L 2 P 18/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 P 59/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 18/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16. März 2006 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III ab 1. Mai 2005.

Bei der 1929 geborenen Klägerin bestehen ein Zustand nach Hüft-Totalendoprothese (TEP) beidseits bzw. nach Hüft-TEP-Entfernung rechts nach Infektion (März 2005), Zustand nach Knie-TEP rechts, Polyarthrosen mit Bewegungseinschränkungen bzw. Immobilität, eine komplette Harn- und Stuhlinkontinenz, eine Osteoporose, ein Diabetes mellitus sowie ein Zustand nach cerebraler Durchblutungsstörung. Sie bezog seit Oktober 2000 Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II und beantragte am 18. Mai 2005 eine Höherstufung. Seit 25. Oktober 2006 gewährt die Beklagte der Klägerin Leistungen der Pflegestufe II für stationäre Pflege.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK in Bayern vom 21. Juni 2005 nach Hausbesuch ein. Der MDK errechnete einen Zeitbedarf für den Bereich Grundpflege in Höhe von 184 Minuten pro Tag (Körperpflege 87 Minuten, Ernährung 70 Minuten, Mobilität 27 Minuten), für hauswirtschaftliche Versorgung von 60 Minuten pro Tag. Bei den grundpflegerischen Verrichtungen habe der Hilfebedarf nicht zugenommen.

Mit Bescheid vom 23. Juni 2005 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte sie eine erneute Stellungnahme des MDK vom 7. September 2005 nach Hausbesuch ein. Der Zeitbedarf für die Grundpflege wurde danach mit 200 Minuten (Körperpflege 101 Minuten, Ernährung 75 Minuten, Mobilität 24 Minuten) eingeschätzt, für hauswirtschaftliche Versorgung mit 60 Minuten. Unterstellt worden sei ein notwendiger Windelwechsel von maximal zehnmal täglich. Die Körperwäsche am Morgen sei zeitlich gewertet worden, Intimwäschen seien bereits bei den Windelwechseln angerechnet worden. Das Lagern sei im Bereich der Mobilität ausreichend zeitlich gewürdigt worden. Bei festen Nahrungsbestandteilen benötige die Klägerin keine Hilfe. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2005 zurück.

Mit der hiergegen gerichteten Klage zum Sozialgericht Regensburg begehrte die Klägerin weiterhin Pflegeleistungen nach der Pflegestufe III. Sie sei seit 18. Mai 2005 bettlägerig. Sie habe nur mehr eine Hüfte und könne deshalb nicht alleine sitzen und stehen. Hilfebedarf bestehe praktisch bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens. Im Bereich der Grundpflege seien zwischen 240 und 280 Minuten anzusetzen. Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 16. März 2006 unter Verweis auf die beiden Stellungnahmen des MDK ab.

Mit der Berufung machte die Klägerin, die am 15. Juni 2006 in eine neue Wohnung gezogen war, geltend, sie müsse rund um die Uhr gepflegt werden. Sie benötige z.B. Hilfe beim Waschen, Windeln anziehen, auf den Toilettenstuhl setzen, Anziehen und in den Rollstuhl setzen. Der Senat holte ein Gutachten der Pflegewissenschaftlerin A. F. vom 8. August 2006 ein. Aufgrund der Hüft-TEP-Entfernung im März 2005 bestünden bei der Klägerin schwerste Einschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates. Sie sei für lange Zeit bettlägerig gewesen. Derzeit sei sie im Liegen lagerungsstabil; im Pflegeliegestuhl könne sie allein sitzen. Ein Stehen sei nicht mehr möglich. Ferner bestehe ein sehr hohes Sturzrisiko, so dass sie bei jeder Mobilisation außerhalb des Bettes der Übernahme durch eine Pflegeperson bedarf. Im Bereich der Körperpflege (160 Minuten) benötige sie aufgrund ihrer Immobilität die vollständige Übernahme sämtlicher Aktivitäten. Im Bereich der Ernährung seien für die mundgerechte Zubereitung 10 Minuten täglich anzusetzen. Bei der Nahrungsaufnahme sei keine Hilfestellung erforderlich. Im Bereich der Mobilität setzte die Gutachterin 35 Minuten an. Insgesamt betrage die Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege 205 Minuten, für die hauswirtschaftliche Versorgung 60 Minuten. Es sei eine "rund-um-die-Uhr-Versorgung" notwendig. Aufgrund der Harn- und Stuhlinkontinenz sei auch zweimal nachts Windelwechsel notwendig. Pflegeerschwerend seien Kotschmieren, Übergewicht und Immobilität zu berücksichtigen. Der Senat vertagte den Rechtsstreit in der Sitzung vom 17. Januar 2007 und holte eine ergänzende Stellungnahme der Gutachterin F. vom 28. Januar 2007 vor allem zu der Bewertung des Zeitbedarfs bei der Ernährung ein. Die Sachverständige führte aus, die Klägerin benötige hierbei Hilfe bei der Vorbereitung der Mahlzeiten. Diese müssten mundgerecht zubereitet werden. Sie brauche jedoch keine Hilfestellung bei der Nahrungsaufnahme. Aufgrund des diätetisch eingestellten Diabetes mellitus seien Zwischenmahlzeiten erforderlich. Nach ihrem eigenen Eindruck im Rahmen der Begutachtung sowie den Angaben des Betreuers ergäben sich bei fünf Mahlzeiten pro Tag je zwei Minuten für die mundgerechte Zubereitung bei vollständiger Übernahme. Allgemeine Erschwernisfaktoren lägen hier nicht vor.

Der MDK vertrat in seiner Stellungnahme vom 17. April 2007 nach nochmaliger Begutachtung vom 28. März 2007 die Ansicht, es bestehe weiterhin Pflegestufe II. Im Bereich der Grundpflege betrage der Zeitbedarf 129 Minuten (Körperpflege 79 Minuten, Ernährung 10 Minuten, Mobilität 40 Minuten), im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung 60 Minuten, der Gesamtzeitbedarf somit 189 Minuten. Im Vergleich zum Vorgutachten vom 29. März 2006 habe sich die Versicherte körperlich und psychisch stabilisiert. Sie könne in Teilbereichen der Körperpflege wieder aktiv mithelfen. Sie könne außerdem nach mundgerechter Zubereitung selbstständig essen und trinken.

Der Senat vertagte den Rechtsstreit in der Sitzung vom 25. April 2007 erneut, um dem Betreuer der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme zum Gutachten des MDK zu geben.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16. März 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Mai 2005 Leistungen nach der Pflegestufe III zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16. März 2006 zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet.

Der Senat konnte in Abwesenheit der Klägerin bzw. des gesetzlichen Vertreters entscheiden, da dieser ordnungsgemäß geladen war und in der Ladung auf die Möglichkeit der Entscheidung auch im Falle des Ausbleibens hingewiesen wurde (§§ 110, 126, 132 SGG).

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 S. 1 bis 3 SGB XI Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 S. 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen, hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14), eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3). Zur Grundpflege zählen:

1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung;

2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung; 3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Nach § 14 Abs. 3 SGB XI kann die Hilfe in der vollständigen oder teilweisen Übernahme der Verrichtungen durch die Pflegeperson, in der Unterstützung sowie in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Durchführung der Verrichtungen durch den Pflegebedürftigen bestehen.

Der Klägerin stehen Leistungen nach der Pflegestufe III nicht zu. Dies ergibt sich aus dem vom Senat eingeholten Gutachten der Pflegefachkraft F ... Vor allem aufgrund der Hüft-TEP-Entfernung bestehen bei der Klägerin schwerste Einschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates mit Immobilität. Ein Stehen ist ihr nicht mehr möglich. Ferner ist ein hohes Sturzrisiko gegeben, so dass sie bei jeder Mobilisation außerhalb des Bettes der Übernahme durch eine Pflegeperson bedarf. Der Senat folgt der Einschätzung der Gutachterin und setzt im Bereich der Körperpflege einen zeitlichen Hilfebedarf von insgesamt 160 Minuten an. Dieser ist bedingt durch die vollständige Übernahme der Aktivitäten Waschen (76 Minuten), Zahnpflege (6 Minuten), Kämmen (2 Minuten) und Darm- und Blasenentleerung (76 Minuten). Ein erhöhter Pflegeaufwand ergibt sich dadurch, dass die Klägerin mehrmals täglich breiigen Stuhlgang hat und ein Kotschmieren gegeben ist. Hilfebedarf für das Duschen bzw. Baden entfällt zumindest zeitweise, da dies nicht mehr möglich war. Entsprechender Bedarf ist bei einer zweimal täglichen Ganz- und Teilkörperwäsche angesetzt. Die täglichen Mahlzeiten sind ihr mundgerecht zuzubreiten (10 Minuten), einschließlich Zwischenmahlzeiten aufgrund diätetisch eingestelltem Diabetes mellitus, damit die Klägerin mit der Hand oder mit einem Besteck essen kann. Die Essens- und Getränkeaufnahme erfolgt noch selbstständig. Im Bereich der Mobilität setzte die Gutachterin 35 Minuten an; für das An- und Auskleiden sind bei vollständiger Übernahme 27 Minuten anzusetzen, für Transfers, z.B. in den Pflegeliegestuhl oder auf den Toilettenstuhl, acht Minuten. Der Zeitbedarf für das Aufstehen bzw. Zu-Bett-Gehen ist beim Transfer bereits berücksichtigt. Das Umlagern erfolgt in Verbindung mit grundpflegerischen Verrichtungen (Wechseln von Windelhosen) und kann deshalb nicht mehr gesondert ausgewiesen werden. Gehen und Treppensteigen entfallen. Insgesamt beträgt der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege somit 205 Minuten, für die hauswirtschaftliche Versorgung 60 Minuten.

Dabei berücksichtigte die Gutachterin im Rahmen ihrer Begutachtung bei ihrem Hausbesuch am 3. Juli 2006 die Wohnsituation, wie sie sich nach dem Umzug vom 15. Juni 2006 zeigte. Für die Zeit davor ist auf die Stellungnahmen des MDK zurückzugreifen, die im Bereich der Grundpflege mit 184 Minuten bzw. 200 Minuten ebenfalls deutlich unter der zeitlichen Grenze des § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI liegen.

Der Klägerin ist zuzustimmen, dass grundsätzlich eine "rund-um-die-Uhr-Versorgung" notwendig ist. Aufgrund der Harn- und Stuhlinkontinenz ist vor allem auch zweimal nachts Windelwechsel notwendig. Pflegeerschwerend sind Kotschmieren, Übergewicht und Immobilität zu berücksichtigen. Allerdings ergibt die Aufteilung der Hilfen im grundpflegerischen Bereich insgesamt keinen zeitlichen Umfang von vier Stunden.

Das vom Senat eingeholte Gutachten bestätigt damit im Ergebnis die vorherigen Einschätzungen des MDK, denen sich das Sozialgericht anschloss. Soweit der MDK im Bereich der Ernährung mit 70 Minuten einen deutlich höheren zeitlichen Hilfebedarf als die Gutachterin mit 10 Minuten annahm, konnte dies von der Sachverständigen ausdrücklich nicht bestätigt werden. Nach ihren Beobachtungen und Auswertungen kann die Klägerin mundgerecht vorbereitete Nahrung ohne Hilfe aufnehmen. Sie kann mit Hilfe eines Trinkhalms auch selbstständig trinken. Notwendig ist insoweit lediglich die vollständige Übernahme der mundgerechten Zubereitung der Nahrung, wofür die Gutachterin jeweils zwei Minuten bei diabetesbedingt fünf Mahlzeiten annahm. Da Erschwernisfaktoren für diese Tätigkeit nicht gegeben sind, ist diese Einschätzung nicht zu beanstanden. Im Bereich Waschen gelangte hingegen die Gutachterin mit 76 Minuten zu einem deutlich höheren Zeitaufwand als der MDK mit 27 Minuten. Dies resultiert vor allem daraus, dass jeweils zweimal pro Tag eine Ganzkörperwäsche und eine Teilwäsche des Unterkörpers bei starker Verschmutzung durch Stuhlgang notwendig ist. Der MDK berücksichtigte jedoch Intimwäschen bei jedem Windelwechsel, der mit zehnmal täglich angerechnet wurde, so dass nur noch zusätzlich die Körperwäsche am Morgen zeitlich gewertet wurde. Auch die Haarwäsche einmal wöchentlich wurde vom MDK berücksichtigt. Insoweit sind auch Schwankungen im Gesundheitszustand zu berücksichtigen, die zu unterschiedlichem Hilfebedarf führen. Nach der Stellungnahme des MDK vom 16. April 2007 ist derzeit nämlich wieder ein Baden möglich. Insoweit gleichen sich die Differenzen in dem gerichtlichen Gutachten gegenüber den Stellungnahmen des MDK bezüglich der Ernährung und des Waschens rechnerisch weitgehend wieder aus. Pflegestufe III ist nach Ansicht des Senats deshalb nicht zu gewähren, da ein Pflegeaufwand von 240 Minuten im Grundpflegebereich nicht erreicht wird.

Die Einstufung in die Pflegestufe II wird durch das neuerliche Gutachten des MDK vom April 2007 bestätigt, wonach weiterhin Pflegestufe II zu gewähren ist. Der Pflegebedarf hat sich eher verringert, da sich der körperliche und psychische Gesundheitszustand der Klägerin nach den Feststellungen des MDK stabilisiert hat. Sie kann in Teilbereichen der Körperpflege wieder aktiv mithelfen und nach mundgerechter Zubereitung selbstständig essen und trinken.

Die Berufung ist deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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