L 31 KR 139/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 86 KR 360/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 KR 139/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2006 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Versorgung mit dem Arzneimittel Strattera als Sachleistung.

Der 1983 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine hirnorganische Funktionsstörung, verursacht durch eine Dysbalance im Neurotransmittersystem. Der Kläger wurde zunächst mit dem Medikament Ritalin und jedenfalls seit Mitte 2003 mit dem Medikament Strattera behandelt. Dieses Medikament wurde mit Bescheid des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 2. Dezember 2004 für die Behandlung des ADHS bei Kindern ab 6 Jahren und bei Jugendlichen in Deutschland zugelassen. Nach dem Zulassungstext muss die Arzneimittelbehandlung von einem Arzt begonnen oder überwacht werden, der angemessenes Wissen und Erfahrung in der Behandlung von ADHS besitzt. Die Behandlung sollte Teil eines umfassenden Behandlungsprogramms sein, welches typischerweise psychologische, erzieherische und soziale Maßnahmen einschließt. In ganz besonderen Einzelfällen kann die bei Kindern oder Jugendlichen begonnene Behandlung von ADHS mit dem streitbefangenen Arzneimittel auf das Erwachsenenalter ausgedehnt werden. Der Beginn einer Behandlung mit Strattera im Erwachsenenalter ist jedoch danach nicht angemessen.

Im Oktober 2004 beantragte der Kläger über seine behandelnde Fachärztin für Allgemeinmedizin und Kinderheilkunde Dr. med. U. G, die ihre vertragsärztliche Tätigkeit mit Ablauf des 30. Juni 2006 aus Altersgründen beendet hat, unter Vorlage einer Verordnung vom 20. Oktober 2004 die Gewährung des streitbefangenen Medikaments ("Strattera A 60 mg Tbl. Nr. XC") als Sachleistung. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. Dezember 2004 mit der Begründung ab, dass eine Verordnung von Strattera zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sei. Auf den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers legte die Beklagte den Fall erneut dem medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e.V. MDK) vor, für den die Ärztin Dr. B S unter dem 9. März 2005 mitteilte, dass es sich bei der Behandlung mit Strattera im Erwachsenenalter um einen typischen zulassungsüberschreitenden Gebrauch (Off-Label-Use) handele, weil die Behandlung mit Strattera im Falle des Klägers im Erwachsenenalter begonnen worden sei. Hierfür habe das streitbefangene Medikament keine Zulassung. Ein unabweisbarer Bedarf einer Pharmakotherapie sei nicht nachgewiesen worden. Ebenso wenig sei erkennbar, dass die verfügbaren vertraglichen (auch nicht medikamentösen) Behandlungen ausgeschöpft worden seien. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Hinweis auf die Ausführungen des MDK mit Widerspruchsbescheid vom 2. August 2005 als unbegründet zurück.

Im Klageverfahren hat der Kläger ein Attest seiner Ärztin vom 16. Februar 2005 vorgelegt und darauf verwiesen, dass er seit nunmehr eineinhalb Jahren erfolgreich auf das Medikament Strattera umgestellt worden sei. In diesem Attest teilte die Ärztin mit, dass der Kläger seit der Behandlung mit Strattera deutliche Entwicklungsfortschritte gemacht habe. Er habe eine Lehrstelle gefunden, er könne ein eigenverantwortliches und selbst bestimmtes Leben führen. Er sei gut sozial integriert und er sei leistungsfähig. Es wäre ein "medizinischer Kunstfehler" das Medikament abzusetzen.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht der Ärztin Dr. med. U. G vom 30. August 2005 sowie eine Auskunft des BfArM vom 23. November 2005 über das Medikament Strattera eingeholt. Wegen der Einzelheiten dieser Auskünfte und Stellungnahme wird auf den jeweiligen Inhalt verwiesen.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 5. Dezember 2006 den Bescheid der Beklagten vom 2. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2005 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger nach ärztlicher Verordnung das Medikament Strattera zu gewähren.

Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Kläger einen Anspruch auf eine Versorgung mit dem Medikament Strattera als Sachleistung habe, weil sich diese Versorgung im Rahmen der Zulassung dieses Medikamentes halte. Nach Auskunft des BfArM vom 23. November 2005 könne die bei Kindern und Jugendlichen begonnene Behandlung mit Strattera im Rahmen der arzneimittelrechtlichen Zulassung auf das Erwachsenenalter ausgedehnt werden. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt. Der Kläger habe das Medikament Strattera erstmals im Alter von 19 Jahren als Heranwachsender in der beruflichen Situation eines Auszubildenden erhalten. Von einem Behandlungsbeginn im Erwachsenenalter könne deshalb nicht ausgegangen werden. Vielmehr handele es sich um eine Behandlung mit Strattera in das Erwachsenenalter hinein.

Gegen den ihr am 11. Dezember 2006 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung der Beklagten vom 22. Dezember 2006. Sie trägt vor, dass die Versorgung des Klägers mit dem Arzneimittel Strattera seit März 2004 bis Juni 2006 im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung auf Kassenrezept erfolgt sei. Eine darüber hinaus gehende Versorgung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung habe durch die bis dahin verordnete Ärztin wegen der Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit nicht erfolgen können. Seitdem habe der Kläger keinen Vertragsarzt gefunden, der bereit gewesen sei, ihm das Medikament Strattera zu verordnen. Der angefochtene Gerichtsbescheid sei auch deshalb aufzuheben, weil das Gericht sie zeitlich unbegrenzt verpflichtet habe, den Kläger mit dem Medikament Strattera zu versorgen. Dies widerspreche der Fachinformation zu dem Arzneimittel Strattera. Darin werde ausgeführt, dass unter bestimmten Voraussetzungen es angemessen sein könne, die Behandlung im Erwachsenenalter hinein fortzuführen. Der Formulierung "ins Erwachsenenalter hinein fortzuführen" bedeute jedoch nicht, dass die Behandlung unbegrenzt auch als Erwachsener fortgeführt werden könne. Im Übrigen sei entgegen der Auffassung des Sozialgerichts die Behandlung des Klägers mit Strattera im Juli 2003 begonnen worden, d. h. zu einem Zeitpunkt, als der Kläger das 19. Lebensjahr vollendet hatte, also er bereits Erwachsener gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass er von Mitte 2006 weiter das Medikament Strattera von seiner Ärztin erhalten habe. Dies seien Musterpackungen gewesen, die ihm von seiner Ärztin überlassen worden seien. Im Januar 2007 habe ihm ein anderer Arzt einmalig, aufgrund der erstinstanzlichen Entscheidung des Sozialgerichts, eine entsprechende Verordnung ausgestellt. Der Arzt habe ihm erklärt, dass es sich hierbei um einen einmaligen Vorgang handele und er sich in psychologische Behandlung begeben müsse.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte gemäß § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 126 SGG in Abwesenheit des Klägers entscheiden, weil dieser in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger nach ärztlicher Verordnung mit dem Arzeimittel Strattera zu versorgen. Der angefochtene Bescheid vom 2. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2005 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung des Medikamentes Strattera als Sachleistung.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 5. Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 SGB V u. a. auch die Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese nicht nach § 34 SGB V von der Leistungspflicht ausgeschlossen sind.

Im vorliegenden Fall scheitert der geltend gemachte Sachleistungsanspruch im Sinne eines in die Zukunft gerichteten Kostenübernahmeanspruchs bereits an dem Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung. Das Erfordernis einer vertragsärztlichen Verordnung ergibt sich bezogen auf den Sachleistungsanspruch vor dem Hintergrund, dass § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i. V. m. § 31 Abs. 1 SGB V keine unmittelbare durchsetzbaren Ansprüche auf Versorgung schlechthin mit irgendwelchen Arzneimittel begründet, sondern lediglich ein ausfüllungsbedürftiges Rahmenrecht. Dieses Rahmenrecht wird unter Beachtung des systematischen Zusammenhangs der §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 SGB V mit § 15 Abs. 1 SGB V (Arztvorbehalt) und § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V (Verordnung von Arzneimitteln) erst dadurch konkretisiert, dass ein Vertragsarzt den Eintritt eines Versicherungsfalls durch Diagnose einer Krankheit feststellt, den Versicherten ein nach Zweck und Art bestimmtes Medikament als ärztliche Behandlungsmaßnahme "verschreibt" und damit die Verantwortung für den Einsatz dieses Arzneimittels übernimmt. Dass es sich bei dem die Verordnung ausstellenden Arzt, der insoweit als Schlüsselfigur der Arzneimittelversorgung bezeichnet werden kann, um eine Vertragsarzt handeln muss, ist im § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V klargestellt, indem alle ärztlichen Verordnungen zum Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung erklärt werden. Nur in deren Rahmen sind die gesetzlichen Krankenkassen zur Versorgung ihrer Versicherten mit entsprechenden Mitteln verpflichtet (vgl. BSG SozR-2500 § 13 Nr. 13 m. w. Nachw.).

Der Kläger hat in Berufungsverfahren eingeräumt, dass er seit der Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit seiner ihn früher behandelnden Ärztin keinen Vertragsarzt gefunden hat, der die Verantwortung für eine Verordnung von Strattera in seinem Fall übernehmen will. Dies bringt den in die Zukunft gerichteten Sachleistungsanspruch zu Fall.

Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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