Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 900/69
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Juli 1969 sowie die Bescheide vom 12. Februar und 27. Juni 1968 dahin abgeändert, daß die Beklagte verurteilt wird, den Jahresarbeitsverdienst unter Anwendung des § 577 der Reichsversicherungsordnung höher festzustellen.
2. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Verfahrenskosten zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1928 geborene Kläger ist spanischer Staatsangehöriger. Er erlitt am 4. November 1966 als Maschinenarbeiter bei der Fa. A. O. AG in H. einen Arbeitsunfall, bei dem er die Endglieder der Finger 2–4 der rechten Hand verlor. Mit Bescheid vom 12. Februar 1968 gewährte ihn die Beklagte für die Zeit vom 27. Dezember 1966 bis 4. April 1967 als vorläufige Rente eine Teilrente von 30 % der Vollrente und ab 5. April 1967 von 20 %. Dabei legte sie einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 4.770,– DM zugrunde, nämlich das 300-fache des Ortslohnes in Höhe von 15,90 DM, weil der nach § 571 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) errechnete Arbeitsverdienst des Klägers im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall nur 3.031,68 DM betragen habe. Der Kläger hatte im Unfallbetrieb ab 16. September 1966 gearbeitet und dabei 1.575,02 DM verdient. Zuvor war er zuletzt in Spanien als Bauhilfsarbeiter in der Zeit vom 4. November 1965 bis 9. Februar 1966 gegen ein Entgelt von umgerechnet 451,75 DM beschäftigt. Sein früherer spanischer Arbeitgeber teilte der Beklagten mit, der Kläger hätte in der Zeit vom 10. Februar bis 15. September 1966 bei ihm umgerechnet 1.004,91 DM verdient.
Gegen den Bescheid vom 12. Februar 1968 hat der Kläger Klage erhoben, die am 8. März 1968 bei der Beklagten und am 26. März 1969 beim Sozialgericht Darmstadt eingegangen ist und mit welcher er die Höhe der vorläufigen Rente und des JAV angegriffen hat.
Nachdem sich die Beklagte bereit erklärt hatte, dem Kläger in Abänderung des Bescheides vom 12. Februar 1968 für die Zeit vom 5. April bis 31. Oktober 1967 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 % zu gewähren, und mit Bescheid vom 27. Juni 1968 die Dauerrente nach einer MdE um 20 % festgestellt worden war, beantragte er nur noch den JAV mit 5.709,02 DM festzusetzen, und zwar unter Zugrundelegung des Verdienstes im Unfallbetrieb sowie des Ortslohnes für die restliche Zeit des letzten Jahres vor dem Arbeitsunfall.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 24. Juli 1969 abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht für die gesamte Zeit des Jahres vor dem Arbeitsunfall gem. § 575 Abs. 1 RVO das 300-fache des Ortslohnes der Rentenberechnung zugrunde gelegt. Der Kläger habe weder nach den deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommen noch nach § 577 RVO einen Anspruch auf Feststellung eines höheren JAV. Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.
Gegen das ihm am 2. August 1969 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26. August 1969 Berufung eingelegt. Er führt u.a. aus, das Sozialgericht habe die Bedeutung der in dem §§ 571, 575 und 577 RVO enthaltenen Bestimmungen verkannt. § 575 a.a.O. enthalte nur die absolute Mindestgrenze und sei in erster Linie als Begrenzung, nicht aber als Berechnungsvorschrift anzusehen. Das Sozialgericht habe auch verkannt, daß der JAV in seinem Fall gem. § 577 a.a.O. entsprechend seinen Fähigkeiten und seiner Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles höher festzusetzen sei, und zwar auf 5.709,02 DM (Verdienst während der 40 Tage im Unfallbetrieb zuzüglich des Ortslohnes während der übrigen Zeit im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall).
Er beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Juli 1969 sowie den Bescheid vom 12. Februar 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den JAV nach billigem Ermessen auf mindestens 5.709,02 DM festzusetzen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt u.a. aus, das Sozialgericht habe den Artikel 42 des deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommens richtig ausgelegt sowie mit Recht festgestellt, daß eine Anwendung der Bestimmung des § 577 RVO nicht erfolgen könne, weil die gem. §§ 571, 575 RVO erfolgte Berechnung des JAV nicht in erheblichen Maße unbillig sei.
Im übrigen wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakte Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG).
Entscheidungsgründe:
Die durch Zulassung statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.
Sie ist auch im wesentlichen begründet. Die Beklagte hat nämlich bei der – allein noch streitigen – Berechnung des der vorläufigen Rente sowie der Dauerrente zugrundeliegenden JAV zu Unrecht nur die Bestimmung des § 575 Abs. 1 RVO angewandt.
Die Beklagte hat zwar zunächst zutreffend ermittelt, welcher JAV sich nach § 571 Abs. 1 RVO für den Kläger errechnet. Da dieser nicht während des ganzen Jahres vor dem Arbeitsunfall, der ihm am 4. November 1966 zustieß, Arbeitseinkommen bezogen hat, scheidet zunächst die in Satz 1 enthaltene Bestimmung aus, wonach als JAV das Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall gilt. Da der Kläger aber im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall in der Zeit vom 4. November 1965 bis 9. Februar 1966 Arbeitseinkommen in Spanien erzielte, hat die Beklagte zu Recht geprüft, ob der JAV nach Satz 2 a.a.O. zu ermitteln ist. Nach dieser Vorschrift wird für Zeiten, in denen der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezog, das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, welche der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht, hier also das Arbeitseinkommen, das der Kläger in der Zeit vom 4. November 1965 bis 9. Februar 1966 bezog. Da der frühere spanische Arbeitgeber des Klägers der Beklagten auf Antrage mitteilte, daß der Kläger in dieser Zeit umgerechnet 451,75 DM verdiente und vom 10. Februar bis 15. September 1966 umgerechnet 1.004,91 DM verdient hätte, errechnet sich der gem. Satz 2 a.a.O. festzusetzende JAV unter Heranziehung des vom Kläger bei der Fa. A. AG erzielten Arbeitseinkommens mit 3.031,68 DM. Die Beklagte ist jedoch zu Recht davon ausgegangen, daß der JAV gem. § 575 Abs. 1 Satz 1 RVO mindestens das 300-fache des Ortslohnes, der zur Zeit des Arbeitsunfalles für den Beschäftigungsort festgesetzt ist, beträgt, d.h. im vorliegenden Fall 300 × 15,90 = 4.770,– DM.
Gleichwohl ist der angefochtene Bescheid, dem dieser JAV zugrunde liegt, rechtswidrig. Die Beklagte hat nämlich die Bestimmung des § 577 RVO nicht angewandt. Weder vor Erteilung des angefochtenen Bescheides noch auf das einschlägige Vorbringen des Klägers im Klageverfahren hat sie geprüft, ob der JAV aufgrund dieser Bestimmung höher festzustellen ist. In dieser Bestimmung heißt es aber ausdrücklich, daß der JAV in dort näher bezeichneter Weise festzustellen "ist”, wenn der nach den §§ 571–576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Den Trägern der Unfallversicherung ist also diese Feststellungspflicht als Mußvorschrift auferlegt. Bei dem Tatbestandsmerkmal "in erheblichem Masse unbillig” handelt es sich um einen sog. unbestimmten Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Sozialgerichte unterliegt. Lediglich die nach dieser Vorschrift vorgenommene Feststellung des JAV "nach billigem Ermessen” stellt eine Ermessensentscheidung dar, die zunächst gem. § 79 Nr. 1 SGG mit dem Widerspruch anzufechten ist. Im vorliegenden Falle war dagegen nur zu prüfen, ob der nach den §§ 571–576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig und die Beklagte daher zu verurteilen ist, den JAV nach billigem Ermessen höher festzustellen. Der erkennende Senat hat dies aus folgenden Gründen bejaht.
Die auf dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) beruhende Fassung des § 577 RVO hat die vorher geltende Bestimmung des § 566 RVO a.F. wesentlich erweitert. Nach der Begründung umfaßt sie sowohl die Fälle, in denen das Arbeitseinkommen aus besonderen Gründen zeitweilig so niedrig ist, daß es nicht als Grundlage der normalen Lebenshaltung des Verletzten und damit der Rentenberechnung angesehen werden kann, als auch Fälle, in denen das Entgelt den Wert der Arbeitsleistung bei weitem übersteigt und daher der Rentenberechnung nicht voll zugrunde gelegt werden kann (vgl. Bundestagsdrucksache IV/120 S. 175). Nach § 577 RVO ist nunmehr die Feststellung des JAV nach billigem Ermessen zwar in allen Fällen der Berechnung des JAV nach dem §§ 571–576 a.a.O. möglich, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß dieses "in erheblichem Maße” unbillig ist, was jeweils unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden muß (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 1–3 zu § 577 RVO). Seiner Natur nach stellt § 577 a.a.O. somit eine Ausnahmebestimmung dar, die nicht bei jeder Veränderung des Arbeitseinkommens während des Bemessungszeitraums zu berücksichtigen ist. Vielmehr können zur Auslegung dieser Bestimmung die Gedankengänge verwertet werden, welche zur Auslegung der Vorschrift des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. in dem Urteil des BSG vom 27. April 1969 (2 RU 191/56) enthalten sind. Danach war der grundlegende Gedanke des Gesetzgebers darauf gerichtet, den Verletzten einen sozialen oder wirtschaftlichen Aufstieg, den sie vor dem Versicherungsfall erreicht haben, in vollem Umfang zugute kommen zu lassen. Allerdings könne nicht jede finanzielle Verbesserung eines Arbeitnehmers, wenn sie in einer bloßen Lohnsteigerung bestehe, dazu führen, nur das zuletzt bezogene Arbeitsentgelt für die Berechnung des Durchschnittsverdienstes zu berücksichtigen, hingegen den vorher erzielten Verdienst außer acht zu lassen. Vielmehr müsse es sich bei der durch eine erweiternde Auslegung des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. möglichen Rechtswohltat um Fälle handeln, in denen der Versicherte im Laufe des Jahres vor dem Arbeitsunfall ein höheres Entgelt infolge seiner betrieblichen Stellung in dem Unternehmen erzielt habe. Das BSG hat in diesem Urteil aber auch zu erkennen gegeben, daß eine Härte für den Verletzten dadurch entstehen kann, daß er im Lauf des letzten Jahres vor dem Unfall in ein anderes Unternehmen mit günstigeren Verdienstverhältnissen übergewechselt ist. Die vom BSG nach § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. vorgenommene Berechnung ist nach dem Inkrafttreten des UVNG nicht mehr möglich, weil nunmehr grundsätzlich von dem Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Arbeitsunfall auszugehen ist. In dem Fall, der dem BSG zur Entscheidung vorlag, müßte aber unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung nach neuem Recht eine Unbilligkeit in erheblichem Masse angenommen und der JAV nach § 577 RVO festgestellt werden (so auch RVO-Gesamtkommentar zu § 577 RVO). Jedenfalls in den Fällen, in denen der Verletzte im Laufe des letzten Jahres vor dem Unfall seine berufliche Stellung außergewöhnlich verbessern konnte, das höhere Entgelt aber wegen des Arbeitsunfalles nur kurze Zeit bezogen hat, so daß es sich bei der Berechnung nach § 571 Abs. 1 RVO nicht auswirkt, ist eine anderweitige Feststellung nach § 577 RVO zu treffen (so auch Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, Anm. 1 zu § 577). Wie das BSG in seinem Urteil vom 31. Oktober 1968 (2 RU 139/67) ausgeführt hat, kann eine nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO zur Ausfüllung der Zeit ohne Arbeitseinkommen herangezogene gering bezahlte Tätigkeit bewirken, daß der JAV im Verhältnis zu einer hochbezahlten Arbeitsleistung im Zeitpunkt des Unfalls entsprechend niedrig ausfällt. Das Korrelat hierzu biete der umgekehrte Fall. Erhebliche Unbilligkeiten, die sich durch das Verdienstgefälle in der einen wie der anderen Richtung ergeben könnten, brauchten nicht in Kauf genommen zu werden, da dann im Rahmen des § 577 RVO geholfen werden könne.
Daraus folgt, daß stets dann, wenn ein erhebliches Gefälle zwischen dem letzten Arbeitseinkommen vor dem Arbeitsunfall und dem übrigen Einkommen während des letzten Jahres besteht und der Verletzte vor dem Arbeitsunfall einen deutlichen sozialen oder wirtschaftlichen Aufstieg erreicht hat, § 577 RVO anzuwenden ist, damit ihm diese berufliche Position bei der Rentenberechnung zugute kommt (so auch Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Teil 2, S. 130 zu § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F., a.A. Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 8.10.1969, L – 2 Ua 231/68, in dem die Revision zugelassen worden ist.) Einen solchen beruflichen Aufstieg, verbunden mit einem weit höheren Arbeitseinkommen als während der übrigen Zeit im letzten Jahr vor dem Unfall, hatte der Kläger seit dem 16. September 1966 erreicht. Er war offensichtlich in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) gekommen, weil es ihm in Spanien nicht möglich war, einen wenigstens einigermaßen auskömmlichen Lebensunterhalt zu verdienen.
Sein Arbeitseinkommen als Bauhilfearbeiter betrug dort nach der Bescheinigung seines letzten Arbeitgebers nämlich nur etwa 150,– DM monatlich, außerdem war er seit dem 10. Februar 1966 arbeitslos. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, daß er ohne den Arbeitsunfall noch vor Ablauf des bei Gastarbeitern in der Regel auf 1 Jahr abgeschlossenen Arbeitsvertrages nach Spanien zurückgekehrt wäre, es also zweifelhaft war, ob er vor dem Arbeitsunfall tatsächlich eine günstigere berufliche Position von einer gewissen Dauer erreicht hatte. Es ist nämlich gerichtsbekannt, daß die Löhne für Bauhilfsarbeiter in Spanien auch Mitte 1970 noch so niedrig lagen, daß dadurch soziale Unruhen unter den Bauarbeitern entstanden sind. Außerdem hatte der Kläger im O.-Wohnheim in R. eine Unterkunft gefunden, wie sich aus der Unfallanzeige ergibt, und erhielt einen über 6 × höheren Lohn als zuletzt in Spanien. Es ist daher festzustellen, daß der Kläger ohne den Arbeitsunfall mindestens bis September 1967 in Deutschland geblieben wäre. Es ist somit in erheblichem Maße unbillig, die jedenfalls nicht nur für eine sehr kurze Zeit angelegte berufliche Position des Klägers vor dem Arbeitsunfall bei der Berechnung des JAV unberücksichtigt zu lassen.
Offenbar sind die Ausführungen der Beklagten in ihrem letzten Schriftsatz vom 30. Januar 1967 dahin zu verstehen, daß sie die Anwendung des § 577 RVO verneint, weil nur von einer vorübergehenden Gastarbeitertätigkeit die Rede sein könne, welche nicht die Grundlage der normalen Lebenshaltung des Klägers gebildet habe. Dabei wird übersehen, daß diesem Gesichtspunkt dann keine Bedeutung zukommt, wenn ein Gastarbeiter nach 1-jähriger Beschäftigung in der BRD verunglückt, denn dann gilt als JAV sein – hohes – Einkommen in diesem Jahr auch dann, wenn bereits vor dem Unfall feststeht, daß er beabsichtigt, demnächst wieder in sein Heimatland zurückzukehren, das Einkommen in der BRD also nicht die Grundlage seiner normalen Lebenshaltung bildet. Legt man dem vorliegenden Fall die Rechtsauffassung der Beklagten zugrunde, so hat diese den JAV des Klägers nur deshalb gem. § 575 Abs. 1 Satz 1 RVO berechnet, weil er bereits vor Ablauf eines Jahres seit der Arbeitsaufnahme in der BRD verunglückt ist. Der erkennende Senat vertritt demgegenüber die Auffassung, daß der JAV im Falle des Klägers ebenso unter Anwendung des § 577 RVO festzustellen ist wie bei einem deutschen Arbeiter, dessen Arbeitseinkommen im letzten Jahr vor dem Unfall dem des Klägers entspricht. Das deutsch-spanische Sozialversicherungsabkommen vom 29. Oktober 1959 enthält auch den Grundsatz, daß die Staatsangehörigen der beiden Staaten bei der Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit einander gleich stehen.
Darüber, ob die besondere Situation des Klägers als Gastarbeiter gemäß § 577 RVO in den Grenzen des "billigen Ermessens” berücksichtigt werden kann, ist hier nicht zu befinden, weil eine solche Ermessensentscheidung der Beklagten noch nicht vorliegt.
Die Anwendung des Artikel 42 des Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Oktober 1959 zwischen der BRD und dem spanischen Staat über soziale Sicherung vom 16. Juni 1961, BGBl. Teil II, Nr. 29, S. 598, kann nicht dazu führen, daß der JAV des Klägers nur unter Zugrundelegung seines Arbeitseinkommens bei der Fa. A. AG festzustellen ist. Dort ist zwar bestimmt, daß dann, wenn nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates bei der Berechnung von Leistungen das durchschnittliche Arbeitsentgelt zugrunde gelegt wird, das die betreffende Person während bestimmter Zeiten bezogen hat, für die Berechnung der Leistungen nach diesen Vorschriften das durchschnittliche Arbeitsentgelt aufgrund der Entgelte festgestellt wird, welche die Person während der Zeiten bezogen hat, in denen sie den Rechtsvorschriften dieses Staates unterstellt war, und zwar ggf. bis zur Höhe des Entgeltes, für den Beiträge erhoben worden sind. Welche nach dem "durchschnittlichen Arbeitsentgelt” zu berechnenden Leistungen damit gemeint sind, ist diesem Gesetz nicht zu entnehmen. Vermutlich ist in erster Linie an die Berechnung des Grundlohnes in der Krankenversicherung gem. § 180 RVO gedacht. Die monatlich zahlbaren Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung werden zwar grundsätzlich nach dem "durchschnittlichen Arbeitsentgelt” berechnet, nämlich gem. § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO nach dem JAV als dem Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall. Jedoch enthalten die §§ 571 ff. RVO noch so zahlreiche weitere Bestimmungen über die Berechnung der Leistungen, daß Art. 42 a.a.O. hier nicht anzuwenden ist. Auch in Fällen wie dem vorliegenden würde der JAV eines spanischen Gastarbeiters dann nämlich nur nach dem Arbeitseinkommen in der BRD festzustellen sein, der JAV deutscher Arbeiter aber nach den Bestimmungen der §§ 571 ff. RVO, was zu einer erheblichen Schlechterstellung der deutschen Arbeitnehmer führen könnte. Vielmehr finden diese Vorschriften auf alle in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer Anwendung.
Die Beklagte hat daher den JAV des Klägers nunmehr unter Anwendung den § 577 RVO festzustellen. Sie wird dabei darüber zu befinden haben, ob sie der Berechnung des Klägers folgen oder davon nach unten oder oben abweichen will.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
2. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Verfahrenskosten zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1928 geborene Kläger ist spanischer Staatsangehöriger. Er erlitt am 4. November 1966 als Maschinenarbeiter bei der Fa. A. O. AG in H. einen Arbeitsunfall, bei dem er die Endglieder der Finger 2–4 der rechten Hand verlor. Mit Bescheid vom 12. Februar 1968 gewährte ihn die Beklagte für die Zeit vom 27. Dezember 1966 bis 4. April 1967 als vorläufige Rente eine Teilrente von 30 % der Vollrente und ab 5. April 1967 von 20 %. Dabei legte sie einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 4.770,– DM zugrunde, nämlich das 300-fache des Ortslohnes in Höhe von 15,90 DM, weil der nach § 571 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) errechnete Arbeitsverdienst des Klägers im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall nur 3.031,68 DM betragen habe. Der Kläger hatte im Unfallbetrieb ab 16. September 1966 gearbeitet und dabei 1.575,02 DM verdient. Zuvor war er zuletzt in Spanien als Bauhilfsarbeiter in der Zeit vom 4. November 1965 bis 9. Februar 1966 gegen ein Entgelt von umgerechnet 451,75 DM beschäftigt. Sein früherer spanischer Arbeitgeber teilte der Beklagten mit, der Kläger hätte in der Zeit vom 10. Februar bis 15. September 1966 bei ihm umgerechnet 1.004,91 DM verdient.
Gegen den Bescheid vom 12. Februar 1968 hat der Kläger Klage erhoben, die am 8. März 1968 bei der Beklagten und am 26. März 1969 beim Sozialgericht Darmstadt eingegangen ist und mit welcher er die Höhe der vorläufigen Rente und des JAV angegriffen hat.
Nachdem sich die Beklagte bereit erklärt hatte, dem Kläger in Abänderung des Bescheides vom 12. Februar 1968 für die Zeit vom 5. April bis 31. Oktober 1967 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 % zu gewähren, und mit Bescheid vom 27. Juni 1968 die Dauerrente nach einer MdE um 20 % festgestellt worden war, beantragte er nur noch den JAV mit 5.709,02 DM festzusetzen, und zwar unter Zugrundelegung des Verdienstes im Unfallbetrieb sowie des Ortslohnes für die restliche Zeit des letzten Jahres vor dem Arbeitsunfall.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 24. Juli 1969 abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht für die gesamte Zeit des Jahres vor dem Arbeitsunfall gem. § 575 Abs. 1 RVO das 300-fache des Ortslohnes der Rentenberechnung zugrunde gelegt. Der Kläger habe weder nach den deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommen noch nach § 577 RVO einen Anspruch auf Feststellung eines höheren JAV. Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.
Gegen das ihm am 2. August 1969 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26. August 1969 Berufung eingelegt. Er führt u.a. aus, das Sozialgericht habe die Bedeutung der in dem §§ 571, 575 und 577 RVO enthaltenen Bestimmungen verkannt. § 575 a.a.O. enthalte nur die absolute Mindestgrenze und sei in erster Linie als Begrenzung, nicht aber als Berechnungsvorschrift anzusehen. Das Sozialgericht habe auch verkannt, daß der JAV in seinem Fall gem. § 577 a.a.O. entsprechend seinen Fähigkeiten und seiner Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles höher festzusetzen sei, und zwar auf 5.709,02 DM (Verdienst während der 40 Tage im Unfallbetrieb zuzüglich des Ortslohnes während der übrigen Zeit im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall).
Er beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Juli 1969 sowie den Bescheid vom 12. Februar 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den JAV nach billigem Ermessen auf mindestens 5.709,02 DM festzusetzen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie führt u.a. aus, das Sozialgericht habe den Artikel 42 des deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommens richtig ausgelegt sowie mit Recht festgestellt, daß eine Anwendung der Bestimmung des § 577 RVO nicht erfolgen könne, weil die gem. §§ 571, 575 RVO erfolgte Berechnung des JAV nicht in erheblichen Maße unbillig sei.
Im übrigen wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakte Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG).
Entscheidungsgründe:
Die durch Zulassung statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.
Sie ist auch im wesentlichen begründet. Die Beklagte hat nämlich bei der – allein noch streitigen – Berechnung des der vorläufigen Rente sowie der Dauerrente zugrundeliegenden JAV zu Unrecht nur die Bestimmung des § 575 Abs. 1 RVO angewandt.
Die Beklagte hat zwar zunächst zutreffend ermittelt, welcher JAV sich nach § 571 Abs. 1 RVO für den Kläger errechnet. Da dieser nicht während des ganzen Jahres vor dem Arbeitsunfall, der ihm am 4. November 1966 zustieß, Arbeitseinkommen bezogen hat, scheidet zunächst die in Satz 1 enthaltene Bestimmung aus, wonach als JAV das Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall gilt. Da der Kläger aber im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall in der Zeit vom 4. November 1965 bis 9. Februar 1966 Arbeitseinkommen in Spanien erzielte, hat die Beklagte zu Recht geprüft, ob der JAV nach Satz 2 a.a.O. zu ermitteln ist. Nach dieser Vorschrift wird für Zeiten, in denen der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezog, das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, welche der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht, hier also das Arbeitseinkommen, das der Kläger in der Zeit vom 4. November 1965 bis 9. Februar 1966 bezog. Da der frühere spanische Arbeitgeber des Klägers der Beklagten auf Antrage mitteilte, daß der Kläger in dieser Zeit umgerechnet 451,75 DM verdiente und vom 10. Februar bis 15. September 1966 umgerechnet 1.004,91 DM verdient hätte, errechnet sich der gem. Satz 2 a.a.O. festzusetzende JAV unter Heranziehung des vom Kläger bei der Fa. A. AG erzielten Arbeitseinkommens mit 3.031,68 DM. Die Beklagte ist jedoch zu Recht davon ausgegangen, daß der JAV gem. § 575 Abs. 1 Satz 1 RVO mindestens das 300-fache des Ortslohnes, der zur Zeit des Arbeitsunfalles für den Beschäftigungsort festgesetzt ist, beträgt, d.h. im vorliegenden Fall 300 × 15,90 = 4.770,– DM.
Gleichwohl ist der angefochtene Bescheid, dem dieser JAV zugrunde liegt, rechtswidrig. Die Beklagte hat nämlich die Bestimmung des § 577 RVO nicht angewandt. Weder vor Erteilung des angefochtenen Bescheides noch auf das einschlägige Vorbringen des Klägers im Klageverfahren hat sie geprüft, ob der JAV aufgrund dieser Bestimmung höher festzustellen ist. In dieser Bestimmung heißt es aber ausdrücklich, daß der JAV in dort näher bezeichneter Weise festzustellen "ist”, wenn der nach den §§ 571–576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Den Trägern der Unfallversicherung ist also diese Feststellungspflicht als Mußvorschrift auferlegt. Bei dem Tatbestandsmerkmal "in erheblichem Masse unbillig” handelt es sich um einen sog. unbestimmten Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Sozialgerichte unterliegt. Lediglich die nach dieser Vorschrift vorgenommene Feststellung des JAV "nach billigem Ermessen” stellt eine Ermessensentscheidung dar, die zunächst gem. § 79 Nr. 1 SGG mit dem Widerspruch anzufechten ist. Im vorliegenden Falle war dagegen nur zu prüfen, ob der nach den §§ 571–576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig und die Beklagte daher zu verurteilen ist, den JAV nach billigem Ermessen höher festzustellen. Der erkennende Senat hat dies aus folgenden Gründen bejaht.
Die auf dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) beruhende Fassung des § 577 RVO hat die vorher geltende Bestimmung des § 566 RVO a.F. wesentlich erweitert. Nach der Begründung umfaßt sie sowohl die Fälle, in denen das Arbeitseinkommen aus besonderen Gründen zeitweilig so niedrig ist, daß es nicht als Grundlage der normalen Lebenshaltung des Verletzten und damit der Rentenberechnung angesehen werden kann, als auch Fälle, in denen das Entgelt den Wert der Arbeitsleistung bei weitem übersteigt und daher der Rentenberechnung nicht voll zugrunde gelegt werden kann (vgl. Bundestagsdrucksache IV/120 S. 175). Nach § 577 RVO ist nunmehr die Feststellung des JAV nach billigem Ermessen zwar in allen Fällen der Berechnung des JAV nach dem §§ 571–576 a.a.O. möglich, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß dieses "in erheblichem Maße” unbillig ist, was jeweils unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden muß (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 1–3 zu § 577 RVO). Seiner Natur nach stellt § 577 a.a.O. somit eine Ausnahmebestimmung dar, die nicht bei jeder Veränderung des Arbeitseinkommens während des Bemessungszeitraums zu berücksichtigen ist. Vielmehr können zur Auslegung dieser Bestimmung die Gedankengänge verwertet werden, welche zur Auslegung der Vorschrift des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. in dem Urteil des BSG vom 27. April 1969 (2 RU 191/56) enthalten sind. Danach war der grundlegende Gedanke des Gesetzgebers darauf gerichtet, den Verletzten einen sozialen oder wirtschaftlichen Aufstieg, den sie vor dem Versicherungsfall erreicht haben, in vollem Umfang zugute kommen zu lassen. Allerdings könne nicht jede finanzielle Verbesserung eines Arbeitnehmers, wenn sie in einer bloßen Lohnsteigerung bestehe, dazu führen, nur das zuletzt bezogene Arbeitsentgelt für die Berechnung des Durchschnittsverdienstes zu berücksichtigen, hingegen den vorher erzielten Verdienst außer acht zu lassen. Vielmehr müsse es sich bei der durch eine erweiternde Auslegung des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. möglichen Rechtswohltat um Fälle handeln, in denen der Versicherte im Laufe des Jahres vor dem Arbeitsunfall ein höheres Entgelt infolge seiner betrieblichen Stellung in dem Unternehmen erzielt habe. Das BSG hat in diesem Urteil aber auch zu erkennen gegeben, daß eine Härte für den Verletzten dadurch entstehen kann, daß er im Lauf des letzten Jahres vor dem Unfall in ein anderes Unternehmen mit günstigeren Verdienstverhältnissen übergewechselt ist. Die vom BSG nach § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. vorgenommene Berechnung ist nach dem Inkrafttreten des UVNG nicht mehr möglich, weil nunmehr grundsätzlich von dem Arbeitseinkommen im Jahre vor dem Arbeitsunfall auszugehen ist. In dem Fall, der dem BSG zur Entscheidung vorlag, müßte aber unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung nach neuem Recht eine Unbilligkeit in erheblichem Masse angenommen und der JAV nach § 577 RVO festgestellt werden (so auch RVO-Gesamtkommentar zu § 577 RVO). Jedenfalls in den Fällen, in denen der Verletzte im Laufe des letzten Jahres vor dem Unfall seine berufliche Stellung außergewöhnlich verbessern konnte, das höhere Entgelt aber wegen des Arbeitsunfalles nur kurze Zeit bezogen hat, so daß es sich bei der Berechnung nach § 571 Abs. 1 RVO nicht auswirkt, ist eine anderweitige Feststellung nach § 577 RVO zu treffen (so auch Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, Anm. 1 zu § 577). Wie das BSG in seinem Urteil vom 31. Oktober 1968 (2 RU 139/67) ausgeführt hat, kann eine nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO zur Ausfüllung der Zeit ohne Arbeitseinkommen herangezogene gering bezahlte Tätigkeit bewirken, daß der JAV im Verhältnis zu einer hochbezahlten Arbeitsleistung im Zeitpunkt des Unfalls entsprechend niedrig ausfällt. Das Korrelat hierzu biete der umgekehrte Fall. Erhebliche Unbilligkeiten, die sich durch das Verdienstgefälle in der einen wie der anderen Richtung ergeben könnten, brauchten nicht in Kauf genommen zu werden, da dann im Rahmen des § 577 RVO geholfen werden könne.
Daraus folgt, daß stets dann, wenn ein erhebliches Gefälle zwischen dem letzten Arbeitseinkommen vor dem Arbeitsunfall und dem übrigen Einkommen während des letzten Jahres besteht und der Verletzte vor dem Arbeitsunfall einen deutlichen sozialen oder wirtschaftlichen Aufstieg erreicht hat, § 577 RVO anzuwenden ist, damit ihm diese berufliche Position bei der Rentenberechnung zugute kommt (so auch Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Teil 2, S. 130 zu § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F., a.A. Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 8.10.1969, L – 2 Ua 231/68, in dem die Revision zugelassen worden ist.) Einen solchen beruflichen Aufstieg, verbunden mit einem weit höheren Arbeitseinkommen als während der übrigen Zeit im letzten Jahr vor dem Unfall, hatte der Kläger seit dem 16. September 1966 erreicht. Er war offensichtlich in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) gekommen, weil es ihm in Spanien nicht möglich war, einen wenigstens einigermaßen auskömmlichen Lebensunterhalt zu verdienen.
Sein Arbeitseinkommen als Bauhilfearbeiter betrug dort nach der Bescheinigung seines letzten Arbeitgebers nämlich nur etwa 150,– DM monatlich, außerdem war er seit dem 10. Februar 1966 arbeitslos. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, daß er ohne den Arbeitsunfall noch vor Ablauf des bei Gastarbeitern in der Regel auf 1 Jahr abgeschlossenen Arbeitsvertrages nach Spanien zurückgekehrt wäre, es also zweifelhaft war, ob er vor dem Arbeitsunfall tatsächlich eine günstigere berufliche Position von einer gewissen Dauer erreicht hatte. Es ist nämlich gerichtsbekannt, daß die Löhne für Bauhilfsarbeiter in Spanien auch Mitte 1970 noch so niedrig lagen, daß dadurch soziale Unruhen unter den Bauarbeitern entstanden sind. Außerdem hatte der Kläger im O.-Wohnheim in R. eine Unterkunft gefunden, wie sich aus der Unfallanzeige ergibt, und erhielt einen über 6 × höheren Lohn als zuletzt in Spanien. Es ist daher festzustellen, daß der Kläger ohne den Arbeitsunfall mindestens bis September 1967 in Deutschland geblieben wäre. Es ist somit in erheblichem Maße unbillig, die jedenfalls nicht nur für eine sehr kurze Zeit angelegte berufliche Position des Klägers vor dem Arbeitsunfall bei der Berechnung des JAV unberücksichtigt zu lassen.
Offenbar sind die Ausführungen der Beklagten in ihrem letzten Schriftsatz vom 30. Januar 1967 dahin zu verstehen, daß sie die Anwendung des § 577 RVO verneint, weil nur von einer vorübergehenden Gastarbeitertätigkeit die Rede sein könne, welche nicht die Grundlage der normalen Lebenshaltung des Klägers gebildet habe. Dabei wird übersehen, daß diesem Gesichtspunkt dann keine Bedeutung zukommt, wenn ein Gastarbeiter nach 1-jähriger Beschäftigung in der BRD verunglückt, denn dann gilt als JAV sein – hohes – Einkommen in diesem Jahr auch dann, wenn bereits vor dem Unfall feststeht, daß er beabsichtigt, demnächst wieder in sein Heimatland zurückzukehren, das Einkommen in der BRD also nicht die Grundlage seiner normalen Lebenshaltung bildet. Legt man dem vorliegenden Fall die Rechtsauffassung der Beklagten zugrunde, so hat diese den JAV des Klägers nur deshalb gem. § 575 Abs. 1 Satz 1 RVO berechnet, weil er bereits vor Ablauf eines Jahres seit der Arbeitsaufnahme in der BRD verunglückt ist. Der erkennende Senat vertritt demgegenüber die Auffassung, daß der JAV im Falle des Klägers ebenso unter Anwendung des § 577 RVO festzustellen ist wie bei einem deutschen Arbeiter, dessen Arbeitseinkommen im letzten Jahr vor dem Unfall dem des Klägers entspricht. Das deutsch-spanische Sozialversicherungsabkommen vom 29. Oktober 1959 enthält auch den Grundsatz, daß die Staatsangehörigen der beiden Staaten bei der Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit einander gleich stehen.
Darüber, ob die besondere Situation des Klägers als Gastarbeiter gemäß § 577 RVO in den Grenzen des "billigen Ermessens” berücksichtigt werden kann, ist hier nicht zu befinden, weil eine solche Ermessensentscheidung der Beklagten noch nicht vorliegt.
Die Anwendung des Artikel 42 des Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Oktober 1959 zwischen der BRD und dem spanischen Staat über soziale Sicherung vom 16. Juni 1961, BGBl. Teil II, Nr. 29, S. 598, kann nicht dazu führen, daß der JAV des Klägers nur unter Zugrundelegung seines Arbeitseinkommens bei der Fa. A. AG festzustellen ist. Dort ist zwar bestimmt, daß dann, wenn nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates bei der Berechnung von Leistungen das durchschnittliche Arbeitsentgelt zugrunde gelegt wird, das die betreffende Person während bestimmter Zeiten bezogen hat, für die Berechnung der Leistungen nach diesen Vorschriften das durchschnittliche Arbeitsentgelt aufgrund der Entgelte festgestellt wird, welche die Person während der Zeiten bezogen hat, in denen sie den Rechtsvorschriften dieses Staates unterstellt war, und zwar ggf. bis zur Höhe des Entgeltes, für den Beiträge erhoben worden sind. Welche nach dem "durchschnittlichen Arbeitsentgelt” zu berechnenden Leistungen damit gemeint sind, ist diesem Gesetz nicht zu entnehmen. Vermutlich ist in erster Linie an die Berechnung des Grundlohnes in der Krankenversicherung gem. § 180 RVO gedacht. Die monatlich zahlbaren Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung werden zwar grundsätzlich nach dem "durchschnittlichen Arbeitsentgelt” berechnet, nämlich gem. § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO nach dem JAV als dem Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahre vor dem Arbeitsunfall. Jedoch enthalten die §§ 571 ff. RVO noch so zahlreiche weitere Bestimmungen über die Berechnung der Leistungen, daß Art. 42 a.a.O. hier nicht anzuwenden ist. Auch in Fällen wie dem vorliegenden würde der JAV eines spanischen Gastarbeiters dann nämlich nur nach dem Arbeitseinkommen in der BRD festzustellen sein, der JAV deutscher Arbeiter aber nach den Bestimmungen der §§ 571 ff. RVO, was zu einer erheblichen Schlechterstellung der deutschen Arbeitnehmer führen könnte. Vielmehr finden diese Vorschriften auf alle in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer Anwendung.
Die Beklagte hat daher den JAV des Klägers nunmehr unter Anwendung den § 577 RVO festzustellen. Sie wird dabei darüber zu befinden haben, ob sie der Berechnung des Klägers folgen oder davon nach unten oder oben abweichen will.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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