L 3 U 1227/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 1227/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Kommt ein Verletzter vor der ersten Rentenfeststellung einer Untersuchungsaufforderung nicht nach, so kann Verletztenrente nicht gem. § 624 RVO versagt werden. Vielmehr hat der Versicherungsträger nach Aktenlage über die Gewährung von Leistungen zu entscheiden, wobei der Verletzte sich hieraus ergebende Nachteile zu tragen hat.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. November 1970 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger war Gesellschaft und Geschäftsführer eines Bauunternehmers in L ... Am 10. Juli 1968 erlitt er einen Verkehrsunfall, bei dem er sich u.a. einen schwere Unfallschock, eine Thoraxkontusion mit Rippenbrüchen sowie eine schwere Quetschung des rechten Kniegelenkes mit einem Trümmerbruch der Patella und einer Gelenkseröffnung zuzog. Nach seinen Angaben befand er sich auf einer Geschäftsreise. Er wurde in das M.hospital H. aufgenommen und dort bis zum 24. Juli 1968 stationär behandelt. Am Abend dieses Tages verließ er eigenmächtig das Hospital und wurde kurz danach im Krankenhaus L. weiterbehandelt. Nach Krankheitsberichten des Facharztes für Chirurgie Dr. med. T., L., vom 17. September und 21. Oktober 1968 waren die Beweglichkeit des rechten Kniegelenkes und die Belastbarkeit des rechten Beines noch eingeschränkt. Dieser Arzt teilte der Beklagten dann am 26. Februar 1969 mit, die chirurgisch festgestellten Unfallfolgen dürften eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 bis 30 % bedingen. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. H., G., vertrat in einen für die Beklagte am 3. Februar 1969 erstatteten Gutachten die Auffassung, der Unfall habe zu einer Contusio cerebri geführt, eine Hirndauerschädigung sei wahrscheinlich. Die hierdurch bedingte MdE betrage für die Dauer eines halben Jahres 70 %.

Die Beklagte gewährte dem Kläger im Anschluß an die Heilanstaltspflege für die Zeit vom 21. August 1968 bis 8. März 1969 Verletztengeld, das sie jedoch gegen eine Beitragsforderung aufrechnete. Am 9. Juni 1969 beauftragte sie den Chefarzt der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. mit der Erstattung eines chirurgischen Gutachtens unter Beiziehung eines neurologischen Zusatzgutachtens. Diese Klinik teilte der Beklagten am 11. Juli 1969 mit, der Kläger sei trotz zweimaliger Aufforderung nicht zur Untersuchung erschienen. Die Beklagte machte den Kläger am 16. Juli 1969 darauf aufmerksam, daß gem. § 624 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Leistungen ganz oder teilweise versagen könne, wenn er ohne triftigen Grund nicht zur Untersuchung erscheine. Nach Mitteilung der Unfallklinik vom 31. Juli 1969 kam der Kläger auch einer nochmaligen Untersuchungsaufforderung nicht nach. Im Auftrag der Beklagten erstatteten der Chefarzt der Unfallklinik Dr. A. und Dr. B.-T. daraufhin am 3. November 1969 ein Gutachten nach Aktenlage, demzufolge durch die unfallbedingten Gesundheitsstörungen auf chirurgischem Fachgebiet ab 1. Januar 1969 noch eine MdE um 20 % bedingt wird. In einem ebenfalls nach Aktenlage erstatteten Zusatzgutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. S., M., vom 24. Oktober 1969 wurde die Auffassung vertreten, das Gutachten des Dr. med. H. reiche für die Anerkennung einer Contusio cerebri nicht aus. Es müsse zunächst noch eine stationäre Untersuchung in eine neurologisch-psychiatrischen Abteilung stattfinden.

Mit Bescheid vom 20. Januar 1970 hat die Beklagte die Gewährung von Verletztenrente unter Bezugnahme auf § 624 RVO abgelehnt. Aus der beharrlichen Weigerung des Klägers, sich untersuchen zu lassen, werde der für ihn ungünstige Schluß gezogen, daß die durch den Unfall erlittenen Verletzungen eine MdE ab 9. März 1969, dem Tag es Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit, nicht hinterlassen hätten. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 23. Februar 1970 beim Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben, sie jedoch nicht begründet. In dem auf den 12. November 1970 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung ist der Kläger ohne Angabe von Gründen nicht erschienen. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom selben Tage abgewiesen. Durch das Verhalten des Klägers im Klageverfahren werde der angefochtene Bescheid zusätzlich gerechtfertigt.

Gegen das ihm am 13. Dezember 1970 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. Dezember 1970 Berufung eingelegt, er trägt u.a. vor, er leide noch erheblich an den Unfallfolgen und könne keiner geregelten Tätigkeit nachgehen. Seine Gehirndecke sei bis heute noch nicht geschlossen. Einen bestimmten Antrag hat er nicht gestellt.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils.

Im übrigen wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte auf Antrag der Beklagten in Abwesenheit des Klägers nach Aktenlage entscheiden, da ihm Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung mittels Einschreibebriefes mitgeteilt wurden und er darauf hingewiesen worden ist, daß im Falle seines Ausbleibens nach Lage der Akten entscheiden werden kann (§ 126 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG.

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 20. Januar 1970, mit welchem die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung für die Zeit ab 9. März 1969 abgelehnt hat, ist im Ergebnis zu Recht ergangen.

Zwar vermochte sich der erkennende Senat nicht der Auffassung der Beklagten anzuschließen, daß hier ein Anwendungsfall des § 624 RVO vorliegt. Nach dieser Bestimmung können die Leistungen ganz oder teilweise versagt werden, wenn sich ein Verletzter ohne triftigen Grund u.a. einer Nachuntersuchung entzieht, sofern er auf diese Folgen vorher schriftlich hingewiesen worden ist. Nachuntersuchungen finden nämlich im wesentlichen statt um festzustellen, ob sich der Zustand von Unfallfolgen geändert hat, z.B. zum Zwecke der Neufeststellung von Leistungen gem. § 622 Abs. 1 RVO, bzw., ob weitere Heilmaßnahmen mit dem Ziel einer wesentlichen Besserung des Gesundheitszustandes angezeigt sind (vgl. Lauterbach, Komm. zur Unfallversicherung, Anm. 8 zu § 624). Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um die für die Gewährung von Verletztenrente erforderliche erstmalige Feststellung des Vorhandenseins von Unfallfolgen und des dadurch bedingten Grades der Erwerbsminderung. Hierbei hat der Kläger mitzuwirken, da er einen Anspruch auf Verletztenrente gegen die Beklagte geltend macht wenn er eine Untersuchung verweigert und der Sachverhalt nicht auf andere Weise festgestellt werden kann, hat er nach dem in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Grundsatz der objektiven Beweis- und Feststellungslast den sich hieraus ergebenden Nachteil zu tragen (BSG 6, 70). Es handelt sich hier somit nicht um den Tatbestand des § 624 RVO, wie die Beklagte und offenbar auch das Sozialgericht meinen, wonach es in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt wird, in den dort bestimmten Fällen Leistungen zu versagen, sondern um die davon unabhängige allgemeine Verpflichtung eines Versicherten, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, hat der Versicherungsträger zu prüfen, ob er die Leistung auch ohne dessen Mitwirkung auf andere Weise feststellen kann, z.B. durch eine Begutachtung nach Aktenlage. Es ist daher zu prüfen, ob die Voraussetzungen für Versicherungsleistungen als Rechtsanspruch gegeben sind. Eine von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur im Rahmen des § 54 Abs. 2 SGG nachprüfbare Ermessensentscheidung der Beklagten liegt insoweit nicht vor, vielmehr ist der Anspruch des Klägers auf Verletztenrente in vollem Umfang Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung.

Nachdem der Kläger wiederholten Aufforderungen der Beklagten und der von ihr mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragten Unfallklinik L., sich zu einer Untersuchung einzufinden, ohne Angabe von Gründe nicht nachgekommen war und sodann eine Begutachtung nach Aktenlage durchgeführt worden ist, hatte die Beklagte somit auf Grund der vorliegenden Gutachten und anderen ärztlichen Feststellungen zu entscheiden, ob und inwieweit dem Kläger Verletztenrente zusteht, und zwar ab 9. März 1969, dem Tage des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit, was von ihr zu Unrecht unterlassen worden ist.

Dem Aktengutachten der Unfallklinik L. vom 3. November 1969 zufolge die unfallbedingte MdE auf chirurgischem Fachgebiet ab 1. Januar 1969 20 %. Der letzte ärztliche Krankheitsbericht stammt von dem Facharzt für Chirurgie Dr. T. L., und ist am 21. Oktober 1968 erstattet worden. Damals war die Belastbarkeit des rechten Beines eingeschränkt und es wurde zu Gehen noch ein Stock benutzt, nach einer weiteren Stellungnahme dieses Arztes vom 26. Februar 1969 betrug die MdE auf chirurgischem Fachgebiet 20 bis 30 %. Für welchen Zeitraum insoweit noch eine MdE in renteberechtigendem Grade bestanden hat, kann jedoch nicht festgestellt werden. Die in dem Aktengutachten vom 3. November 1969 vertretene Ansicht, die MdE betrage auch im Zeitpunkt der Erstattung des Gutachtens noch 20 %, ist nicht begründet worden. Möglicherweise war ein rentenberechtigender MdE-Grad auf chirurgischem Fachgebiet bereits ab 8. März 1969 nicht mehr vorhanden oder nur noch für einen kurzen Zeitraum danach, der aber nicht mehr bestimmt werden kann, weil der Kläger einer im Juni 1969 und später noch mehrmals erfolgten Aufforderung, sich untersuchen zu lassen, nicht nachgekommen ist, die Beklagte hat somit eine Rentengewährung wegen der auf chirurgischem Fachgebiet bestehenden Unfallfolgen ab 9. März 969 im Ergebnis zu Recht versagt. Es kann nicht wahrscheinlich gemacht werden, daß die Voraussetzungen hierfür vorlagen.

Das gilt auch für die Unfallfolgen auf neurologischem Fachgebiet. Der Kläger wurde am 15. November 1968 von dem Neurologen Dr. H., G. ambulant untersucht, der die MdE für das nächste halbe Jahr mit 70 % bewertete. Die Beklagte versuchte, auch insoweit ein neues Gutachten einzuholen, das aber ebenfalls nur in Form eines Aktengutachtens von dem Nervenfacharzt Dr. med. S. am 24. Oktober 1969 erstattet werden konnte, weil sich der Kläger nicht zu einer Untersuchung einfand. Dieser Gutachter weist darauf hin, daß Dr. med. H. sein Gutachten ohne Kenntnis der Unfallakte erstattete und vertritt die Auffassung, es befänden sich in dieser Akte widersprechende Angaben bezüglich der unmittelbaren Unfallfolgen. Eine Contusio cerebri könne anhand der Akten nicht wahrscheinlich gemacht werden, es sei hierzu noch eine stationäre mehrtägige Untersuchung erforderlich.

Nach alledem kann es auf Grund des Akteninhaltes nicht wahrscheinlich gemacht werden, daß dem Kläger ab 9. März 1969 Verletztenrente zusteht, so daß der angefochtene Bescheid im Ergebnis zu Recht ergangen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved