erreicht. Am 14. März 1968 hat die Klägerin zur Niederschrift des Versorgungsamtes erklärt, daß sie bezüglich ihres Berufsschadensausgleichs um Einstufung als schwerbeschädigte Hausfrau bitte. Der Beklagte gewährte ihr hierauf zunächst durch Zugunstenbescheid vom 4. April 1968 nach § 40 Abs. 1 VfG (KOV) wegen besonderen beruflichen Betroffenseins als Hausfrau gemäß § 30 Abs. 2 BVG eine rückwirkend ab 1. April 1960 auf 80 v.H. erhöhte Rente. Mit Bescheid vom 5. April 1968 wurde ihr ferner gemäß § 8 DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG ab 1. Januar 1964 Berufsschadensausgleich als schwerbeschädigte Hausfrau gewährt. Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch begehrte die Klägerin im Hinblick auf ihre Schulausbildung die Einstufung in die Besoldungsgruppe A 10 nach § 7 der DVO. Hierbei wies sie auch darauf hin, daß sie die Tätigkeit bei der afrikanischen Dienststelle nicht zuletzt auf Drängen des ihre Familie unterstützenden Fürsorgeamtes aufgenommen habe. Sie würde ohne ihre Schädigungsfolgen auch nach ihrer Heirat die von ihr angestrebte Berufstätigkeit fortgesetzt bzw. als Büroleiterin in dem Anwaltsbüro ihres Ehemannes tätig geworden sein, zumal sie sich nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen dann eine Haushälterin hätte leisten können. Mit Bescheid vom 30. Oktober 1968 half der Beklagte dem Widerspruch nicht ab. Es sei schon fraglich, ob die Klägerin ohne ihre Schädigungsfolgen die Tätigkeit als Stenotypistin bei der amerikanischen Besatzungsmacht zum Zwecke des Schulabschlusses aufgegeben haben würde. Darüber hinaus sei unwahrscheinlich, daß sie heute als Mutter von drei Kindern im Alter von zehn, sieben und drei Jahren noch berufstätig wäre. Im übrigen änderte der Beklagte durch Berichtigungsverfügung vom 9. Dezember 1968 gemäß § 25 VfG (KOV) die Berechnung daß der Klägerin gewährten Berufsschadensausgleichs.

Mit der vor dem Sozialgericht Frankfurt (Main) erhobenen Klage machte die Klägerin vor allem geltend, die Mehrzahl der Ehefrauen mit Kindern würde bei einem für die Bezahlung einer Haushälterin ausreichenden Einkommen ihre Berufstätigkeit fortsetzen. Hierzu wäre auch sie nach Ablegung der Reifeprüfung und Eröffnung eines kunsthandwerklichen Geschäfts imstande gewesen. Das Sozialgericht Frankfurt (Main) wies mit Urteil vom 25. Juni 1970 die Klage als unbegründet ab. Auf die Entscheidungsgründe wird im einzelnen Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 8. Juli 1970 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 21. Juli 1970 Berufung eingelegt. Mit ihr macht sie weiterhin geltend, daß sie auch nach dem Kriegsende noch die feste Absicht gehabt habe, ihre Schulausbildung zu beenden; die Ausführung dieses Vorhabens sei allein durch die Schädigungsfolgen verhindert worden. Hierzu hätte das Sozialgericht die ihm angebotenen Beweise erheben müssen. Sie habe sich früher vor allem deswegen mit ihrer Einstufung als schwerbeschädigte Hausfrau einverstanden erklärt, um die Bewilligung ihres damals gestellten Kurantrages zu beschleunigen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 25. Juni 1970 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 5. April 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 1968 sowie unter Abänderung der Berichtigungsverfügung vom 9. Dezember 1968 bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs von dem Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 10 BBesG auszugehen und unter Berücksichtigung der entsprechenden Zuschläge hiernach Berufsschadensausgleich zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, daß das angefochtene Urteil zutreffe.

Der Senat hat durch Einholung einer Auskunft des Statischen Bundesamtes in Wiesbaden vom 22. Dezember 1971 Beweis erhoben, wonach im Jahre 1968, von 883 Ehefrauen mit drei Kindern unter fünfzehn Jahren 242 Ehefrauen erwerbstätig waren; im Jahre 1970 war das entsprechende Verhältnis 899 zu 261. Es könne angenommen werden, daß etwa die Hälfte der erwerbstätigen Frauen dieser Kategorie mindestens halbtags gearbeitet habe.

Auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Versorgungsakten, welche zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden, wird im einzelnen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig; sie ist insbesondere nach § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegt und nach § 143 SGG statthaft. Da die Berufung ohnehin statthaft ist, kann dahinstehen, ob das Verfahren des Sozialgerichts etwa an wesentlichen Mängeln leidet, da das Landessozialgericht auch in diesem Falle als Tatsacheninstanz zur sachlichen Entscheidung befugt wäre und eine Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG nach herrschender Meinung im freien richterlichen Ermessen des Senats steht (vgl. Hofmann-Schroeter 2. Aufl. Anm. 2 zu § 159 SGG).

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der Beklagte hat die Klägerin mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht bei der Berechnung ihres Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG gemäß § 8 der zu diesen Vorschriften ergangenen Durchführungsverordnungen (DVO) als schwerbeschädigte Hausfrau eingestuft.

Die Klägerin hat entgegen ihrer Auffassung keinen Anspruch darauf, nach § 7 DVO wegen vermutlich erfolgter abgeschlossener höherer Schulbildung (Reifeprüfung) in die Besoldungsgruppe A 10 BBesG eingestuft zu werden. Gegen eine solche Einstufung spricht zunächst der Umstand, daß die Klägerin am 14. März 1968 zur Niederschrift des Versorgungsamtes Frankfurt (Main) um Einstufung als schwerbeschädigte Hausfrau gebeten hatte. Hierbei kann davon ausgegangen werden, daß sie als Ehefrau eines Rechtsanwalts über die Sach- und Rechtslage und damit über die Tragweite ihrer damaligen Erklärung unterrichtet war, zumal sie der Beklagte in seiner Antrage vom 29. November 1967 u.a. auch auf die Vorschrift des § 7 der DVO hingewiesen hatte. Ferner hält es der Senat für unwahrscheinlich, daß die Klägerin 1946 ohne Auftreten ihrer Schädigungsfolgen ihre damalige Tätigkeit bei einer amerikanischen Dienststelle aufgehoben hätte, um ihre höhere Schulausbildung zu beenden und die Reifeprüfung abzulegen. Hiergegen spricht der Umstand, daß sie auch 1950, als inzwischen eine gute Stabilisierung ihres Lungenleidens eingetreten war (vgl. das Gutachten Dr. S. vom 21. Dezember 1950), ihre Schulausbildung nicht fortgesetzt hat, obgleich ihr dies in ihrem damaligen Alter von 20 Jahren durchaus möglich und zumutbar gewesen wäre. Außerdem hätte sie auch ohne Abitur sich als Kunsthandwerkerin betätigen können und hätte hierzu wiederum nach 1950 bis 1957 genug Gelegenheit im F. Raum gehabt. Da während dieser Zeit von einer Aktivität des Lungenleidens nichts bekannt ist, standen die Schädigungsfolgen ihren beruflichen Absichten keinesfalls im Wege. Auf diese Faktoren kam es indessen letzten Endes nicht entscheidend an, so daß es auch der von der Klägerin hierzu angeregten Beweisaufnahme nicht bedurfte.

Selbst wenn man nämlich zu Gunsten der Klägerin unterstellt, sie hätte ohne Schädigungsfolgen nach 1945 die Reifeprüfung abgelegt, fehlt nach der Überzeugung des Senats die erforderliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie auch noch als Ehefrau eines Rechtsanwalts und vor allem als Mutter von drei Kindern unter fünfzehn Jahren einem der von ihr während des Verfahrens behaupteten Berufe nachgegangen wäre. Diese Überzeugung des Senats stützt sich zunächst auf die von dem Statistischen Bundesamt eingeholte Auskunft, wonach offensichtlich nur etwa ein Viertel der Ehefrauen mit drei Kindern unter fünfzehn Jahren überhaupt erwerbstätig ist (im Jahre 1968 von 883 242 Ehefrauen, im Jahre 1970 von 899 261 Ehefrauen). Dieser Bruchteil verringert sich obendrein noch, weil nach der Erfahrung dieser sachkundigen Behörde etwa die Hälfte der Genannten halbtags arbeitet. Bei Frauen, die teils als Hausfrau teils anderweitig beruflich tätig sind, steht im übrigen die hausfrauliche Tätigkeit, die auch samstags und sonntags geleistet werden muß, so im Vordergrund, daß sie nach § 2 Abs. 2 DVO als Hauptberuf anzusehen ist.

Über die wirtschaftliche Lage dieses statistisch erfaßten Personenkreises stand dem Statistischen Bundesamt zwar offensichtlich kein weiteres Material zur Verfügung, zumal es bereits wesentlich einfacher liegende Fragen nur im beschränkten Umfange beantworten konnte. Nach Überzeugung des Senats kann aber insoweit auch die Berücksichtigung einer günstigen wirtschaftlichen Lage der Klägerin und ihres Ehemannes zu keiner anderen Entscheidung führen. Es mag zwar durchaus sein, daß die Klägerin (bzw. ihr Ehemann) ohne Schädigungsfolgen zur Bezahlung einer Haushälterin finanziell imstande wäre. Damit ist aber noch keineswegs wahrscheinlich, daß sie dann tatsächlich eine Haushälterin haben und erwerbstätig sein würde. Die Klägerin übersieht hierbei anscheinend, daß sich bei ihren und ihres Ehemannes Lebensverhältnissen zugleich auch das wirtschaftliche Bedürfnis nach ihrer Berufstätigkeit verringert. Im übrigen handelt es sich keineswegs nur um wirtschaftliche Fragen, da auch heute ohne Zweifel ein sehr großer Teil gut situierter Ehefrauen mit höherer Schulbildung Wert darauf legt, vor allem die Erziehung, aber auch die Pflege und Beaufsichtigung von drei Kindern unter fünfzehn Jahren selbst in die Hand zu nehmen und sie nicht einer angestellten Haushälterin zu überlassen. Insgesamt besteht hiernach sowie nicht zuletzt unter Berücksichtigung der aufschlußreichen statistischen Zahlenverhältnisse keine ausreichende Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Klägerin ohne Schädigungsfolgen heute erwerbstätig wäre. Es spricht vielmehr umgekehrt die größere Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie ebenso als Hausfrau tätig wäre, zumindest aber die überwiegende Zeit. Das hat zur Folge, daß nach § 2 Abs. 2 DVO allein auf den Beruf der Hausfrau abzustellen ist. § 7 DVO ist im übrigen nur subsidiär anzuwenden und kommt dann nicht zum Zuge, wenn der vermeintliche Berufsweg schon nach §§ 2 bis 5 DVO bestimmt werden kann. Insoweit kommt nach Auffassung des Senats nur der Beruf einer Hausfrau in Betracht.

Nach alledem war die unbegründete Berufung, wie geschehen, zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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