L 2 P 66/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 89/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 66/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20. September 2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I ab März 2002.

Der 1950 geborene Kläger leidet nach einem Sturz von einer Terrasse im Jahr 1994 an einer inkompletten Querschnittslähmung nach Lendenwirbelkörperbruch und Osteoporose, ferner an Lähmungserscheinungen an den unteren Extremitäten, Blasen- und Mastdarmstörungen sowie einem cerebralen Anfallsleiden mit Grand Mal-Anfällen. Er beantragte am 26. März 2002 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK in Bayern vom 25. Juni 2002 nach Hausbesuch ein. Danach bestand ein Zustand nach Entlastungs-Hemilaminektomie Lendenwirbelkörper (LWK) 1 vom 7. April 1994 bei Zustand nach Sturz mit inkompletter Querschnittslähmung nach LWK-frakturen (T12, L1, L2) sowie eine Kauda-Symptomatik u.a. mit der Folge einer Blasen- und Stuhlinkontinenz. Für den Bereich Grundpflege falle ein Zeitbedarf in Höhe von 12 Minuten pro Tag (Körperpflege 11 Minuten, davon Teilwäsche des Oberkörpers 4 Minuten, Teilwäsche des Unterkörpers 6 Minuten und Baden 1 Minute; Ernährung 0 Minuten; Mobilität 1 Minute beim Ankleiden des Ober- und Unterköpers), für hauswirtschaftliche Versorgung von 60 Minuten pro Tag an.

Mit Bescheid vom 27. Juni 2002 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte sie eine Stellungnahme des MDK nach Aktenlage vom 14. Januar 2003 ein. Die angegebenen Zeiten in der vom Kläger vorgelegten Pflegedokumentation seien zu hoch angesetzt und könnten allenfalls auf einen vollständig immobilen Patienten zutreffen. Dies sei bei dem Kläger jedoch nicht der Fall, da er zur Mithilfe in der Lage sei. Er suche die Toilette selbstständig auf. Auch das Erheben aus sitzender Position sei unter Abstützen eigenständig möglich, so dass das Aufstehen/Zubettgehen unberücksichtigt bleiben müsse. Er benötige nur gelegentlich Unterstützung beim Anziehen seiner Socken, könne sich ansonsten aber eigenständig kleiden. Arztbesuche erfolgten durch Hausbesuche. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2003 zurück.

Mit der hiergegen gerichteten Klage zum Sozialgericht Nürnberg begehrte der Kläger weiterhin Pflegeleistungen nach der Pflegestufe I ab März 2002. Das Sozialgericht zog u.a. die Akte des Amtes für Versorgung und Familienförderung N. bei und beauftragte den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. H. mit der Erstellung eines Gutachtens. Nach dem Gutachten vom 28. Mai 2004 nach Hausbesuch sei der Kläger trotz seiner schweren Behinderung auf Grund der freien Beweglichkeit und Einsatzfähigkeit seiner oberen Extremitäten in der Lage, viele Tätigkeiten des täglichen Lebens einschließlich der pflegerischen Maßnahmen zwar mit hohem Zeitaufwand und unter erschwerten Bedingungen, aber selbstständig durchzuführen. Auch bei Anrechnung der Erschwernisfaktoren und unter großzügiger Berücksichtigung aller Maßnahmen, bei denen Hilfe notwendig sei, errechne sich im Bereich der Körperpflege ein Zeitaufwand, der zur Anerkennung von Pflegebedürftigkeit nicht ausreiche. Die Intimhygiene, das Reinigen der Toilette und des Umfeldes erledige der Kläger selbstständig, ebenso die Zahnpflege, das Kämmen und das Rasieren. Das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen erfolge ebenfalls selbstständig. Im Bereich der Grundpflege betrage der Zeitbedarf 37 Minuten (Körperpflege 23, davon Waschen 10, Duschen 7 Minuten, Baden 6 Minuten; Ernährung 0 Minuten; Mobilität 14 Minuten, davon An- und Auskleiden 10 Minuten, Stehen 4 Minuten), im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung 60 Minuten.

Nach dem Abschlussbericht der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. vom 17. März 2004 über eine stationäre Behandlung vom 11. bis 17. März 2004 stellte sich klinisch keine wesentliche Besserung der Stressharninkontinenz ein. Der Allgemeinarzt Dr. S. berichtete am 30. Juli 2004 von extremen Schweißausbrüchen; es dürfe dem Kläger deshalb nicht verwehrt werden, täglich ein bis zweimal zu duschen. Hinsichtlich der Mobilität sei zu berücksichtigen, dass er für Arztbesuche und zum Treppensteigen Hilfe benötige. Auch aufgrund der kompletten Störung der Blasen- und Darmentleerung müsse dem Kläger, obwohl er sich um Selbstständigkeit bemühe, gelegentlich Hilfe geleistet werden. Der Zeitbedarf der Pflegestufe I werde knapp erreicht.

Mit Urteil vom 20. September 2004 wies das Sozialgericht die Klage ab. Es folgte dabei weitgehend dem Gutachten des Dr. H ...

Mit der Berufung machte der Kläger geltend, vor allem für das Baden und Duschen sowie den Bereich der Intimhygiene seien die ständigen Pflegeleistungen durch die Ehefrau nicht bzw. nicht ausreichend berücksichtigt worden. Durch die außergewöhnliche Schweißabsonderung sei mehrmaliges Duschen oder zweimaliges Baden täglich erforderlich. Aus anliegenden Attesten ergebe sich, dass eine weitere Verschlechterung eingetreten und zumindest zwischenzeitlich die Pflegestufe I erreicht sei.

Der Senat holte einen aktuellen Befundbericht des Urologen Dr. L. vom 19. Dezember 2005 sowie des Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. R. vom 8. Dezember 2005 ein. Dr. L. bescheinigte, dass keine wesentliche Besserung der Befunde eingetreten sei. Auf Anregung des Gerichts holte die Beklagte eine erneute Stellungnahme des MDK vom 1. Februar 2006 nach Hausbesuch ein. Auch danach lag Pflegestufe I nicht vor. Der Zeitbedarf für die Grundpflege wurde mit 24 Minuten (Körperpflege 18 Minuten, davon Duschen 10 Minuten, Wechseln/Entleeren des Urinbeutels 8 Minuten; Ernährung 0 Minuten, Mobilität 6 Minuten, davon Ankleiden Ober-/Unterkörper 1 Minute, Stehen 1 Minute, Treppensteigen 4 Minuten) eingeschätzt, für die hauswirtschaftliche Versorgung mit 45 Minuten. Duschen wurde einmal täglich für notwendig gehalten und entsprechend berücksichtigt.

Der Senat vertagte den Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung vom 27. September 2006 und holte Angaben der behandelnden Ärzte Dr. S. (Urologie), Dr. R. (Psychiatrie) und Dr. S. (Allgemeinmedizin) sowie der Beklagten über die Anzahl der Arztbesuche in den letzten Jahren ein. Die Beklagte wies ferner darauf hin, dass sie die seit 1. Juni 2005 bestehende neue Wohnsituation bei der Begutachtung durch den MDK am 30. Januar 2006 bereits berücksichtigt habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20. September 2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I ab März 2002 als Geldleistung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 20. September 2004 zurückzuweisen.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der Akte der Beklagten, der Gerichtsakte des Sozialgerichts Nürnberg, die beigezogen wurde, sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet.

Der Senat konnte in Abwesenheit des Klägers entscheiden, da dieser über den damaligen Prozessbevollmächtigten ordnungsgemäß geladen war und in der Ladung auf die Möglichkeit der Entscheidung auch im Falle des Ausbleibens hingewiesen wurde (§§ 110, 126, 132 SGG).

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 S. 1 bis 3 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 S. 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Regelungen aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3). Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss dazu der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) zu verstehen.

Zur Grundpflege zählen:

1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung;

2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung; 3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Zutreffend ging das Sozialgericht davon aus, dass dem Kläger die Pflegestufe I nicht zusteht. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage demgemäß abgewiesen. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen, da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG).

Im Hinblick auf das Vorbringen im Berufungsverfahren ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen:

Das Sozialgericht bezog sich vor allem auf die gutachterlichen Äußerungen des Dr. H ... Der medizinische Sachverständige Dr. H. gelangt zu einem täglichen Zeitbedarf für die Grundpflege in Höhe von 37 Minuten; dabei setzte er für Waschen des Rückens und der Füße zehn Minuten und für Duschen/Baden sieben bzw. sechs Minuten an. Er ging von den Angaben des Klägers aus, dass dieser dreimal die Woche dusche und zweimal die Woche ein Vollbad nehme. Nach der Pflegedokumentation duscht bzw. badet der Kläger sechsmal wöchentlich, also einmal mehr als der Gutachter seinem Gutachten zugrunde legte. Selbst bei der Annahme eines oder zweier weiterer wöchentlicher Duschvorgänge wird jedoch rechnerisch kein Grundpflegebedarf von 45 Minuten erreicht. Der Allgemeinarzt Dr. S. sah aufgrund besonderer Schweißabsonderung eine ein- bis zweimal tägliche Erforderlichkeit des Duschens. Ein zweimal tägliches Baden/Duschen wurde zum einen zunächst nicht vorgebracht und ist zum anderen nach der Stellungnahme des MDK vom 1. Februar 2006, bei der der Kläger im Rahmen des Hausbesuchs das Bedürfnis, wegen vermehrten Schwitzens mehrmals täglich zu baden oder zu duschen, angab, nicht für erforderlich gehalten. Nach Einschätzung des MDK ist eine einmal tägliche Häufigkeit anzusetzen.

Dabei vermag der Senat auch keine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu erkennen. Aus den eingeholten aktuellen Befundberichten des Urologen Dr. L. sowie des Psychiaters Dr. R. lässt sich, sofern sich hierzu Angaben finden, lediglich ableiten, dass keine Befundbesserung eingetreten ist. Auch durch die erneute Stellungnahme des MDK ergibt sich keine pflegerelevante Verschlechterung, da der MDK den Bedarf an Grundpflege mit täglich lediglich 24 Minuten einschätzt.

Wie von dem medizinischen Sachverständigen dargelegt, ist der Kläger trotz seiner schweren Behinderung auf Grund der freien Beweglichkeit und Einsatzfähigkeit seiner oberen Extremitäten in der Lage, viele Tätigkeiten des täglichen Lebens einschließlich der pflegerischen Maßnahmen zwar mit hohem Zeitaufwand und unter erschwerten Bedingungen, aber selbstständig durchzuführen. Beispielsweise erledigt der Kläger die Intimhygiene, das Reinigen der Toilette und des Umfeldes weitgehend selbstständig, ebenso die Zahnpflege, das Kämmen und das Rasieren. Das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen erfolgt ebenfalls selbstständig. Nach den Feststellungen des Gutachters benutzt der Kläger bei bestehender Stressinkontinenz derzeit ein Urinalkondom, welches er selbst wechselt und entsorgt. Zusätzlich wird einmal täglich eine Einmalkatheterisierung zur Restharnbestimmung durchgeführt, die ebenfalls vom Kläger selbstständig durchgeführt wird. Auch bei Anrechnung der Erschwernisfaktoren und unter großzügiger Berücksichtigung aller Maßnahmen, bei denen Hilfe notwendig ist, errechnet sich deshalb im Bereich der Körperpflege kein Zeitaufwand, der zur Anerkennung von Pflegebedürftigkeit ausreicht.

Regelmäßige Arztbesuche, d.h. mindestens einmal wöchentlich, fielen nicht an. Nach den vorliegenden Unterlagen erfolgten beispielsweise im Jahr 2005 lediglich 40 Arztbesuche; im 1. Quartal 2006 fanden im Februar keine Arztbesuche statt. Der Kläger gab an, regelmäßig den Urologen Dr. L. sowie seinen Hausarzt aufzusuchen. Der Hausarzt Dr. S. gab durchschnittlich 10 bis 12 Arztkontakte pro Quartal an. In der Auflistung der urologischen Praxis der Dres. L./S. , bei der der Kläger seit 6. Oktober 2003 in Behandlung ist, fanden 2004 16 Arztbesuche, 2005 12 und 2006 9 Arztbesuche statt. Auch nach diesen Angaben ergeben sich damit keine regelmäßigen wöchentlichen Arztbesuche.

Ein regelmäßiger Hilfebedarf für Treppensteigen fiel in der bis 1. Juni 2005 innegehabten Wohnung nicht an, da der Kläger eine Wohnung im Parterre bewohnte. Die neue Wohnsituation lag dem Gutachten des MDK vom 1. Februar 2006 zugrunde. Für Treppensteigen setzte der MDK einen Zeitaufwand von vier Minuten an mit der Anmerkung, dass Treppensteigen mit Unterstützung nur bis zur Beendigung des Umbaus bzw. der Renovierung des Hauses zu berücksichtigen sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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