L 17 U 470/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 U 292/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 470/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.11.2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) anzuerkennen und zu entschädigen sind.

Der 1956 geborene Kläger war seit 1971 als Maurer beschäftigt. Er nahm hierbei schwere körperliche Tätigkeiten wahr und arbeitete bis Mai 2000 (mit Unterbrechungen insgesamt 25,6 Jahre) bei 17 verschiedenen Firmen. Der Techn. Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten sah bei ihm nach den epidemiologischen Erkenntnissen für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko die arbeitstechnischen Voraussetzungen i.S. der BK Nr 2108 als erfüllt an. Der festgelegte Grenzwert von 25 x 106 Nh wurde dabei mit einer Gesamtdosis von 27,2 x 106 Nh überschritten.

Stärkere Bandscheiben-Beschwerden machte der Kläger seit 1993/ 1994 geltend. Die Beklagte zog Arztberichte des Neurochirurgen Dr.P. vom 10.07.2000 und Dr.R. vom 16.02.2001, des Orthopäden Dr.S. vom 12.03.2001, des Nervenarztes Dr.S. vom 16.07.2001, des Orthopäden Dr.S. vom 21.10.1997 sowie Arztberichte des Kreiskrankenhauses G. vom 29.09.1994/07.10.1994, des Krankenhauses N. vom 02.09.1993 sowie ärztliche Entlassungsberichte der Rentenversicherung vom März 1995 und 29.11.2000 bei. Anschließend erstellte der Chirurg Dr.W. am 20.05.2003 für die Beklagte ein Gutachten, in dem er die Gesundheitsstörungen der Wirbelsäule als schicksalhaft degenerativ verändert ansah. Die berufliche Belastung sei nicht als Ursache zu erkennen.

Mit Bescheid vom 02.07.2003 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 24.09.2003).

Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, ihm Verletztenrente nach den BKen Nrn 2108/2109 zu gewähren.

Das SG hat ein Gutachten des Orthopäden Dr.S. vom 20.01.2004 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, das bei dem Kläger eine bandscheibenbedingte Erkrankung in den Segmenten L4/5 und L5/S1 vorliege. Allerdings seien verstärkte degenerative Veränderungen in diesen Bereichen vorhanden, die nicht auf beruflich bedingte Ursachen zurückzuführen seien, insbesondere eine spinale Enge in Höhe des Segmentes L4/5. Die festgestellten krankhaften Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS) seien als schicksalhafte Erkrankung anzusehen. Damit seien die Voraussetzungen für eine BK nicht gegeben.

Nach Vorlage eines Attestes des Orthopäden Dr.B. vom 23.03.2004 hat das SG mit Urteil vom 16.11.2004 die Klage abgewiesen. Es hat sich insbesondere auf das Gutachten des Dr.S. gestützt.

Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, dass sich im Bereich der gesamten Wirbelsäule Verschleißerscheinungen befänden. Hierbei seien die Halswirbelsäule (HWS) und die LWS deutlich verstärkt betroffen. Auch im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) sei ein Verschleiß wahrnehmbar. Die medizinischen Voraussetzungen zur Anerkennung der BK Nr 2108 seien daher erfüllt.

Der Senat hat die Schwerbehindertenakte des Amtes für Versorgung und Familienförderung N. sowie die ärztlichen Unterlagen der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken einschließlich der einschlägigen Röntgen- und CT-Aufnahmen zum Verfahren beigezogen. Anschließend hat der Neurochirurg Dr.P. am 07.08.2006 auf Veranlassung des Klägers ein Gutachten erstellt, in dem er vor allem Gesundheitsstörungen im Bereich der HWS und BWS neben einer starken psychosomatischen Erkrankung bestätigte. Danach lägen im Bereich der Wirbelsäule starke degenerative Veränderungen der LWS vor in Form von Bandscheibenerkrankungen über mindestens drei Segmente. Im Bereich der oberen LWS zeigten sich Verschmälerungen der Zwischenwirbelräume ebenso wie im Bereich der BWS. Dort fänden sich auch zahlreiche Verschmälerungen der Zwischenwirbelräume vom 5.BWK abwärts. Im HWS-Bereich seien gravierende Veränderungen, die sich im Verlauf der letzten fünf Jahre eingestellt haben mit massiver Osteochondrose, nachweisbar. Es handle sich im Bereich der LWS und der unteren BWS mit Wahrscheinlichkeit um Erkrankungen i.S. der BK Nr 2108. Von einer MdE von 60 vH sei auszugehen.

Die Beklagte hat dem unter Vorlage einer gutachterlichen Stellungnahme des Orthopäden Dr.A. vom 02.01.2007 widersprochen. Dieser hat ausgeführt, dass vor allem die Verschleißveränderungen im BWS- und HWS-Bereich gegen eine berufsbedingte LWS-Erkrankung sprächen. Insbesondere die gravierenden degenerativen Veränderungen im HWS-Bereich mit einer massiven Osteochondrose HWK 5/6 und HWK 6/7 seien ein gewichtiges Argument gegen den Kausalzusammenhang der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS mit der berufsbedingten Belastung. Auch sei die Einschätzung der Höhe der MdE nicht überzeugend.

Abschließend hat der Senat ein Gutachten des Orthopäden Prof. Dr.S. vom 09.02.2007 eingeholt. Dieser hat degenerative Bandscheibenleiden festgestellt, die die HWS, BWS und LWS im gleichen Ausmaß beträfen. Diese Erkrankungen seien nicht durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden.

Der Kläger hat weiterhin auf die Feststellungen im Gutachten des Dr.P. verwiesen.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Nürnberg vom 16.11.2004 sowie des Bescheides vom 02.07.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2003 zu verurteilen, bei ihm eine BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV anzuerkennen und Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 16.11.2004 zurückzuweisen.

Ergänzend wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet.

Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer BK nach § 9 Abs 1 SGB VII i.V.m. Nr 2108 der Anlage zur BKV hat, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Nach § 9 Abs 1 SGB VII sind BKen die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach der Nr 2108 der Anlage zur BKV "bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

Die Feststellung der BK setzt also voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK erfüllt sein müssen, zum anderen das typische Krankheitsbild der BK vorliegen muss und dieses i.S. der unfallrechtlichen Kausalitätslehre mit Wahrscheinlichkeit auf die wirbelsäulenbelastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist (vgl. KassKomm, Ricke, § 9 SGB VII Rdnr 11; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, Band III - Stand 1997 - § 9 SGB VII Rdnr 21 ff). Schließlich muss die schädigende Tätigkeit aufgegeben sein.

Die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs liegt vor, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (vgl. u.a. BSG vom 18.11.1997, SGb 1999, 39). Eine Möglichkeit verdichtet sich zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Unfallversicherung, § 9 SGB VII Anm 10.1 mwN). Die Beweislast dafür, dass die Erkrankung der Wirbelsäule durch arbeitsplatzbezogene Einwirkungen verursacht worden ist, trägt der Versicherte.

Der Kläger erfüllt zweifellos die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Feststellung einer BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV. Nach den unbestrittenen Feststellungen des TAD der Beklagten vom 24.01.2003 war er in der Zeit von August 1971 bis Mai 2000 (effektiv insgesamt 25,6 Jahre) als Maurer mit Tätigkeiten befasst, bei denen Belastungen durch Heben und Tragen schwerer Lasten festgestellt worden sind. Dabei konnte die Beklagte nach dem "Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)", auch aufgrund persönlicher Befragung des Klägers, eine Gesamtdosis Dv von 27,2 x 106 Nh ermitteln. Der nach den epidemiologischen Erkenntnissen für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko festgelegte Grenzwert von 25 x 106 Nh wurde also überschritten. Der Kläger war damit über den erforderlichen Bewertungsrahmen hinaus berufsbedingten Belastungen ausgesetzt. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen i.S. der BK Nr 2108 sind daher erfüllt.

Der Kläger leidet auch an bandscheibenbedingten Erkrankungen. Prof. Dr.S. , Dr.S. und Dr.W. , aber auch der Beratungsarzt der Beklagten Dr.A. , haben bei dem Kläger Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule nachgewiesen. Es handelt sich aber um degenerative Bandscheibenleiden, die die HWS, BWS und LWS in gleichem Ausmaß betreffen. Eine berufsbedingte Verursachung scheidet daher aus. Für die LWS sind dabei operative Interventionen in Form von Entlastungsoperationen (Nukleotomie, Dekompression) erfolgt sowie eine Versteifungsoperation (Spondylodese L4-S1).

Auf Röntgenbildern aus dem Jahr 1985 zeigen sich eindeutige Verschmälerungen der Zwischenwirbelräume zwischen 4. und 5.LWK sowie zwischen 5.LWK und Kreuzbein. In diesen Segmenten sind auch spondylotische Randwulstbildungen nachweisbar. Insoweit vermittelt die LWS ein belastungskonformes Krankheitsbild. Dies wird durch die Computertomografie der LWS im Jahr 1994 bestätigt, bei der in den untersten drei freien Bewegungssegmenten der LWS Veränderungen i.S. einer Spondylarthrose gefunden wurden. Diese belastungskonformen Veränderungen können durchaus auch typisch degenerativ bedingten Bandscheibenleiden entsprechen, die ohne wesentliche berufsbedingte Belastungen auftreten. Die Belastungskonformität der bandscheibenbedingten Veränderungen an der LWS kann daher nicht allein die Anerkennung der BK Nr 2108 rechtfertigen.

Von Relevanz für die aktuelle Begutachtung war insbesondere, inwieweit sich degenerative Veränderungen an anderen WS-Abschnitten zeigten. Bei der aktuellen Röntgenaufnahme der BWS in zwei Ebenen ergaben sich insbesondere im Bereich der Bewegungssegmente am Übergang von der mittleren zur unteren BWS deutlich fortgeschrittene degenerative Veränderungen. Diese Veränderungen sind nicht nur bestimmt durch deutliche Erniedrigungen der Bandscheibenräume, sondern insbesondere durch ausgeprägte spondylotische Randwulstbildungen, die teilweise auch Umklammerungstendenz zeigen (insbes. zwischen 9. und 10.BWK). Diese degenerativen Veränderungen der BWS entsprechen im Bezug auf spondylotische knöcherne Reaktionen unter Erniedrigung der Bandscheibenräume den Veränderungen, die sich für die untere LWS und für die Bewegungssegmente zwischen 5. und 7.HWK zeigten.

Wenn man berücksichtigt, dass sich vergleichbare degenerative Veränderungen auch an der HWS darstellen, so spricht dieses Verteilungsmuster degenerativer Veränderungen in Bezug auf die gesamte Wirbelsäule dafür, dass anlagebedingt eine verminderte Belastbarkeit und vermehrte Neigung zu bandscheibenbedingten Erkrankungen besteht. Angesichts dieses Verteilungsmusters degenerativer Bandscheibenveränderungen können die für die LWS nachgewiesenen Bandscheibenveränderungen, auch wenn sie belastungskonform sind und die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt sind, nicht als belastungsbedingt i.S. der BK Nr 2108 mit Wahrscheinlichkeit anerkannt werden, wie die vorgenannten Gutachter zu Recht ausführen. Das Verteilungsmuster degenerativer Veränderungen spricht also gegen die Anerkennung einer BK Nr 2108. Die Bandscheibenschäden im beruflich belasteten Abschnitt der LWS heben sich nicht deutlich vom Degenerationszustand der belastungsfernen Abschnitte (HWS, BWS) ab (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.Aufl S 579). Auch in dem Konsensuspapier wird zum Ausdruck gebracht, dass ein Befall von HWS und/oder BWS grundsätzlich gegen einen Ursachenzusammenhang spricht (U. Bolm-Audorf et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma Berufskrankheit 2005, 211, 216 f).

Nicht folgen kann der Senat den Ausführungen des Dr.P ... Dieser berücksichtigt vollkommen unzureichend, dass sich bandscheibenbedingte Erkrankungen für die HWS, BWS und LWS finden und hierbei die knöchernen Reaktionen vergleichbar sind. Insbesondere die Verschleißveränderungen im BWS- und HWS-Bereich sprechen gegen eine berufsbedingte LWS-Erkrankung. Die gravierenden degenerativen Veränderungen im HWS-Bereich mit einer massiven Osteochondrose HWK 5/6 und 6/7 sind ein gewichtiges Argument gegen den Kausalzusammenhang der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS mit der berufsbedingten Belastung, wie auch der Orthopäde Dr.A. in seiner Stellungnahme vom 02.01.2007 ausführt. In Übereinstimmung mit den Konsensusempfehlungen sprechen gegen einen Zusammenhang die gleichmäßige Ausbreitung von Schmerzen über weite Bereiche des Rückens mehrerer Segmente, vom bildgebend dargestellten Bandscheibenschaden entfernt, sowie die Schilderung von Schmerzen, die sich zugleich über die Gelenke ausbreiten. Die polysegmentale Verteilung der Bandscheibenerkrankungen in allen drei Wirbelsäulenabschnitten spricht gegen einen Kausalzusammenhang.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK nach Nr 2108 der Anlage zur BKV. Das Urteil des SG Nürnberg vom 16.11.2004 ist nicht zu beanstanden. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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