L 3 U 923/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 923/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Grundsatz, daß Rechtsmittelinstanzen bei der Schätzung der MdE nicht um nur 5 % von der Feststellung der Vorinstanz abweichen dürfen, gilt nicht für die erstmalige Feststellung der Dauerrente.
Auch die Unfallversicherungsträger dürfen hierbei um 5 % abweichen.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgericht Frankfurt a.M. vom 29. Juni 1973 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung der Dauerrente.

Der 1912 geborene Kläger ist Rechtshänder und von Beruf Schreiner. Am 7. Oktober 1970 erlitt er bei der Arbeit eine Kreissägenverletzung am Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Nach dem Durchgangsarztbericht des Dr. E. vom Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus F. – BGUKH – vom gleichen Tage mußte der in der Mitte des Grundgliedes durchtrennte Zeigefinger teilamputiert werden. Es fand sich ferner ein Gewebsverlust sowie ein Trümmerbruch des Daumengrundgliedes links. Im Anschluß an eine Gesamtvergütung gewährte die Beklagte unter Berufung auf das erste Rentengutachten des Dr. H. (BGUKH) vom 1. September 1971 wegen des Verlustes des linken Zeigefingers im Grundglied mit mäßigen Gefühlsstörungen des Endgliedes des Daumens und dessen Bewegungsbehinderung im Endgelenk eine vorläufige Verletztenrente bei einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit –MdE– um 20 v.H. Dr. H. hatte hierbei u.a. auf folgendes hingewiesen: Die Sensibilitätsverhältnisse am linken Daumen seien noch nicht gebessert. Sie bedingten zusammen mit den anderen Verletzungen vorläufig einen Grad der MdE um 20 v.H. Für die Dauer sei der Kläger aber keineswegs schlechter gestellt als mit dem völligen Verlust des Zeigefingers und dem Endgliedverlust des Daumens der linken Hand, was im allgemeinen mit einer MdE um 15 % bewertet werde.

Am 7. August 1972 ließ die Beklagte den Kläger durch Dr. Sch. vor BGUKH nachuntersuchen und begutachten. In seinem Gutachten vom gleichen Tage schätzte er den Grad der MdE mit 15 % ein. Er führte aus: Der Kläger müsse für die erstmalige Feststellung der Dauerrente so eingeschätzt werden, als ob er sein linkes Daumenglied und den gesamten linken Zeigefinger verloren hätte. Nach den allgemeingültigen Rententabellen werde für die linke Hand bei einem Rechtshänder eine MdE um 15 v.H. angenommen. Der Kläger sei jedoch trotz der bestehenden Gefühlsstörungen auf der Greifseite des erhaltenen Daumenendgliedes besser gestellt, als wenn das Daumenendglied verloren gegangen wäre.

Demgemäß entzog die Beklagte mit Bescheid vom 7. September 1972 die bisher gewährte vorläufige Verletztenrente unter gleichzeitiger Ablehnung der Gewährung einer Dauerrente mit Ablauf des Monats Oktober 1972.

Gegen diesen am gleichen Tage per Einschreiben abgesandten Bescheid hat der Kläger am 4. Oktober 1972 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main –SG– Klage erhoben und geltend gemacht: Die Narben seien überempfindlich. Er könne bei der Arbeit weder schwere Gegenstände halten noch kleine Schrauben und Nägel fassen, so daß der Grad der MdE der Unfallfolgen mindestens 20 v.H. ausmache.

Das SG hat mit Urteil vom 29. Juni 1973 die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. November 1972 eine Dauerrente bei einem Grad der MdE um 20 v.H. zu gewähren. Es hat ausgeführt: Die von der Beklagten eingenommene Einschätzung der MdE sei zu schematisch. Der Kläger sei nicht nur im Umfassungsbegriff behindert sondern zusätzlich durch Schmerzen beim festen Zugriff an der Narbe am linken Daumen sowie bei Feinarbeiten wegen des Fehlens des Feingefühls in der Daumenkuppe. Er schone deshalb auch seine linke Hand, worauf die geringere Beschwielung gegenüber rechts hindeute. Im übrigen müsse berücksichtigt werden, daß gegenüber früher zunehmend aufgrund der veränderten Arbeitsbedingungen im allgemeinen Erwerbsleben eine größere Handgeschicklichkeit verlangt werde.

Gegen das ihr am 29. August 1973 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. September 1973 Berufung eingelegt. Sie beruft sich auf ihr bisheriges Vorbringen, insbesondere auf das Gutachten des Dr. Sch. vom 7. August 1972.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 29. Juni 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Es ist durch Vernehmung des Facharztes für Orthopädie Dr. B., D., als Sachverständigen von Amts wegen Beweis darüber erhoben worden, ob und welchen Grad der MdE die Folgen des Arbeitsunfalls des Klägers vom 7. Oktober 1970 ab 1. November 1972 bedingen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 23. Januar 1974 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Das SG hat auf die zulässige Klage zu Unrecht den angefochtenen Bescheid, mit dem die Beklagte erstmalig die (negative) Dauerrente festgestellt hat, aufgehoben; er ist nämlich nicht rechtswidrig. Gemäß § 1585 Abs. 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung –RVO– setzt diese Feststellung eine Änderung der Verhältnisse nicht voraus, so daß es insbesondere keines Besserungsnachweises bedarf. Vielmehr ist der Grad der MdE frei einzuschätzen. Hierzu ist auf Grund der im Verwaltungs- und Berufungsverfahren vorgenommenen Begutachtungen festzustellen, daß die Unfallfolgen nach Ablauf des zweiten Unfalljahres nicht mehr einen rentenberechtigenden Grad der MdE von mindestens 20 v.H. (§ 581 Abs. 1 RVO) sondern nur noch einen solchen von 15 v.H. erreichen.

Der Kläger ist Rechtshänder. Nach dem Gutachten des Dr. Sch. vom 7. August 1972 bestehen die Unfallfolgen in dem Verlust des Zeigefingers im körpernahem Grundglieddrittel bei guter Weichteilpolsterung des Amputationsstumpfes, einer Gefühlsstörung auf der Greifseite des Endgliedes am linken Daumen, einer Berührungsempfindlichkeit einer in der Endgelenkbeugefalte des Daumens liegenden Narbe, einer Beugebehinderung des linken Daumenendgelenkes, einer Minderbeschwielung der linken Hohlhand auf der daumenwärtigen Seite sowie glaubhaften subjektiven Beschwerden. Diesen Unfallfolgezustand hat auch der vom Senat gehörte Sachverständige Dr. B. der die von Dr. Sch. erhobenen Befunde bei seiner Untersuchung bestätigt sah, beschrieben. Beide Ärzte sind sich auch in der Bewertung der Unfallfolgen im Hinblick auf die verbliebene Funktionstüchtigkeit der betroffenen linken Hand einig. Es entspricht den langjährigen Erfahrungen des Senates, wenn diese Ärzte zur Einschätzung der MdE als Vergleichsmaßstab den Verlust des gesamten Zeigefingers und des Daumenendgelenkes (vgl. Günther-Hymmen, Unfallbegutachtung, 5. Aufl., 1968, Abbildung 82 der Tafel VII) oder des Verlustes des linken Daumens (vgl. Günther-Hymmen, Abb. 32 a.a.O.), die jeweils bei einem Rechtshänder eine MdE von 20 v.H. und bei einem Linkshänder eine solche von 15 v.H. auf Dauer bedingen, heranziehen. Nicht nur rein anatomisch, sondern auch von der verbliebenen Funktion her gesehen, ist der Kläger insoweit ungleich günstiger gestellt. Es besteht eine bessere Greiffähigkeit. Mit dem zu einem Drittel noch vorhandenen Zeigefingergrundglied kann ein deutlich vergrößertes Widerlager der Hohlhand gebildet werden, als dies beim völligen Verlust des Zeigefingers sonst möglich wäre. Der Stumpf läßt sich bei der Streckung voll in die Fingerfläche eingliedern. Eine Beugekontraktur, die den Kläger beim Greifen erheblich beeinträchtigen würde, besteht nicht.

Andererseits ist die Gebrauchsfähigkeit der linken Hand durch die Sensibilitätsverhältnisse am linken Daumen deutlich gemindert. Die vom Kläger hierzu angegebenen Beschwerden und Beeinträchtigungen, insbesondere bezüglich des Feingefühls, rechtfertigen die von Dr. Sch. und von Dr. B. übereinstimmend vorgenommene Einschätzung der MdE mit insgesamt 15 v.H. Hiervon abzuweichen hat der Senat auf Grund der objektiven Befunde keine Veranlassung.

Es kann auch nicht, wie das SG meint, bei der Bildung der MdE durch die Beklagte eine zu schematische Betrachtungsweise unter Anwendung von Hundertsätzen, "wie sie um die Jahrhundertwende gegolten haben”, bei nicht ausreichender Berücksichtigung der Arbeitsverhältnisse des Arbeitsmarktes seit 1950 festgestellt werden. Einerseits weist das Gutachten des Dr. Sch., das von dem vom Senat gehörten Sachverständigen Dr. B. in Befunderhebung und Beurteilung bestätigt worden ist, eingehende Überlegungen zur verbliebenen Funktionstüchtigkeit der linken Hand auf Grund des Unfallfolgezustandes aus. Die von diesem Arzt angewandten Rententabellen nach Günther-Hymmen (a.a.O.) sind nicht schematisch, also rein vom anatomisch bedingten Funktionsverlust fehlender Gliedmaßen her gesehen, angewendet worden. Vielmehr haben beide Ärzte bei der Einschätzung des Unfallfolgezustandes glaubhafte subjektive Beschwerden und Sensibilitätsstörungen berücksichtigt. Damit sind die von Günther und Hymmen aufgestellten MdE-Sätze nur als Anhaltspunkte bei der Beurteilung des hiesigen Falles herangezogen worden. Die Berechtigung solcher MdE-Sätze ist aus der Notwendigkeit herzuleiten, eine möglichst gerechte und gleichmäßige Bewertung der Unfallfolgen bei allen Verletzten sicherzustellen.

Andererseits sind mit dieser Einschätzung auch die Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes berücksichtigt worden. Hierzu hat in diesem Sinn der Senat bereits in seinem –auch dem SG bekannten – Urteil vom 7. Februar 1973 (L-3/U – 410/72) Stellung genommen. Entgegen der Auffassung des SG ist es in der Rechtsprechung und in der maßgeblichen Literatur zum Recht der gesetzlichen Unfallversicherung völlig unstreitig, daß bei der Einschätzung des Grades der MdE nicht die Hundertsätze, wie sie um die Jahrhundertwende gegolten haben, maßgeblich heranzuziehen sind. Dies ist eine Selbstverständlichkeit. Zwar wird im Schrifttum vereinzelt kritisiert, daß bei der Einschätzung des Grades der MdE in privaten Zusammenstellungen von MdE-Sätzen, z.B. von Liniger-Molineus, schwarz-weiß schematisch dargestellte Zeichnungen zu sehr von einer meßbaren anatomischen Betrachtungsweise ausgehen, ohne daß die Struktur des derzeitigen Arbeitsmarktes nach einer Analyse der modernen Anforderungen an die Arbeitskraft beziehungsweise die Leistungsfähigkeit des Menschen berücksichtigt würden (vgl. Krösl und Zrubecky "Arbeitsunfall und Begutachtung”, erschienen im Ferdinand Enke Verlag und rezensiert von Gruss in Soz Sich. 1971 S. 220 f.). Nach Auffassung des Senats ist diese Kritik jedoch unberechtigt, denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, und der im Schrifttum herrschenden Auffassung hat die Festsetzung der MdE unter Berücksichtigung des jeweils vorhandenen Arbeitsmarktes zu erfolgen (vgl. z.B. BSG E 1 S. 174 ff.; Lauterbach Unfallversicherung, 3. Auflage, Anm. 5 d, 8 c, d zu § 581 RVO, Anm. 10 zu § 556 RVO).

Wenn das SG meint, die seit 1950 eingetretene Entwicklung des Arbeitsmarktes, die unter anderem darin bestehe, daß sich wegen der zunehmenden Automatisation die Anforderungen an die Hand in Bezug auf die grobe Kraft verringert, auf die Geschicklichkeit aber erhöht hätten und die Zahl der Angestellten –also der Nichthandarbeiter– fortgesetzt vermehrt habe, so deutet dies auf die Anwendung einer konkreten Schadensbemessung hin. Gleichzeitig wird das Ziel erkennbar, ganz allgemein Unfallfolgen an der Hand höher zu bewerten als bisher. Damit verstößt das SG aber gegen den im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatz des abstrakten Schadensersatzes nach § 581 Abs. 1 RVO (Lauterbach a.a.O. Anm. 3 zu § 537 RVO, Anm. 9 zu § 581 RVO jeweils mit weiteren Hinweisen).

Das angefochtene Urteil läßt auch nicht erkennen, in welchem Umfang und in welcher Art der angeblich veränderte Arbeitsmarkt eine von der bisherigen Handhabung abweichenden Beurteilungen bei der Bildung der MdE erfordern soll. Der Sache nach – wenn auch unbewußt – stellt das SG insoweit Erwägungen an, die allenfalls nach § 581 Abs. 2 RVO zu einer Erhöhung der MdE führen können. Das ist aber nur dann möglich, wenn der Verletzte bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalles nicht mehr und nur im verminderten Umfange nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor und werden vom Kläger selbst nicht behauptet. Er ist nach wie vor an seinem Arbeitsplatz in seinem Beruf tätig und hat keine Lohneinbuße. Es ist nicht ersichtlich, wodurch der Kläger zur Zeit in besonderem Maße in der Nutzung seiner beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten beeinträchtigt sein soll.

Steht nach alledem fest, daß nach § 581 Abs. 1 und 2 RVO die von der Beklagten aus Anlaß der erstmaligen Feststellung der Dauerrente getroffene Einschätzung der MdE in Höhe von 15 v.H. zutreffend ist, so war, was das SG übersehen hat, noch zu prüfen, ob hier die Dauerrente versagt werden durfte, da gegenüber der gewährten vorläufigen Verletztenrente lediglich eine Abweichung in der MdE um 5 v.H. vorliegt.

Wie sich aus den Akten ergibt, hat Dr. H. in dem für die Gewährung der vorläufigen Verletztenrente maßgeblichen Gutachten, in dem er die MdE vorläufig auf 20 v.H. einschätzte, darauf hingewiesen, daß die Unfallfolgen auf Dauer mit 15 v.H. bewertet werden müßten, da der Kläger keineswegs schlechter gestellt sei, als wenn er den völligen Verlust des Zeigefingers und des Endgliedes des Daumens der linken Hand zu beklagen hätte. Sowohl Dr. Sch. als auch Dr. B. haben im Vergleich zu diesem Gutachten keine wesentlich unterschiedlichen Befunde erheben können. Bei dieser Sachlage liegt also – medizinisch gesehen – eine abweichende Bewertung um nur 5 v.H. vor.

Indessen rechtfertigt es dieser Umstand nicht, den angefochtenen Bescheid aufzuheben. Zwar hat der 2. Senat des BSG ausgesprochen, daß ein Abweichen in der Bewertung der MdE um nur 5 v.H. nicht statthaft ist, weil ein solcher Unterschied medizinisch und wirtschaftlich nicht meßbar sei und diese Abweichung innerhalb der Schwankungsbreite auf Grund der natürlichen Fehlergrenze in der Feststellung der Unfallfolgen durch die Ärzte liege. Diese Rechtsprechung ist jedoch nur für die Fälle der Änderung der Dauerrente ergangen, in denen gemäß § 622 Abs. 1 RVO eine wesentliche Änderung der Verhältnisse nachgewiesen werden muß (vgl. Urteil vom 2.3.1971, 2 RU 39/70). Dies ergibt sich auch aus dem in diesem Urteil gezogenen Vergleich zu der gleichgelagerten Problematik im Recht der Kriegsopferversorgung. Nach der zu § 62 Abs. 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz ergangenen Rechtsprechung der Kriegsopfersenate des BSG wird für die Annahme einer wesentlichen Änderung wenigstens das Abweichen in der MdE für die Schädigungsfolgen um 10 v.H. gefordert (vgl. BSGE 23 S. 192; SozR. Nr. 35 zu § 62 BVG; Nr. 3 Satz 1 VV zu § 62 BVG).

Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, weil es sich um die erstmalige Feststellung der Dauerrente handelt, die nach § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO keine Änderung der Verhältnisse voraussetzt. Das bedeutet, daß die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hierbei in der Bewertung der MdE von den vorausgegangenen Feststellungen unabhängig sind. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist es, sicherzustellen, daß im Interesse der Verletzten bereits vor der endgültigen Klärung des Krankheitsbildes eine vorläufige Rente festgestellt, jedoch vor Ablauf der 2-Jahresfrist nach dem Unfall ohne Nachweis einer Besserung wieder entzogen werden kann. Hiermit wäre es unvereinbar zu verlangen, daß der Grad der MdE um mehr als 5 v.H. gesunken sein muß. Nach den Erfahrungen des Senates machen die Unfallversicherungsträger von dieser Möglichkeit oft Gebrauch, um einen Zustand der Gewöhnung und Anpassung an die Unfallfolgen abzuwarten. Dem würde mit der Forderung nach einer Besserung des Unfallfolgezustandes um mehr als 5 v.H. zum Nachteil der Versicherten entgegen gewirkt.

Hierfür ist der zu entscheidende Fall geradezu exemplarisch. Die Unfallfolgen beeinträchtigen den Kläger zwar nicht unwesentlich, aber nicht in einem solchen Maße, daß ihm – wie dargetan – auf Dauer wenigstens die Mindestrente zu gewähren wäre. Es kann offenbleiben, ob aus prognostischer Sicht die Unfallfolgen einen solchen Grad der MdE im Anschluß an die Gesamtvergütung bei der Feststellung der vorläufigen Rente bedungen haben. Der Handchirurg Dr. H. hat jedenfalls in seinem Gutachten vom 1. September 1971 bereits darauf hingewiesen, daß sie auf Dauer allenfalls eine MdE um 15 v.H. bedingen; nur vorläufig sei eine solche um 20 v.H. anzunehmen. Diese Beurteilung ist zwar nicht ausdrücklich aber doch offensichtlich zu Gunsten des Klägers im Hinblick auf die gesetzliche Regelung in § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO abgegeben worden. Sie läßt erkennen, daß der Gutachter die MdE auf 15 v.H. geschätzt haben würde, wenn sofort die Dauerrente festzustellen gewesen wäre. Er hat damit den Bedürfnissen des Klägers an eine gewisse Eingewöhnung Rechnung getragen.

Das LSG Baden-Württemberg scheint zwar in seinem Urteil vom 21. Mai 1973 (Breithaupt 1973 S. 891 ff.) dem vorausgestellten Leitsatz zufolge die Ansicht zu vertreten, der Grundsatz, daß Rechtsmittelinstanzen bei der Schätzung der MdE nicht um nur 5 v.H. von der Feststellung der Vorinstanz abweichen dürfen, gelte auch für die erstmalige Feststellung der Dauerrente. Jedoch ist dies nicht begründet worden. Ob auch der 8. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29. November 1973, 8/2 RU 171/72, dieser Auffassung ist, erscheint zweifelhaft. Dort heißt es in diesem Zusammenhang nur, wenn das Sozialgericht bei der erstmaligen Feststellung der Dauerrente eine MdE um 45 v.H. zum Inhalt seiner Entscheidung habe machen wollen, so wäre es unzulässigerweise um 5 v.H. von der Schätzung durch die Vorinstanzen abgewichen. Zur Begründung ist lediglich auf BSG in SozR. Nr. 3 zu § 559 a RVO a.F. und BSGE 32, 245, 246/247 Bezug genommen worden. Die erstere Entscheidung stammt vom 29. November 1956, 2 RU 126/54, und ist durch die weiter zitierte Entscheidung des BSG im 32. Band vom 2. März 1971, 2 RU 39/70 überholt. Letztere aber bezieht sich eindeutig nur auf die Bestimmung des § 622 Abs. 1 RVO, worauf bereits oben hingewiesen worden ist. Es kann daher nicht festgestellt werden, daß der 8. Senat bewußt die Auffassung vertritt, eine Abweichung von der MdE um nur 5 % sei auch bei der erstmaligen Feststellung der Dauerrente unzulässig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Da der Senat nicht erkennbar von einer Entscheidung des BSG abgewichen ist, bedurfte es der Zulassung der Revision nicht.
Rechtskraft
Aus
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