L 5 V 727/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 727/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ist ein beinamputierter Beschädigter zum Schumachergesellen umgeschult worden und arbeitet er nach Aufgabe des selbständigen als Sattler, so liegt kein schädigungsbedingter Einkommensverlust vor, wenn genügend konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, daß er seinen Kleinstbetrieb aus Strukturgründen der Wirtschaft auch als Ungeschädigter nicht hätte aufrechterhalten oder zumindest zur ausreichenden Existenzgrundlage hätte ausbauen können.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 19. Juni 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 1924 geborene Kläger bezieht wegen

"1) Amputation des rechten Beines im Oberschenkel.

2) Reizlose kleine Narben am Hals, linker Ellenbogen und linker Oberschenkel” als Schädigungsfolgen Versorgung nach einem Grade der MdE von 70 v.H. (Neufeststellungsbescheid vom 4. September 1952).

Am 22. März 1967 beantragte er beim Versorgungsamt Darmstadt Berufsschadensausgleich. Zu seinem beruflichen Werdegang gab er unter Beifügung von Zeugnissen und anderen Urkunden an, er habe nach Beendigung der Pflichtschulzeit ab 1939 bis zu seiner 1942 erfolgten Einberufung in der elterlichen Landwirtschaft mitgeholfen. Nach dem Kriege sei er von 1947 bis 1949 als Schuhmacher umgeschult worden, habe die Gesellenprüfung abgelegt, sich im Juli 1951 selbständig gemacht und sein Gewerbe im März 1952 wieder abgemeldet, da er seinen Beruf wegen der Beschädigung nicht habe ausüben können. Anschließend sei er arbeitslos gewesen, bis er im Januar 1954 bei der Firma A. AG in R. eine Tätigkeit als Arbeiter in der Sattlerei gefunden habe. Dadurch habe er einen Einkommensverlust.

Das Versorgungsamt zog eine Verdienstbescheinigung von der Arbeitgeberin des Klägers und eine Auskunft von dem Landeswohlfahrtsverband Hessen bei. Alsdann erließ es am 24. April 1968 zunächst einen Bescheid über die Ablehnung einer Zugunstenentscheidung hinsichtlich des besonderen beruflichen Betroffenseins und berief sich auf die Bindung des Bescheides vom 4. September 1952. Am 25. April 1968 lehnte es die Gewährung von Berufsschadensausgleich mit der Begründung ab, der Kläger sei erfolgreich umgeschult worden. Die Aufgabe sei nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen. Einen etwaigen Einkommensverlust habe er selbst zu vertreten.

Gegen beide Bescheide wandte sich der Kläger mit dem Widerspruch. S.E. sei die Umschulung zum Schuhmacher erfolglos gewesen, da er diesen Beruf nach etwa Dreivierteljahr wegen der Beschädigung wieder habe aufgeben müssen. Als älterer Sohn hätte er die Landwirtschaft seiner Eltern übernommen und bei glücklicher Heimkehr aus dem Kriege ein höheres Einkommen im Vergleich zu seiner jetzigen Tätigkeit als Arbeiter.

Durch Widerspruchsbescheid vom 18. September 1968 wurde der angefochtene Bescheid im Hinblick auf die Ablehnung des beruflichen Betroffenseins bestätigt. Am 19. September 1968 erging der Widerspruchsbescheid bezüglich des beantragten Berufsschadensausgleichs, zu dessen Begründung ausgeführt wurde, sowohl als selbständiger Schuhmacher in einer kleinen Gemeinde als auch als selbständiger Landwirt eines kleinen Besitzes läge das Einkommen des Klägers nicht über dem derzeitigen als Sattler bei der Firma O. AG. Auch sei das Berufsziel Landwirt durch keine Unterlagen nachgewiesen worden.

Die hiergegen erhobenen Klagen hat das Sozialgericht Darmstadt durch Bescheid vom 19. Juni 1970 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Der Kläger hat zu ihrer Begründung wiederum ausgeführt, seinen Beruf als selbständiger Schuhmacher habe er, wie er durch die Einreichung ärztlicher Bescheinigung nachweise, wegen der Amputationsfolgen aufgeben müssen. Berufsschadensausgleich unter Eingruppierung in die Besoldungsgruppe A 7 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) stehe ihm deshalb zu, weil er als selbständiger Schuhmacher mehr als gegenwärtig verdienen würde.

Mit Urteil vom 19. Juni 1970 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Beklagte habe den Antrag des Klägers zutreffend dahin ausgelegt, daß er auch die Erhöhung des Grades der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins anstrebe und darüber richtig durch die Erteilung eines negativen Zugunstenbescheids entschieden. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG lägen nicht vor, da er laut Auskunft des Finanzamtes in Cochem einen sehr geringen Verdienst als Schuhmacher gehabt habe, wohingegen er diese Tätigkeit im Hinblick auf seine Schädigungsfolgen hätte ausüben können. Aus diesem Grunde stehe ihm auch kein Berufsschadensausgleich zu.

Gegen dieses Urteil, das dem Kläger am 17. Juli 1970 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 17. August 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung, die er auf die Geltendmachung von Berufsschadensausgleich beschränkt.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 19. Juni 1970 teilweise aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 25. April 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 1969 zu verurteilen, Berufsschadensausgleich unter Einstufung in die Besoldungsgruppe A 7 BBesG als selbständiger Schuhmacher zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil im angefochtenen Rahmen für zutreffend.

Die Akten des Versorgungsamtes Darmstadt mit der Grdl. Nr. und die Akten des Sozialgerichts Darmstadt (Az.: S-9/V – 293/68) haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist im geltendgemachten Umfang nach § 143 SGG zulässig, jedoch nicht begründet.

Rechtsgrundlage ist § 30 Abs. 3 und 4 BVG i.d.F. des 2. und 3. Neuordnungsgesetzes (NOG), wonach Schwerbeschädigte, deren Erwerbseinkommen durch die Schädigungsfolgen um monatlich mindestens 75,– DM oder überhaupt gemindert ist (Einkommensverlust), nach Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG einen Berufsschadensausgleich in Höhe von vier Zehntel des Verlustes oder eines bezifferten Höchstbetrages erhalten (§ 30 Abs. 3 BVG). Einkommensverlust ist dabei der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, welcher der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher bestätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte. Allgemeine Vergleichsgrundlage zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die amtlichen Ermittlungen des Statistischen Bundesamtes für das Bundesgebiet und die jeweils geltenden beamten- oder tarifrechtlichen Besoldungen- oder Vergütungsgruppen des Bundes (§ 30 Abs. 4 BVG). Gemäß § 30 Abs. 7 BVG ist die Bundesregierung ermächtigt worden, durch Rechtsordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen, welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise die zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist.

Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen nicht vor. Bei seiner Prüfung hatte der Senat von dem Schuhmacherberuf auszugehen, für den der Kläger nach der Schädigung umgeschult worden ist (§ 30 Abs. 6 BVG). Seine zwischenzeitlich gemachte Einlassung, er wäre als Ungeschädigter selbständiger Landwirt geworden, ist in Ansehung dieser Bestimmung unbeachtlich, abgesehen davon, daß er keine konkreten Unterlagen oder Beweismittel dafür beigebracht und seinen Berufungsantrag nicht darauf bezogen hat.

Daß die Umschulungsmaßnahmen nicht zum Ausgleich des beruflichen Schadens geführt hätten, kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen. Nach der aktenkundigen ärztlichen Gutsachen könnte er vielmehr als selbständiger Schuhmacher tätig sein. Auch die von ihm in erster Instanz eingereichten Befundberichte stehen nicht dagegen, zumal sie die Arthrosis deformans des linken Kniegelenkes in den Vordergrund stellen, die indessen nicht als Schädigungsfolge anerkannt ist. Nach den im Jahre 1952 vom Versorgungsamt durchgeführten Ermittlungen beruhte die Aufgabe des Schuhmacherhandwerks in Wahrheit auf der schlechten Ertragslage in diesem Erwerbszweig, von der aber andererseits nicht ersichtlich ist, daß sie in ursächlichem Zusammenhang mit den festgestellten Schädigungsfolgen stand. Daß der Kläger sein Gewerbe schon nach etwa neun Monaten wieder abgemeldet hat, ist auch nach Auffassung des Senats allein wirtschaftlich bedingt gewesen. Denn er wohnte seinerzeit bei seinen Eltern in W. wo diese eine kleine Landwirtschaft hatten und übte in diesem industriell und größenmäßig unbedeutenden Ort sein Handwerk aus. Bekanntermaßen hatten aber Schuhmachereien vergleichbarer Art seit Beginn der 50er Jahren allgemein Umsatzrückgänge zu verzeichnen. Auch als Unbeschädigter hätte der Kläger mit seinem Kleinstbetrieb um seine Existenz ringen müssen, nachdem die Schuhindustrie mehr und mehr billige Schuhe auf den Markt brachte, deren Reparatur nicht lohnend war, die Einzelanfertigung neuer Schuhe nach Maß ungebräuchlich wurde und noch in Auftrag gegeben Reparaturen von maschinell modern ausgerüsteten Schuhbeschlanstalten billiger ausgeführt wurden.

Hinzu kommt vorliegend ferner, daß der Kläger sich seit 1954 bei der Firma O. AG in einem artverwandten Beruf befindet, der ihm ohne soziale Schlechterstellung ein Einkommen bringt, von dem nicht ersichtlich ist, daß es unter dem eines selbständigen Schuhmachers in einer Werkstatt von der Art und der Größe liegt, wie sie der Kläger 1951/52 bestritten hat und aus Strukturgründen der Wirtschaft auch weiterhin nur hätte aufrecht erhalten können. Hierbei ist entscheidend auf die Auskunft des Finanzamts Cochem abzustellen, wonach er damals lediglich einen Gesamtgewinn von etwa 900,– DM gehabt hat.

Hiernach liegen die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 und 4 BVG nicht vor, so daß der Berufung der Erfolg mit Kostenfolge aus § 193 SGG zu versagen war.
Rechtskraft
Aus
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