L 20 B 1139/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 87 AS 7016/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 20 B 1139/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerden der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. April 2007 werden zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die nach §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässigen Beschwerden der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. April 2007, denen das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, sind unbegründet. Die Anträge der Antragsteller vom 19. März 2007, den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen bis längstens zum 31. Mai 2007 monatlich weitere 137,67 EUR Arbeitslosengeld II sowie 550,68 EUR zu zahlen, und ihnen für das sozialgerichtliche Verfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren, haben keinen Erfolg.

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgewiesen. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 - SGG - sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO -).

Die Antragsteller haben bereits einen Anordnungsgrund, die Notwendigkeit der erstrebten Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, nicht glaubhaft gemacht. In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO ). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 ). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände sind jedoch nicht ersichtlich.

Zum einen ist weder glaubhaft gemacht, dass der Verlust der Wohnung der Antragsteller wegen des Mietrückstands droht (eine Kündigung durch die Vermieterin ist weder ausgesprochen noch angedroht worden), noch ist erkennbar, dass die im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Zahlungen für die Monate März bis Mai 2007 geeignet wären, eine bei Auflaufen weiterer Mietschulden zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise drohende Kündigung abzuwenden.

Zum anderen setzt die ausnahmsweise Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume voraus, dass ein Anordnungsanspruch jedenfalls glaubhaft gemacht ist. Hieran mangelt es im vorliegenden Fall. Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf Leistung weiterer Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - SGB II -, weil die Aufwendungen für ihre Unterkunft (in Höhe von 892,67 EUR monatlich brutto warm) den angemessenen Umfang übersteigen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Dabei lässt der Senat offen, ob der Antragsgegner dabei die Werte der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II - AV-Wohnen – zu Grunde legen konnten. Zweifel hieran bestehen, weil nicht erkennbar ist, auf welcher Grundlage die Werte der AV-Wohnen ermittelt worden sind. Es erscheint zudem im Hinblick auf die Trennung der Kosten für die Wohnung und der Leistungen für Heizung (vgl. § 22 Abs. 1 und Abs. 3 SGB II) zweifelhaft, ob ein Pauschalsatz für eine Bruttowarmmiete den Anforderungen des § 22 SGB II gerecht wird (vgl. Beschluss des 23. Senats des LSG Berlin-Brandenburg vom 23. Mai 2007 zur Parallelvorschrift § 29 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII – L 23 B 38/07 SO ER; veröffentlicht in www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Aus den zur Verfügung stehenden Daten über Wohnlagen, ortsübliche Mieten in Berlin und zu den durchschnittlichen Betriebskosten ergibt sich hier jedenfalls, dass die von dem Antragsgegner mit Bescheid vom 31. Oktober 2006 anerkannten 755,00 Euro für die Antragsteller ausreichen, um ihren Bedarf für Aufwendungen für eine im Sinne des § 22 SGB II angemessene Unterkunft zu decken.

Zur Feststellung der Angemessenheit der Unterkunftskosten bedarf es zunächst der Feststellung der angemessenen Wohnungsgröße. Hier ist die für Wohnberechtigte im sozialen Wohnungsbau anerkannte Wohnraumgröße zu Grunde zu legen (insbesondere die Werte nach dem Gesetz über die soziale Wohnraumförderung - WoFG – i.V.m. den landesrechtlichen Bestimmungen; vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006, B 7b AS 18/06 R, juris). Danach ist in Berlin, mangels Richtlinien zu § 10 WoFG, zum einen an die Bestimmungen zur Vergabe von Wohnberechtigungsscheinen zur Belegung von nach dem WoFG belegungsgebundenen Wohnungen anzuknüpfen, wie sie sich aus der Mitteilung Nr. 8/2004 - Mitt. 8/04 - der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ergeben. In Berlin wird die maßgebliche Wohnungsgröße für den Wohnberechtigungsschein in der Regel nach Raumzahl bestimmt (Ziff. 8 Abs.1 Mitt. 8/04). Angemessen ist danach grundsätzlich ein Raum für jeden Haushaltsangehörigen. Zum anderen ist zur Bestimmung des angemessenen Wohnflächenbedarfs an die Durchführungsregelungen im sozialen Wohnungsbau anzuknüpfen (§ 39 Abs. 1 II. WobauG, vgl. Lang in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 22 Rn. 43). In Berlin sind insoweit mangels den Mietwohnungsbau betreffender Bestimmungen die Richtlinien über Förderungssätze für eigengenutztes Wohneigentum der Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr vom 7. Mai 1996 - Eigentumsförderungssätze 1996 - (ABl. 1996, S. 2002ff) heranzuziehen. Nach Ziffer 3 (3) der Eigentumsförderungssätze 1996 ist für drei Personen eine Wohnfläche von maximal 80 m² förderungsfähig, für jede weitere Person des Familienhaushaltes erhöht sich die förderungsfähige Wohnfläche um 10 m². Unter Anwendung dieser Maßstäbe wäre hier eine Wohnungsgröße von bis zu 110 m² für die Antragsteller angemessen. Ferner ist im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass die Antragsteller zu 5) und 6) sechs und vier Jahre alt sind, d.h. sich in einem Lebensalter befinden, in dem sie weder aus schulischen noch sonstigen Notwendigkeiten auf ein eigenes Zimmer angewiesen sind, so dass im vorliegenden Einzelfall maximal eine Fünfzimmerwohnung von höchstens 110 m² Größe angemessen ist.

Für die weitere Feststellung des angemessenen Unterkunftsbedarfs sind die Kosten für eine Wohnung, "die nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen genügt und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist" (BSG, Urteil vom 7. November 2006, B 7b AS 18/06 R, juris), zu ermitteln. Abzustellen ist dabei auf das Produkt aus angemessener Wohnfläche und Standard, welches sich in der Wohnungsmiete niederschlägt (Produkttheorie, BSG, a.a.O.). Nach der dem Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen eingeschränkten Ermittlungen sind hier die sich aus der Berliner Mietspiegeltabelle 2007 ergebenden durchschnittlichen Mittelwerte für einfache Wohnlagen und Ausstattungen für Neu- und Altbauten (Abl. Nr. 30 vom 11. Juli 2007, S. 1797) zu Grunde zu legen. Für eine Wohnfläche von 90 m² und mehr ergibt sich daraus eine Netto-Kaltmiete von aufgerundet 4,38 Euro/m². Hierzu sind die durchschnittlichen "kalten" Betriebskosten, die regelmäßig mit dem Mietzins zu entrichten sind, zu ermitteln. Unter Zugrundelegung der vom Deutschen Mieterbund - DMB - mit dem Betriebskostenspiegel für Deutschland für das Jahr 2006 veröffentlichten Angaben (www.mieterbund.de), ergeben sich bei Nichtberücksichtigung der für Heizung und Warmwasser angegebenen Kosten durchschnittliche Betriebskosten in Höhe von 1,54 EUR/ m² (ohne Mehrwertsteuer). Zzgl. des Mehrwertsteuersatzes von 19 % sind danach durchschnittliche Betriebskosten in Höhe von 1,84 EUR/ m² zu berücksichtigen. Daraus ergeben sich Kosten für eine Wohnung von einer Größe von 110 m² in Höhe von 683,76 EUR (Bruttokaltmiete).

Weiter sind die von dem Antragsgegner nach § 22 SGB II zu leistenden Heizkosten zu ermitteln. Nach dem Betriebskostenspiegel des DMB sind diese mit 0,76 EUR/ m² anzusetzen, so dass sich für eine Wohnungsgröße von 110 m² eine Summe von 83,60 EUR ergibt. Dies ergibt eine Bruttowarmmiete einschließlich der Kostenanteile für Warmwasser in Höhe von 767,36 EUR.

Da Kostenanteile für Warmwasser bereits im Regelsatz enthalten sind, sind im vorliegenden Fall nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden Prüfung die vom Antragsgegner gewährten 755,00 EUR (Bruttowarmmiete) ausreichend, um den angemessenen Wohnbedarf der Antragsteller zu decken.

Nach dem Berliner Mietenspiegel 2007 sind auch im Bezirk T-Scheinfache Wohnlagen im Sinne des Berliner Mietenspiegels vorhanden. Nach den im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu ermittelnden Erkenntnissen (vgl. www.immobilienscout24.de) ist auch im Umkreis von 5 - 10 km des bisherigen Wohnumfelds der Antragsteller entsprechender Wohnraum (5 Zimmerwohnungen mit einer Nettokaltmiete unter 480,00 EUR) in ausreichender Anzahl verfügbar. Dass es für sie nicht möglich war, angemessenen Wohnraum in ihrem Bezirk mit den von dem Antragsgegner nach § 22 SGB II gewährten Leistungen anzumieten, haben die Antragsteller trotz Vorlage diverser Bewerbungsschreiben nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsteller werden insoweit ihren Suchradius zu erweitern und – soweit sie Wohnungen nicht im EG anmieten möchten - ihre Ansprüche zu reduzieren haben. Im Übrigen haben die Antragsteller zwei der ihnen angebotenen Wohnungen ohne Angabe von Gründen gar nicht erst besichtigt und schon deswegen nicht glaubhaft machen können, dass geeigneter Wohnraum für sie nicht zur Verfügung steht. Die Antragsteller haben auch keine Gründe glaubhaft gemacht, die einen Wohnungswechsel allein deshalb unzumutbar erscheinen lassen, weil die Antragsteller zu 3) und 4) bei einem Umzug gegebenenfalls einen weiteren Schulweg oder einen Schulwechsel sowie die Antragsteller zu 5) und 6) möglicherweise einen Wechsel des Kindergartens in Kauf nehmen müssten. Hierzu bedürfte es vielmehr des Vorbringens besonderer konkreter Umstände.

Im Hinblick auf die Erfolglosigkeit des Rechtsschutzbegehrens war auch die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht zu beanstanden (§ 73 a SGG i. V. m. § 114 ZPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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