L 3 U 388/69

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 388/69
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Gewährung einer Verletztenrente trotz Abfindung (§ 605 RVO) setzt eine wesentliche Verschlimmerung gegenüber dem letzten Feststellungsbescheid voraus.
2. Auch in der Unfallversicherung ist jede nachträglich auftretende Gesundheitsstörung auf ihren ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfallereignis zu prüfen.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 20. März 1969 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erhielt von der Beklagten mit Bescheid vom 27. Dezember 1940 wegen Erblindung des rechten Auges eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 %. Mit Bescheid vom 8. Oktober 1956 hat die Beklagte den Kläger mit seiner Zustimmung gem. § 616 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. abgefunden.

Am 29. Januar 1962 wurde dem Kläger von dem Augenarzt Dr. med. J. K., das erblindete rechte Auge wegen einer tiefen Entzündung operativ entfernt. Dieser Arzt vertrat in einer gutachtlichen Stellungnahme vom 8. März 1962 die Ansicht, am linken Auge bestehe eine sympathische Ophthalmie mit Drucksteigerung, die höchstwahrscheinlich auf unfallbedingte Veränderungen zurückzuführen sei, wodurch eine MdE um insgesamt 50 % bedingt werde. Mit Bescheid vom 1. August 1962 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Rentengewährung mit der Begründung ab, die unfallbedingte MdE betrage nur 30 %, so daß die Voraussetzungen des § 616 Abs. 3 RVO a.F. für die Wiedergewährung einer Rente nicht gegeben seien, als Unfallfolgen wurden anerkannt:

"Entfernung des erblindeten rechten Auges; oberflächliche Reizzustände und Drucksteigerung des li. Auges.”

Am 4. Juli 1966 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Verletztenrente. Dr. med. J. äußerte sich am 4. August 1966 gutachtlich dahin, die unfallbedingte MdE betrage nach einer im April/Mai 1966 erfolgten Operation des linken Auges wegen Grünen Stares nunmehr 35 %. Die Beklagte hörte daraufhin noch die Professoren Dres. Sch., M., und S. G., welche die Auffassung vertraten, am linken Auge bestehe keine sympathische Ophthalmie sondern ein primäres Glaukom als schicksalhaft bedingtes Augenleiden. In einem im pathologischen Institut der Universität G. am 9. September 1967 erstatteten Zusatzgutachten wurde nach einer histologischen Untersuchung des entfernten rechten Auges die Auffassung vertreten, eine sympathische Ophthalmie liege nicht vor. Mit Bescheid vom 29. November 1967 lehnte die Beklagte daraufhin die Rentengewährung ab, weil die unfallbedingte MdE weiterhin nur 25 % betrage. Die Erkrankung des linken Auges sei schicksalsbedingt.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 6. Dezember 1967 beim Sozialgericht Kassel Klage erhoben, das mit Urteil vom 20. März 1969 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger eine Teilrente von 10 % der Vollrente wegen der Unfallfolgen am linken Auge ab Antragstellung zu gewähren. Zur Begründung wurde aufgeführt, trotz der mit Bescheid vom 1. August 1962 erfolgten Anerkennung von Unfallfolgen am linken Auge hätte es sich nicht um eine irrtümliche Anerkennung und damit um keinen rechtswidrigen Verwaltungsakt gehandelt, weil dieser auf Grund einer zur Zusammenhangsfrage abgegebenen ärztlichen Beurteilung ergangen sei. An dieses Anerkenntnis sei die Beklagte gebunden. Da sich die anerkannten Unfallfolgen um 10 % verschlimmert hätten, sei die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine entsprechende Teilrente zu gewähren.

Gegen das ihr am 31. März 1969 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 8. April 1969 Berufung eingelegt. Sie führt u.a. aus, zwar sei die am 1. August 1962 erfolgte Feststellung der Unfallfolgen auch für sie materiell-rechtlich verbindlich. Die Verschlimmerung eines irrtümlich anerkannten Leidens könne aber nicht zur Rentengewährung führen. Im übrigen sei der ursächliche Zusammenhang einer weiteren Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörungen mit dem Arbeitsunfall unabhängig von ihrer Feststellung zu beurteilen. Mangels Ursachenzusammenhänge könne eine Wiedergewährung der Rente nach § 605 RVO nicht begründet werden.

Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 20. März 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt u.a. vor, der Augenfacharzt Dr. med. J. habe zutreffend eine unfallbedingte Miterkrankung des linken Auges festgestellt, sofern diese Auffassung aber unrichtig sein sollte, sei die Beklagte an ihr Anerkenntnis vom 1. August 1962 gebunden, da keiner der Aufhebungsgründe des § 1744 RVO vorliege. Der Grundsatz des Bestandsschutzes werde auch durch die Bestimmung des § 605 RVO nicht durchbrochen.

Im übrigen wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakte Bezug genommen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, dem Kläger eine Teilrente von 10 % der Vollrente zu gewähren. Offenbar hat es die in § 605 RVO bestimmten Voraussetzungen für gegeben erachtet, ist jedoch auf diese Vorschrift im Urteil nicht eingegangen. Danach ist der Anspruch auf Verletztenrente trotz der Abfindung insoweit begründet, als die Folgen des Arbeitsunfalls sich nachträglich wesentlich verschlimmern. Als wesentlich gilt eine Verschlimmerung nur, wenn durch sie die Erwerbsfähigkeit des Verletzten für länger als einen Monat um mindestens 10 vom Hundert weiter gemindert wird.

Es war daher zu prüfen, ob sich die Folgen des Arbeitsunfalles des Klägers "nachträglich” um mindestens 10 % verschlimmert haben. In der Regel wird das der Fall sein, wenn in den Verhältnissen, die für die Abfindung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Die Beklagte hat den Antrag des Klägers auf Wiedergewährung der Rente demgegenüber in dem angefochtenen Bescheid mit der Begründung abgelehnt, gegenüber den für die Erteilung des Bescheides vom 1. August 1962 maßgebenden Verhältnissen sei keine wesentliche Verschlimmerung eingetreten. Der Senat hält diese Auffassung für zutreffend. In diesem rechtsverbindlich gewordenen Bescheid ist nämlich nach einer Heilbehandlung des Klägers (Entfernung des erblindeten rechten Auges) neben der Gewährung von Verletztengeld für einen Monat die unfallbedingte MdE mit 30 % (statt bisher mit 25 %) neu festgestellt worden. Ferner wurden als Unfallfolgen anerkannt:

"Entfernung des erblindeten rechten Auges; oberflächliche Reizzustände und Drucksteigerung des linken Auges.”

Bei der Prüfung, ob gem. § 605 RVO "nachträglich” eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten ist, ist von den Verhältnissen auszugehen, die für die Leistungsfeststellung in diesem Bescheid maßgebend waren. Obwohl sich § 605 RVO als lex spezialis gegenüber § 622 Abs. 1 RVO darstellt, ist der letzteren Bestimmung doch der allgemeine Grundsatz zu entnehmen, das im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung eine neue Feststellung der Leistungen voraussetzt, daß in den Verhältnissen, die für die letzte Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist (vgl. auch Urteil des BSG 9 RV 128/64 zu dem ähnlich lautenden § 62 BVG). Da die letzte Feststellung der Unfalleistungen mit Bescheid vom 1. August 1962 erfolgte, müßte gegenüber den diesem Bescheid zugrunde liegenden Verhältnissen eine Zunahme der MdE um mindestens 10 % erfolgt sein, ehe eine Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung erfolgen kann. Das ist aber nicht der Fall, denn damals betrug die MdE 30 % und jetzt 35 %. Die dahingehenden gutachtlichen Feststellungen des Augenfacharztes Dr. med. J. sind von keiner Seite angegriffen worden. Da auch nach den allgemeinen Beurteilungsgrundsätzen keine Anhaltspunkte für eine höhere MdE vorliegen, sind die Voraussetzungen des § 605 RVO bereits aus diesem Grunde nicht erfüllt. Obwohl die Beklagte an die in ihrem Bescheid vom 1. August 1962 enthaltenen Feststellungen gebunden ist, kann sie daher nicht zur Leistungsgewährung verurteilt werden. Denn eine Bindung an einen Bescheid erfaßt notwendigerweise dessen gesamten Verfügungsinhalt, der im vorliegenden Fall neben der Anerkennung von Unfallfolgen auch eine Feststellung des dadurch bedingten MdE-Grades enthält, welcher der Prüfung zugrunde zu legen ist, inwieweit eine wesentliche Änderung vorliegt (vgl. Urteil des BSG vom 6. Oktober 1964, 10 RU 1039/62).

Vertritt man dagegen – wie offenbar das Sozialgericht die Ansicht, es handele sich bei dem Bescheid vom 1. August 1962 nicht um einen in vollem Umfang rechtsverbindlich gewordenen Neufeststellungsbescheid, so könnte nur von den Verhältnissen ausgegangen werden, die dem Abfindungsbescheid vom 8. Oktober 1956 zugrunde lagen. Es wäre dann ohne Berücksichtigung des Bescheides vom 1. August 1962 zu prüfen, ob gegenüber den damaligen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Dies müßte jedoch aus medizinischen Gründen verneint werden, wie unten noch auszuführen ist, so daß die Klage auch dann hätte abgewiesen werden müssen.

Im übrigen hat das Sozialgericht übersehen, daß jede Änderung in dem Gesundheitszustand eines Unfallverletzten selbständig auf ihren ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall zu prüfen ist. Auch die Anerkennung einer Unfallfolge im Sinne der Entstehung hat keine eigene Bedeutung für die Beurteilung später auftretender weiterer Gesundheitsschäden. Diese sind vielmehr daraufhin zu prüfen, ob sie wahrscheinlich noch auf den Unfall und dessen Auswirkungen zurückzuführen sind. Dieser in der Kriegsopferversorgung vertretene Grundsatz (vgl. u.a. den Beschluss des BSG vom 27. Dezember 1957, 10 RV 929/55) gilt nach der Auffassung des erkennenden Senats auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Beide Rechtsgebiete unterscheiden sich insoweit nicht derart voneinander, daß dies ungerechtfertigt ist. Die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen einem Ereignis und einer bestimmten Gesundheitsstörung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn kann vielmehr nur einheitlich beantwortet werden. Die hiernach notwendige Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der durchbohrenden Verletzung mit anschließender Erblindung des rechten Auges und den jetzt am linken Auge vorhandenen Gesundheitsstörungen führt jedoch zu dem Ergebnis, daß letztere im Gegensatz zu der Ansicht des Augenfacharztes Dr. med. J. nicht die Folge einer Mitreizung und Veränderung im Kammerwinkel im Sinne einer sympathischen Ophthalmie darstellen, sondern als primäres Glaukom anzusehen sind, d.h. als selbständiges schicksalmässig bedingtes Leiden, welches durch den Unfall weder verursacht noch verschlimmert worden ist. Diese Auffassung wird übereinstimmend von den Professoren Sch. und S. vertreten. Die entgegenstehende Ansicht des Dr. med. J. überzeugt demgegenüber nicht, zumal einem Zusatzgutachten des pathologischen Instituts der Universität G. vom 9. September 1967 zufolge anhand von 10 histologischen Schnitten des entfernten rechten Auges des Klägers eine sympathische Ophthalmie ausgeschlossen werden konnte. Es ist somit nicht wahrscheinlich, daß die Verletzung des rechten Auges die heute am linken Auge beziehenden Veränderungen verursacht oder verschlimmert hat. Auf die Berufung der Beklagten war das angefochtene Urteil daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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