L 3 U 83/84

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 154/82
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 83/84
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine Bifokalbrille gehört nicht zu den Arbeitsgeräten, sondern zu den privaten Gebrauchsgegenständen.
2. Auf dem Weg zum Augenoptiker in der Mittagspause, um eine augenärztlich verordnete Bifokalbrille abzuholen, besteht kein Versicherungsschutz.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. Dezember 1983 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Folgen eines von der Klägerin erlittenen Unfalls auf dem Rückweg von einem Optiker zur Arbeitsstelle als Arbeitsunfall zu entschädigen.

Ihren Angaben und denen ihres Arbeitgebers, der Nordhessischen GmbH & Co. KG in zufolge, war die Klägerin seit Mai 1980 in dem Geschäft in an der Käsetheke als Verkäuferin tätig. Am 11. Januar 1982 begab sie sich während der von 13.00 Uhr bis 15.00 Uhr andauernden Mittagspause zu einem Augenoptiker in der , um die von dem Augenarzt Dr. E. am 1. August 1981 verordnete Bifokalbrille abzuholen. Auf dem Rückweg stürzte sie in der O.K.straße infolge Glatteises und zog sich dem Durchgangsarztbericht des Dr. M. (Elisabeth-Krankenhaus ) vom 12. Januar 1982 zufolge eine zertrümmerte Oberarmkopffraktur rechts ohne Verschiebung zu. Nach dem ersten Rentengutachten der Dres. M. und F. vom 25. Mai 1982 bestanden am Tag der Untersuchung am 19. April 1982 als wesentliche Unfallfolgen ein ausgeheilter subkapitaler Oberarmbruch rechts mit deutlicher schmerzhafter Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk, Muskelschwäche des rechten Ober- und Unterarmes, verminderte grobe Kraft der rechten Hand bei Defektheilung und Verknöcherung der Gelenkkapsel und deutlicher Kalksalzminderung. Die Dres. M. und F. schätzten die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) deswegen für die Zeit nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung ab dem 1. März 1982 bis zum 19. Mai 1982 mit 20 v.H. ein und hielten danach eine Nachuntersuchung für erforderlich.

Mit Bescheid vom 27. April 1982 lehnte die Beklagte die Gewährung der gesetzlichen Unfallentschädigung ab, da die Klägerin keinen versicherten Arbeitsunfall erlitten habe. Weder habe sie sich auf einem versicherungsrechtlich geschützten Weg befunden, noch könne es sich bei dem Beschaffen einer gewöhnlichen Brille um das Besorgen eines Arbeitsgerätes im Sinne von § 549 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gehandelt haben. Der am 11. Mai 1982 eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Die Beklagte wies ihn mit dem Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 1982 zurück. Die am 30. Juli 1982 erhobene Klage hat das Sozialgericht Kassel (SG) aus den Gründen der angefochtenen Bescheide mit Urteil vom 15. Dezember 1983 abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf die sozialgerichtliche Entscheidung verwiesen.

Gegen das ihr am 22. Dezember 1983 zugestellte Urteil hat die Klägerin bei dem Hessischen Landessozialgericht (HLSG) am 16. Januar 1984 Berufung eingelegt und zu deren Begründung hauptsächlich vorgebracht. Das SG habe den Begriff des Arbeitsgerätes verkannt. Wegen ihrer Kurz- und Weitsichtigkeit sei eine Bifokalbrille notwendig, wie sie von dem Augenarzt Dr. E. zu diesem Zweck auch verordnet worden sei. Sie habe an der Käsetheke Kunden zu bedienen und müsse dabei eine Aufschnittmaschine sowie eine Präzisionswaage benutzen. Die Bifokalbrille sei erforderlich, um einerseits Gewichte sowie Preise ablesen und andererseits die Kunden betrachten und ihre Wünsche erkennen zu können. Da sie für den privaten Gebrauch über jeweils eine Straßen- und eine Lesebrille verfüge, werde die Bifokalbrille hauptsächlich für die Arbeit benutzt. So habe es auch Dr. Elster ausschließlich verordnet. Daß diese Brille auch privat genutzt werden könne, sei im Hinblick auf ihre Zweckbestimmung als Arbeitsbrille unbeachtlich.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel von 15. Dezember 1983 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. April 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juli 1982 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen des am 11. Januar 1982 erlittenen Oberarmkopfbruches rechts als Arbeitsunfall die gesetzliche Unfallentschädigung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil und ihre Bescheide für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden, da sie in der ordnungsgemäß erfolgten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).

Die mangels Ausschließungsgründen statthafte Berufung ist frist- und sorgerecht eingelegt und daher insgesamt zulässig (§§ 143, 144, 145, 151 Abs. 1 SGG).

Sie ist jedoch unbegründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil konnte nicht aufgehoben werden, um das SG diese zu Recht abgewiesen hat. Der Bescheid der Beklagte vom 27. April 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juli 1982 (§ 96) ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat wegen der Folgen des Sturzes vom 11. Januar 1982 keinen Anspruch auf die Gewährung der gesetzlichen Unfallentschädigung, da sie keinen Arbeitsunfall erlitten hat (§§ 548, 343, 550 Abs. 1 RVO).

Zunächst steht es der Senat nach dem Gang des Verwaltungsverfahrens und dem Vorbringen der Klägerin – auch im Streitverfahren – als erwiesen an, daß diese am 11. Januar 1982 auf dem Rückweg von einem Optiker in der Innenstadt zur Arbeitsstelle stürzte und sich einen Oberarmkopfbruch rechts zuzog. Den Weg zur Optiker hatte, wie von der Arbeitsstelle während der Mittagspause angetreten, um eine von dem Augenarzt Dr. am 1. August 1981 verordnete Bifokalbrille abzuholen. Nach dem ersten Rentengutachten der Dres. M. und R. vom 25. Mai 1982 ergibt sich ferner, daß nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung ab der 1. März 1982 bis mindestens zum 19. Juli 1982 wegen der Folgen dieses Unfalls im Grad der MdE um 20 v.H. und als ärztliche Heilbehandlungsmaßnahme wenigstens Bewegungsübungen im Schultergelenk anzunehmen wären. Dem Schließt sich der Senat nach eigener Überprüfung und Meinungsbildung an. Hierüber besteht unter den Beteiligten im übrigen auch kein Streit, insbesondere will die Beklagte das erste Rentengutachten gegen sich gelten lassen. Danach steht fest, daß die Beklagte hinsichtlich der haftungsausfüllenden Kausalität beim Vorliegen eines versicherten Ereignisses verpflichtet wäre, der Klägerin Mindestleistungen zu erbringen, zu der sich der Senat bei Bejahung der haftungsbegründenden Kausalität auf den Erlaß eines Grundurteils beschränken könnte (§ 130 SGG). Die Beklagte würde, wie ausdrücklich festzustellen ist, in dem aufgezeigten Sinne Mindestleistungen erbringen müssen (vgl. BSG, Urteile vom 1. Dezember 1960 – RKn 69/59 – in SozR Nr. 3 zu § 130 SGG; 28. Februar 1961 – 2 RU 155/60 – in SozR Nr. 4 zu § 130 SGG; 31. Januar 1969 – 2 RU 201/67 – in Breithaupt 1969, 835).

Die Beteiligten ziehen indessen zu der Frage, ob die Klägerin sich zur Unfallzeit auf einem versicherten Weg befand, unterschiedliche Folgerungen. Hierzu sieht der Senat weiter als bewiesen an, daß die Klägerin am Unfalltag zunächst von ihrer Wohnung den Weg zur Arbeitsstelle angetreten und dort mit der Arbeit an der Käsetheke begonnen hatte. Am Käsestand bediente sie die Kundschaft, wobei sie eine Aufschnittmaschine und eine Präzisionswaage zu benutzen hatte. Ferner ist erwiesen, daß sie sich von dem Augenarzt Dr. am 1. August 1981 eine Bifokalbrille verordnen ließ, weil sie Weit- und Kurzsichtig ist. Sie verfügte außerdem über eine alte Lese- und Fernsichtbrille (Straßenbrille). Am Unfalltag hatte sie zwischen 13.00 Uhr und 15.00 Uhr Mittagspause. Diese nutzte die Klägerin, um die bestellte Bifokalbrille abzuholen. Dieser erwiesene Sachverhalt ergibt sich aus den Ermittlungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren und den glaubhaften Angaben der Klägerin. Daraus haben sowohl die Beklagte als auch das SG zutreffend den Schluß gezogen, daß die Klägerin bei ihrem Sturz am 11. Januar 1982 nicht gegen Arbeitsunfall versichert war. Es handelt sich vielmehr um eine private, unversicherte Betätigung. Daß die Klägerin sich nicht auf einem Betriebsweg befand (§ 548 RVO) wird selbst von ihr nicht angenommen und ist offensichtlich.

Entgegen ihrer Auffassung handelt es sich bei der von Dr. E. verordneten Bifokalbrille auch nicht um ein Arbeitsgerät im Sinne von § 549 RVO. Zutreffend weist allerdings die Klägerin darauf hin, daß Wege, die im Zusammenhang mit der Verwährung, Beförderung, Instandhaltung und Erneuerung von Arbeitsgeräten stehen, den Versicherungsschutz begründen. Es ist aber auf den Sinn und Zweck der Vorschrift des § 549 RVO abzustellen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 1966 – 2 RU 45/65 – in E 24, 243; 14. November 1974 – 8 RU 3010/79 – in SozR 2200 § 549 RVO Nr. 9; 22. Oktober 1975 – 8 RU 68/75 – in SozR 2200 § 549 RVO Nr. 2; 17. Dezember 1975 – 2 RU 77/75 – in SozR 2200 § 549 RVO Nr. 3 = E 41, 102), der sich der Senat angeschlossen hat (vgl. HLSG, Urteile vom 6. Oktober 1976 – L-3/U – 1167/72 – in RSpDienst 1300 § 549 RVO, S. 1–4; 11. Mai 1983 – L-3/U – 613/82 – m.w.N.), ist nicht jeder Gegenstand, nur weil er zur Verrichtung einer betrieblichen Arbeit gebraucht werden kann, ein Arbeitsgerät im Sinne von § 549 RVO. Vielmehr ist grundsätzlich erforderlich, daß er seiner Zweckbestimmung nach hauptsächlich für die Tätigkeit in dem Unternehmen gebraucht wird (BSG a.a.O. sowie HLSG a.a.O.; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 482 e, Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 8 zu § 549 RVO). So gibt es zahlreiche Gegenstände – z.B. Kleidungsstücke –, deren der Versicherte unbedingt bedarf, um seine Arbeitsstelle aufsuchen und dort seine Arbeit verrichten zu können. Allein deshalb sind diese Gegenstände aber noch kein Arbeitsgerät, was ebenso auf zahlreiche Hilfsmittel (z.B. Prothesen oder Brillen) zutrifft (vgl. BSG, Urteile vom 17. Dezember 1975 – 2 RU 77/75 – in SozR 2200 § 549 RVO Nr. 3 m.w.N.). Hierzu ergibt sich, daß die vom Dr. E. verordnete Bifokalbrille entgegen der Behauptung der Klägerin nicht allein auf die Ausübung der Arbeit bestimmt und notwendig war; insbesondere handelt es sich nicht um eine Schutzbrille, die allein als Arbeitsgerät angesehen werden könnte, sondern um eine ganz gewöhnliche Brille, die als privater Gebrauchsgegenstand anzusehen ist, auch wenn sie bei der Verrichtung der Arbeit nützlich ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 25. Januar 1977 – 2 RU 99/75 – in SozR 2200 § 550 RVO Nr. 25; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 1. September 1954 – II Ua 462/52 – in BG 1965, 133 f.; Bayr. LSG, Urteil vom 12. April 1983 – L-8/U – 266/79 – in BAGUH-Rundschreiben Nr. 37/83; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 60, S. 1; Lauterbach-Watermann, a.a.O.). Die Klägerin hatte bisher schon, nämlich seit Mai 1980 ohne die auch sonst im privaten Bereich benutzbare Bifokalbrille ihre Tätigkeit ausgeübt.

Zutreffend gehen ferner die Beklagte und das SG davon aus, daß die Klägerin auf dem unfallbringenden Weg auch nicht nach § 550 Abs. 1 RVO gegen Arbeitsunfall versichert war. Zwar ist der Versicherungsschutz nach § 550 Abs. 1 RVO nicht auf täglich nur einen einzigen Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit beschränkt, so daß dieser auch bei betrieblich notwendigen Wegen während einer Mittagspause gegeben sein kann. Es ist also bei mehrfachen Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit an einem Tag erforderlich, daß jeder dieser Wege in einem inneren ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht. Dies war hier am Unfalltag nicht der Fall. Hinsichtlich dem Beschaffen einer Brille ist es nämlich unumgänglich, daß diese notwendiger Weise bei der Ausübung der versicherten Tätigkeit gebraucht wird. Kann der Versicherte ohne Brille nicht arbeiten, so stehen die mit der Besorgung einer solchen Brille erforderlichen Handlungen in innerem, ursächlichem Zusammenhang mit der versicherten Arbeit (vgl. BSG, Urteil vom 25. Januar 1977 – 2 RU 99/75 – in SozR 2200 § 550 RVO Nr. 25; Bayr. LSG, a.a.O.). Dann handelt es sich nicht um bloße Vorbereitungshandlungen, die die bloße Arbeitsbereitschaft wie bei jedem anderen Versicherten auch herbeiführen sollen und somit dem unversicherten Bereich zuzurechnen wären. Letzteres war hier aber, wie bereits oben ausgeführt, der Fall.
Rechtskraft
Aus
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