L 4 V 1134/65

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 1134/65
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Befundauswertungen und ähnliche Mitteilungen von medizinisch bedeutsamen Folgerungen durch medizinische Laien können allein keine Grundlage für gerichtliche Feststellungen bilden. Der Laie kann nur konkrete Tatsachen bekunden (z.B. wieviel Tabletten welchen Präparates in welcher Zeit eingenommen wurden), die der medizinische Sachverständige auszuwerten hat.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg/Lahm vom 25. November 1965 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die 1907 geborene Klägerin beantragte am 17. Juli 1961 Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach ihrem am 1904 geborenen und am 7. Mai 1961 verstorbenen Ehemann O. D ... Aufgrund einer Verwundung aus dem 2. Weltkrieg waren bei dem Verstorbenen die Schädigungsfolgen mit Bescheid vom 31. Mai 1950 und Umanerkennungsbescheid vom 3. November 1952 bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. wie folgt bezeichnet: "Zustand nach Granatsplitterverletzung am rechten Hinterkopf mit Hirnverletzung, geringe Gesichtsfeldeinschränkung nach links, seelische Veränderungen, subjektive Beschwerden.”

Im Rahmen seines ambulanten Handels mit Textilien suchte der Kläger die umliegenden Ortschaften von B. mit einem Kraftfahrzeug auf. Dabei erlitt er am Sonnabend, den 14. August 1954 gegen 21.00 Uhr einen Verkehrsunfall. Zu diesem Punkt hatte er nach den ärztlichen Feststellungen eine Blutalkoholkonzentration von 2,9 %. Der Verstorbene gab damals bei seiner polizeilichen Vernehmung an, dass er unter besonders starken Kopfschmerzen gelitten und an dem Unfalltage etwa 12 Kopfschmerztabletten genommen habe, um arbeiten zu können. Er wurde wegen Trunkenheit am Steuer durch Urteil des Landgerichts Marburg (7 Rs 88/54) vom 31. Januar 1955 zu seiner Gefängnisstrafe von vier Wochen verurteilt und ihm die Fahrerlaubnis für sechs Monate entzogen.

Nach dem Leichenschauschein ist der Ehemann der Klägerin in dem Psychiatrischen Krankenhaus M. an einem Kreislaufversagen verstorben, dem eine Pneumonie ursächlich vorausgegangen ist. Entsprechend der Stellungnahme des Vertragsarztes M. unter Hinweis auf den Leichenschauschein eine Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 12. Oktober 1961 ab, da die zum Tode führende Erkrankung nicht mit Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit den anerkannten Schädigungsfolgen gestanden habe.

In dem hiergegen eingeleiteten Widerspruchsverfahren legte die Klägerin ein Attest des Hausarztes Dr. W. in B. vom 22. November 1961 vor. Nach Beiziehen des Sektionsbefundes sah der Versorgungsarzt, Nervenfacharzt Dr. R., am 16. März 1962 den Verwirrtheitszustand des Verstorbenen, der zu seiner Einlieferung in das Psychiatrische Krankenhaus geführt habe, als Ausdruck eines pneumonischen Fiebers und nicht der Hirnverletzung an. Mit Bescheid vom 9. Mai 1962 half der Beklagte dem Widerspruch nicht ab.

Auch der im darauffolgenden Klageverfahren gehörte Prof. Dr. E. F. kam am 23. Juli 1963 zu dem Ergebnis, die Verschlechterung im Befinden des Verstorbenen in den Wochen vor seinem Tode sei auf einen schon mehrere Wochen bestehenden bronchitischen Prozess zurückzuführen, der mit Verwirrtheitszuständen einherging und tödlich verlief. Er verneinte einen Zusammenhang zwischen der Hirnverletzung und dem Tode.

Prof. Dr. L. bezweifelte in dem Gutachten der Medizinischen Universitäts-Poliklinik M. vom 25. Juni 1964 die von Prof. E. gezogenen Schlüsse. Die geringen Fiebertemperaturen des Verstorbenen vor seinem Tode sprächen gegen ein Fieberdelir. Dass die Lungenentzündung zum Tode geführt habe, könne nur verstanden werden, wenn gleichzeitig ein Delir vorgelegen habe, das auch mit den als Schädigungsfolge anerkannten Kopfschmerzen zu tun habe.

In einem weiteren Gutachten des Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. I. unter Mitzeichnung von Dr. Wi. und von dem Chefarzt Prof. Dr. Wa. von der R. Landesklinik für Hirnverletzte in B. vom 9. August 1965 halten es diese für möglich, dass eine cerebrale Beteiligung ein entscheidendes Moment der zum Tode führenden Erkrankung gewesen sei, da die interne Erkrankung nicht sehr erheblich ausgeprägt gewesen sei. Da der Verstorbene wegen seiner Kopfschmerzen häufig starke Schmerzmittel genommen habe, bestehe der Verdacht, dass das Delir aufgrund einer chronischen Intoxikation, möglicherweise infolge langdauernden und starken Tablettengebrauchs, entstanden sei. Die Hirnverletzung an sich sei jedenfalls nicht die unmittelbare Ursache des Delirs, das als wesentliche Todesursache anzusehen sei. Ein Delir infolge chronischer Intoxikation sei jedoch nur dann auf die Hirnverletzungsfolgen zu beziehen, wenn die Kritikfähigkeit infolge der organischen Wesensänderung erheblich eingeschränkt gewesen sei, so dass der Verstorbene die schädigende Wirkung von starkem Medikamentengebrauch nicht einzusehen vermochte. Es habe zwar ein organische Psychosyndrom vorgelegen, das jedoch nicht derartige Ausmaße erreicht haben dürfte. Somit lasse sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Schädigungsleiden und der zum Tode führenden Erkrankung nicht hinreichend wahrscheinlich machen.

Das Sozialgericht Marburg wies die Klage mit seinem Urteil vom 25. November 1965 ab, da die Verwirrtheitszustände des Verstorbenen Folge der Lungenentzündung gewesen seien. Unter der Einwirkung von Subracillin sei das Fieber gedämpft gewesen, womit der Einwand von Prof. L. hinfällig geworden sei.

Die schriftliche Berufung der Klägerin gegen dieses ihr am 3. Dezember 1965 zugestellte Urteil ging am 17. Dezember 1965 beim Hessischen Landessozialgericht ein. Die Klägerin ist der Auffassung, die Widerstandskraft ihres Ehemannes sei durch seine Hirnverletzung herabgesetzt gewesen. Durch sein Kriegsleiden habe er einen schwankenden Gang gehabt. Der Ehemann sei jedoch kein Trinker gewesen. Ihr selbst sei über einen ungewöhnlich hohen Tablettenverbrauch nichts bekannt. Die vom Arzt verschriebenen Tabletten habe sie meist selbst in der Apotheke geholt. Ihr Mann habe sie gegen seine Kopfschmerzen genommen.

Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der angefochtenen Bescheide den Beklagten zu verurteilen, Hinterbliebenenversorgung ab 1. Juni 1961 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Er beruft sich auf die von ihm vorgelegten Stellungnahmen des Versorgungsarztes, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Dr. H., wonach das Delirium zwar als Todesursache anzusehen ist, es aber nicht durch einen schädigungsbedingten Tablettenabusus, sondern durch vermehrten Alkoholkonsum des Verstorbenen entstanden sei. Schließlich liessen sich die vermehrten Kopfschmerzen nicht ohne weiteres als unmittelbare oder mittelbare Folge der Hirnverletzung interpretieren.

Der Senat hat Stellungnahmen der Ärzte eingeholt, die den Ehemann der Klägerin behandelt haben, sowie ein Gutachten des Pathologischen Institutes der Universität M. vom 9. Dezember 1968 und ein weiteres der Universitäts-Nervenklinik und Poliklinik W. vom 16. März 1971, die Klägerin persönlich angehört und ihren Schwiegersohn E. S. als Zeugen vernommen. Durch den ersuchten Richter wurden die Zeugen M., D. und G. gehört.

Der praktische Arzt Dr. S. berichtete in 1966, er habe den Verstorbenen von 1950 bis 1954 behandelt, der über starke Kopfschmerzen geklagte habe. Vielleicht unter dem Einfluss seiner Schmerzen habe er seinerzeit häufig dem Alkohol zugesprochen. Der jetzige Oberstabsarzt B. P. hat den Verstorbenen nach seiner Mitteilung von 1966 von Oktober 1950 bis März 1958 behandelt. Im Vordergrund habe die Behandlung wegen des Kriegsleidens gestanden. Er habe schmerzlindernde Tabletten verordnet. Der Verstorbene habe über Kopfschmerzen, Gesichtsfeldeinschränkungen und Gleichgewichtsstörungen geklagt. Ostern 1961 habe er den Verstorbenen zufällig auf der Strasse getroffen. Er habe einen schwankenden Gang mit der Tendenz gehabt, nach einer Seite zu fallen. Unter Alkoholeinfluss habe der Verstorbene jedoch nicht gestanden, der erklärt habe, dass er vor Kopfschmerzen "kaputtgehe”.

Während Dr. S. und Oberstabsarzt B.-P. über Verwirrtheitszustände des Verstorbenen nichts bekannt war, berichtete hierüber Frau Dr. med. C., die den Verstorbenen von Januar 1959 bis Januar 1960 behandelt hat. Sie hat Medikamente "wegen alter Hirnverletzung” verabfolgt. Der Verstorbene klagte bei ihr über Kopfschmerzen, Schwindel und Ohnmachten. Bei Dr. W. klagte er in der Zeit vom 21. Juni 1960 bis Mai 1961 über Folgen seiner Hirnverletzung, die mit Medikamenten behandelt wurden. Nach der Mitteilung des Dr. W. vom 29. März 1966 hatte die Klägerin lange vor dem Tode ihres Mannes über dessen Verwirrtheitszustände und heftigste Kopfschmerzen berichtet und mitgeteilt, dass er sehr viel Kopfschmerzentabletten verbrauche, die er sich selbst in der Apotheke kaufe.

Hinsichtlich seiner Angaben über Alkoholgenuss des Verstorbenen verwies Dr. S. im August 1966 darauf, dass er an die lange zurückliegenden Tatsachen nur noch eine sehr lückenhafte Erinnerung habe, da der Verstorbene ab 1954 nicht mehr in seiner Behandlung gewesen sei. Der Arzt verwies lediglich auf den auf den Autounfall im Jahre 1954.

Am 9. Dezember 1968 nahmen Prof. Dr. G. und Priv. Doz. Dr. S.-M. vom Pathologischen Institut M. an, dass der Tod des Ehemannes der Klägerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Folge seinen Schädigungsleidens sei, da der tödliche Verlauf der Bronchitis und doppelseitigen Lungenentzündung durch ein delirantes Zustandsbild wesentlich begünstigt bzw. ausgelöst worden sei. Dieser Verwirrtheitszustand sei mit hoher Wahrscheinlichkeit Folge eines starken Gebrauches von Medikamenten, die der verstorbene zur Linderung seiner durch die Hirnverletzung verursachten Kopfschmerzen und cerebralen Beschwerden eingenommen habe.

Nach der Zeugenvernehmung durch den ersuchten Richter erstatteten nunmehr Prof. Dr. Sch. und die Assistenzärztin Dr. K. von der Universitäts-Nervenklinik und Poliklinik W. das Gutachten vom 16. März 1971. Sie führen aus, dass der Verstorbene unter recht erheblichen Kopfschmerzen gelitten haben müsse, was durch die im Obduktionsbefund nachgewiesenen ausgedehnten narbigen Veränderungen und einen Substanzdefekt zu erklären sei. Mit grösster Wahrscheinlichkeit habe bei ihm eine Sucht nicht vorgelegen, für die ein Anlagefaktor als wesentliche Ursache angenommen werden müsse, sondern eine Gewöhnung an Kopfschmerztabletten. Insbesondere solche, die Phenacetin enthielten, hätte die Kopfschmerzen noch verstärkt. Dies sei oft bei Schädelhirnverletzten zu beobachten, die sich so gut wie niemals aus eigener Kraft hieraus befreien könnten. Der Verstorbene habe sich somit mindestens in den letzten Jahren mehr oder weniger in einem dauernden Intoxikationszustand befunden. So erkläre sich auch der schwankende Gang, den einige Zeugen beobachtet hätten. Wenn der Verstorbene auch ziemlich regelmässig dem Alkohol zugesprochen habe, so könne der Alkoholkonsum bei der Entstehung und dem Verlauf der zum Tode führenden Erkrankung möglicherweise mitwirksam aber nicht entscheidend gewesen sein. Die bei der Obduktion gefundenen Veränderungen reichten völlig aus, um zwischen Kopfschmerzen und Medikamentengebrauch einen adäquaten Zusammenhang feststellen zu können.

Ohne die delirante Psychose, die sich über Jahre hinaus entwickelt habe, sei der Tod nicht erfolgt. Diese Psychose sei im Gegensatz zu der Auffassung von Prof. E. nicht Folge der Pneumonie gewesen, sondern umgekehrt die Pneumonie ursächlich auf das Delir zurückzuführen, was auch der Beurteilung durch Prof. L. entspreche. Die gleichen Folgen eines Arzneimittelmissbrauches würden auch bei Verletzten auftreten, die keine Hirnverletzung hätten, wie bei Amputierten, die unter Neuroschmerzen leiden, bei denen ebenfalls nicht von einer Sucht gesprochen werden könne. Somit sei der Tod des Verstorbenen mit Wahrscheinlichkeit ursächlich mittelbar auf die anerkannten Schädigungsfolgen wesentlich zurückzuführen.

Der Nervenfacharzt Dr. H. meinte dazu, man könne dem nicht folgen, wenn das delirante Zustandsbild auf einen starken Medikamentengebrauch aus Anlass der Schädelverletzung zurückgeführt werde. Der von Dr. S. bestätigte Alkoholabusus sei indessen als überwiegende Ursache anzusehen. Da sich die von einer traumatischen Hirnschädigung ausgehenden Beschwerden in allgemeinen stationär verhielten, sei die gegebene Begründung für die angenommene progrediente Erhöhung der Dosis von schmerzstillenden Mitteln nicht überzeugend. Im Rahmen eines Alkoholmissbrauchs komme es zu deliranten Zustandbildern, bei Medikamentenmissbrauch mit schmerzstillenden Mitteln aber sehr selten. Der zunehmende Kräfteverfall des Verstorbenen weise ebenfalls mehr auf einen Alkoholkonsum als auf Intoxikationsfolgen hin.

Der Schwiegersohn der Klägerin E. S. hat als Zeuge bekundet, dass er seinen verstorbenen Schwiegervater seit 1954 gekannt habe, der gegen seine Kopfschmerzen oft Tabletten eingenommen habe. Der Verstorbene sei selten stark betrunken gewesen. Man könne ihn keinesfalls einen Trinker nennen. Einen schwankenden, unsicheren Gang habe er öfters bei dem Verstorbenen beobachtet. Der Zeuge M., der in der Nachbarschaft der Klägerin eine Gaststätte betreibt, hat erklärt, der Ehemann der Klägerin habe ihm bei Festen oder Tanzveranstaltungen hinter der Theke geholfen. Er sei sehr zuverlässig gewesen. Nur gelegentlich habe er ihn in leicht angetrunkenem Zustand bei geselligen Zusammenkünften innerhalb des Gesangvereines gesehen, wenn Runden getrunken worden seien. Von den anderen habe er sich hierbei nicht unterschieden. Andere Gastwirtschaften in dem gleichen Ort habe der Verstorbene nicht besucht. Bei der Mithilfe hinter der Theke habe er kaum etwas getrunken. Donnerstags sei er mit zu einem Stammtisch in seine Gaststätte gekommen. Hierbei hätten alle Stammtischteilnehmer die gleiche Alkoholmenge genossen. Beim Grenzgangsfest in B. habe er zusammen mit dem Verstorbenen zu der Ordnergruppe gehört, der sich im Alkoholgenuss zurückgehalten habe. Er sei morgens oft zu ihm in die Gastwirtschaft gekommen, ohne Alkohol zu trinken und habe gelegentlich über Kopfschmerzen geklagt, die meistens vor einem Wetterwechsel auftraten. Diese Schmerzen hätten so zugenommen, dass er in den letzten 11 Jahren eigentlich dauernd Kopfschmerzen gehabt habe. Das Interesse für Geselligkeit habe er hierbei immer mehr verloren. Er habe auch, wenn er morgens nach dem Postabholen in die Gastwirtschaft des Zeugen gekommen sei, gesagt, er habe wieder einmal die ganze Nacht nicht wegen seiner Kopfschmerzen geschlafen. Über die Einnahme schmerzstillender Mittel könne er nichts aussagen. In der letzten Zeit vor dem Tode habe er morgens einen schwankenden Gang bei dem Verstorbenen beobachtet. Auch der Kolonialwarenhändler W. habe etwa ein halbes Jahr vor dem Tode des Ehemannes der Klägerin einen schwankenden Gang an ihm schon am Morgen bemerkt, dann aber festgestellt, dass der Verstorbene nicht nach Alkohol roch. Er habe vielmehr über starke Kopfschmerzen geklagt.

Der Zeuge D. hat bekundet, dass er häufig mit dem Verstorbenen zusammen gewesen sei. Er habe den Verstorbenen einmal in der Woche abends oder am Wochenende in der Gastwirtschaft M. getroffen. Jeder habe dann zwei bis drei Glas Bier und ebensoviel Schnäpse getrunken. Zum Abendessen seien sie dann wieder zu Hause gewesen. Einen Alkoholmissbrauch habe er bei dem Verstorbenen nicht festgestellt. Der Verstorbene habe nach dem Kriege ständig über Schmerzen geklagt. Über die Einnahme von schmerzstillenden Mitteln könne er nicht aussagen. In den letzten Jahren seines Lebens habe der Verstorbene öfters geschwankt, ohne dass man einen Geruch nach Alkohol bei ihm habe feststellen können. Der Verstorbene habe in dieser Zeit auch bei Unterhaltungen plötzlich nicht mehr gewusst, worüber gesprochen worden war. Wenn er mit dem Verstorbenen zusammen Fischen gegangen sei, habe sich dieser öfters wegen seines Schwankens festhalten müssen.

Als Zeuge wurde auch noch H. G. vernommen, der seit 1967 Bürgermeister in B. ist, welches Amt vorher sein Vater hatte. Er will von niemanden etwas über ein etwaiges Angetrunkensein des Verstorbenen gehört haben war allerdings von 1958 bis 1962 als Fernfahrer nur über das Wochenende zu Hause.

Der Vater dieses Zeugen namens A.G., der vor ihm Bürgermeister in B. war, hat am 9. Dezember 1971 vor dem Senat bekundet, dass der Verstorbene nicht zu der Gruppe der ausgesprochenen Trinker in dem 1800 Einwohner zählenden B. gehört habe, besonders sei über ihn im Dorf nicht geredet worden.

Am gleichen Tage wurde Prof. Dr. Sch. zur Ergänzung seines Gutachtens vor dem Senat als Sachverständiger gehört. Er führte aus, dass ein deliranter Verwirrtheitszustand in 90 % der von ihm beobachteten Fälle auf einem vorangegangenen Alkoholabusus beruht habe. Das Delir trete dann auf, wenn die Alkoholzufuhr unterbrochen werde. Wenn der Verstorbene im Jahre 1954 bei einem Verkehrsunfall zu einem Blutalkoholgehalt von 2,9 % noch 12 Kommotionaltabletten vertragen habe, so müsse er an das entsprechende Medikament durch Missbrauch gewöhnt gewesen sein. Ein Alkoholgenuss, der zum Schwanken und zu Einwirkungen führe, die ein Delir zur Folge hätten, müsse regelmässig durch den Atem bemerkbar sein. Bis zur Auslösung eines Delirs müsse ein 10 Jahre andauernder Alkoholmissbrauch vorliegen. Die Auslösung eines Delirs durch Tablettenmissbrauch sei dagegen zeitlichen Schwankungen unterworfen. Bei dem Verstorbenen spreche mehr für eine Tablettenkomponente als für eine Alkoholkomponente zur Entstehung des Delirs. Beide Komponenten könnten auch kumulierend gewirkt haben, wobei aber die Tablettenkomponente überwogen habe. Auf Grund rein medizinischer Tatsachen sei dies allerdings nicht festzustellen, so müsse aber aus den Zeugenaussagen gefolgert werden. Auch habe eine in Prozenten nicht abschätzbare Mitwirkung der Hirnverletzung bei dem schliesslichen Delir vorgelegen. Er betone, dass ihm als Facharzt eine gewisse Beurteilungskraft zur Zeugenaussage bei Abgabe des Gutachtens nicht abgesprochen werden dürfe.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Streitakte in beiden Rechtszügen, den der Versorgungsakte – Grundlisten-Nr. – der Witwenakte – Antragslisten-Nr. – und der Akte des Amtsgerichts Marburg – Az.: 4 De 192/54 – Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten gelangte in der mündlichen Verhandlung zum Vortrag.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Sozialgericht Marburg hat im Ergebnis zu Recht die Klage abgewiesen. Nach Auffassung des Senates kann in Übereinstimmung mit der schließlich auch vom Beklagten geteilten Auffassung des Sachverständigen Prof. Sch. davon ausgegangen werden, dass der Beschädigte an einem Delir verstorben ist. Indessen ist nicht wahrscheinlich zu machen, dass das Delir überwiegend oder gleichwertig mit anderen Ursachen durch einen schädigungsbedingten Tablettenmissbrauch verursacht ist. Als Folge dieser Beweislosigkeit ist daher die Klage zu Recht abgewiesen worden.

Zunächst ist nach den übereinstimmenden ärztlichen Bekundungen der Beschädigte nicht "am” einer Schädigungsfolge verstorben (§ 38 Abs. 1 Satz 2 BVG). Aber auch darüber hinaus ist kein Nachweis für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Kriegsdienst des Beschädigten und seinem Ableben erweislich. Dem entspricht auch weitgehend das pathologische Gutachten von Prof. Dr. G. und Priv. Doz. Dr. Sc.-M. vom 9. Dezember 1968.

Es ist davon auszugehen, dass neben einem nach der Bekundung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Sch. nicht messbaren Anteil der Hirnverletzung an der Entstehung des hier vorliegenden Delirs als dessen Hauptursachen nur ein Alkoholabusus oder ein Medikamentenmissbrauch in Frage kommen. Dass ein Alkoholmissbrauch keinen kriegsdienstbedingten Ursprung hätte, ist von den medizinischen Sachverständigen übereinstimmend vorausgesetzt. Es war daher zu prüfen, ob das in Rede stehende Delir wahrscheinlich durch einen Medikamentenmissbrauch verursacht wurde und ob, im Falle der Bejahung, dieser Missbrauch überwiegend kriegsdienstbedingt, hier im besonderen durch die anerkannte Hirnverletzung bedingt wurde. Als wahrscheinlich gemacht konnten aber nur solche Zusammenhänge angesehen werden, für die Ärzte der R. Landesklinik und Prof. E., die von Prof. Sch. bekundete Tatsache, dass "Schmerzen” kaum objektivierbar sind und der von Dr. H. betonten cerebralen Komponenten bestehen schon starke Bedenken gegen die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges zwischen der Medikamenteneinnahme und – in ihrer subjektiven Intensität noch weniger objektivierbarer – Schmerzen.

In diesen Zusammenhang wäre, da bei dem Beschädigten u.a. "subjektive Beschwerden” als Schädigungsfolge anerkannt waren, bei so erheblichen Kopfschmerzen, wie sie der Verstorbene nach Darstellung einiger Zeugen gehabt haben soll, nicht verständlich, dass er nicht versucht hat, wegen Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen eine höhere Rechte zu bekommen. Die hierfür von dem Arzt B.P. in seiner ärztlichen Bescheinigung vom 6. Juni 1962 gegebene Begründung, der Verstorbene habe befürchtet, bei einer Nachuntersuchung den für seinen Geschäftsbetrieb unbedingt notwendigen Führerschein dann evtl. zu verlieren, erscheint hierfür nicht als ausreichende Entschuldigung. Dem Verstorbenen hätte bekannt sein müssen bzw. hätte er bei entsprechenden Nachforschungen erfahren können, dass viel mehr als lediglich um 50 v.H. erwerbsgeminderte Hirnverletzte einen Führerschein haben und ihn auch trotz häufigerer Nachuntersuchung durch die Versorgungsverwaltung behalten.

Ebenso ist es auch nicht erklärlich, warum der Verstorbene wenn er wirklich so erhebliche Kopfschmerzen über Jahre hinaus gehabt haben sollte, nicht eine Badekur bei der Versorgungsverwaltung zur Linderung seiner Beschwerden in Anspruch genommen hat. Noch bei seiner Untersuchung durch den Amtsarzt in B. am 12. März 1956 hat der Verstorbene nicht von "unerträglichen” Kopfschmerzen gesprochen, sondern nur angegeben, dass er des öfteren, insbesondere bei Witterungsumschlag unter Kopfschmerzen zu leiden habe. Dies deutet darauf hin, dass die Kopfschmerzen das sonst bei Hirnverletzten mit einer MdE um 50 v.H. übliche Maß nicht überstiegen haben. Der Amtsarzt hat den Kläger damals auch durchaus für die Dauer von 4 Wochen als strafhaftfähig angesehen, als er eine 4-wöchige Gefängnisstrafe wegen des Verkehrsunfalles im Jahre 1954 absitzen musste.

Indessen spricht nach dem Ermittlungsergebnis nicht mehr dafür, dass das Delir tablettenabususbedingt als alkoholabususbedingt gewesen ist. Zwar glaubt Prof. Sch. auf Grund seiner Erfahrung als Arzt auch ohne objektiv greifbare Befunde den Angaben der Klägerin, des Beschädigten und der Zeugen, einen Tablettenmissbrauch als Delirursache bejahen zu können, doch selbst er meint, eine Kumulierung des Tabletteneinflusses durch Alkoholabusus in Erwägung ziehen zu müssen, ohne naturgemäß dies qualitativ abgrenzen zu können. Soweit er sich dabei auf Abgaben medizinischer Laien stützt, zieht Prof. Sch. ihm nicht zustehende rechtliche Folgerungen (vgl. BSG im Urteil vom 9.5.67 – 8 RV 913/65 und Panse in "deutsches Ärzteblatt” 1962, Heft 20). Das muss umso mehr gelten, als diese Zeugen keine exakten Angaben über die Einnahme einer bestimmten Anzahl und bestimmten Art von Tabletten für einen bestimmten Zeitraum glaubwürdig machen konnten. So haben sich die Zeugen S., M., D. und die beiden G. zu der Art (Name des Präparates) und die Häufigkeit der eingenommenen Medikamente überhaupt nicht konkret geäussert. Der Zeuge S. hat lediglich bekundet, dass der Verstorbene "oft Tabletten eingenommen” habe, während der Zeuge M. über die Einnahme schmerzstillender Mittel überhaupt nicht aussagen konnte. Es ist besonders erstaunlich, dass gerade der Zeuge M., der in unmittelbarer Nachbarschaft des Verstorbenen eine Gastwirtschaft hatte und zu dem der Verstorbene auch angeblich oft gekommen ist ohne Alkohol zu trinken, überhaupt nichts über die Einnahme schmerzstillender Mittel durch den Verstorbenen aussagen kann, zumal dieser ihm gegenüber gelegentlich und in den letzten 11 Jahren seines Lebens dauernd über Kopfschmerzen geklagt haben soll. Auch der Zeuge D. als Stammtischkollege und Angelfreund des Verstorbenen hat über die Einnahme schmerzstillender Mittel nichts aussagen können, während es anderseits verständlich ist, dass die beiden Zeugen A. und H. G. hierüber nichts konkreten wussten, da sie mit dem Verstorbenen nicht näher bekannt waren.

Für den Nachweis eines angeblichen Tablettenabusus kann auch die Aussage des Verstorbenen, am Tage des Verkehrsunfalles vom 14. August 1954 habe er ca. 12 Kopfschmerztabletten eingenommen, nichts beitragen, zumal dies schon in dem Strafverfahren als Schutzbehauptung des Verstorbenen aufgefasst wurde. Er war damals vielleicht der Auffassung, die Blutalkoholkonzentration könne bei Einnahme so vieler Tabletten nicht festgestellt werden, was seinerzeit jedoch der Amtsarzt in Abrede stellte. Schließlich kann auch nicht unbeachtet bleiben, dass die Klägerin noch im Berufungsverfahren vorgetragen hat, ihr sei über einen ungewöhnlich hohen Tablettenverbrauch des Verstorbenen nicht bekannt.

Aber auch durch die Bekundung der Ärzte, die den Verstorbenen behandelt haben, lassen sich keine zuverlässigen Schlüsse auf einen Tablettenabusus ziehen. Der praktische Arzt Dr. S., der den Verstorbenen von 1950 bis 1954 behandelt hat, hat zwar in 1966 bescheinigt, dass der Kläger über Kopfschmerzen bei ihm geklagt habe, er hat aber hieraus nicht die Folgerung eines Tablettenabusus, sondern mehr die eines Alkoholabusus gezogen, wenn er auch in einer weiteren Bescheinigung vom August 1966 dies unter Hinweis auf eine nur noch sehr lückenhafte Erinnerung abgeschwächt hat. Hinsichtlich seiner Vermutung auf grösseren Alkoholgenuss des Verstorbenen hat Dr. S. dann auf den erwähnten Autounfall im Jahre 1954 verwiesen.

Der jetzige Oberstabarzt B.-P., der den Verstorbenen vom Oktober bis März 1958 nach seiner Mitteilung von 1966 behandelt hat, hat schmerzstillende Tabletten verordnet; über den Umfang der Tablettenverordnung hat jedoch der Arzt nichts Konkretes bekundet. Auch die noch zuletzt überreichte ärztliche Bescheinigung dieses Arztes vom 6. Juni 1962 enthält hierüber nichts. Frau Dr. C., die den Verstorbenen vom Januar 1959 bis zum Januar 1960 behandelt hat, und Dr. W., dessen Behandlung sich vom 21. Juni 1960 bis zum 1. Mai 1961 erstreckte, haben über den Umfang ihrer Verordnungen nichts bekundet, wenn auch Dr. W. am 29. März 1966 bescheinigt hat, dass ihm die Klägerin über heftigste Kopfschmerzen des Verstorbenen lange vor dessen Tode berichtet und ihm mitgeteilt habe, dass er sehr viele Kopfschmerztabletten verbrauche, die er sich selbst in der Apotheke kaufe.

All das geht über gewisse Anhaltspunkte dafür, dass der Ehemann der Klägerin teilweise unter sehr starken Kopfschmerzen gelitten hat und er auch zeitweise in stärkerem Umfang Tabletten hiergegen eingenommen haben mag, nicht hinaus und reicht nicht aus, um einen Tablettenabusus festzustellen, der mindestens gleichwertig mit anderen Ursachen zur Entstehung des Delirs geführt hätte.

Vielmehr ist möglich, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit erwiesen, dass der Verstorbene einen Alkoholabusus betrieben hat. Zwar hat keiner der Zeugen den Kläger als einen ausgesprochenen Trinker hingestellt; im Gegenteil wurde dies von den Zeugen übereinstimmend verneint, soweit sie sich hierzu überhaupt geäussert haben. Andererseits ist aber auch zu bedenken, dass nach der ärztlichen Erfahrung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Sch. die Entstehung eines Delirs in 90 % der Fälle durch Alkoholabusus und nur in 10 % der Fälle durch Tablettenmissbrauch entsteht und eine Kumulierung der Entstehungsursachen durch Tabletten- und Alkoholabusus erfolgt. Dazu kommt die Tatsache, durch anlässlich des Strafverfahrens für 1954 eine recht beträchtliche Alkoholmenge beim Beschädigten festgestellt worden war und dass auch hier die obigen Ausführungen zur Feststellung durch medizinische Laien, wenn auch im umgekehrten Sinne, gelten. Es ist durchaus möglich, dass, auch wenn Prof. Sch. diese Meinung nicht teilt, das Nichtbemerken von Alkohol im Atem schon wegen der verschiedenen Empfindlichkeit des Beobachtenden im Geruchssinn, keinen sicheren negativen Nachweis darstellt.

Nach alledem lässt es sich nicht mehr aufklären, was die wesentliche Ursache für die Entstehung des Delirs gewesen ist. Insbesondere lässt es sich nicht begründen, dass ein schädigungsbedingter Tablettenmissbrauch zuzüglich einer in der Hirnverletzung zu sehenden nicht messbaren Komponente überwiegende Ursache oder gleichwertige Ursache neben anderen Ursachen für die Entstehung des Delirs gewesen ist.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung würde aus § 193 SGG gewonnen.
Rechtskraft
Aus
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