L 4 V 113/72

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 113/72
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Der Erlaß des BMA vom 29.11.1967 ist dahin ergänzend auszulegen, dass der Weg zu jeder angeordneten Behandlungsmaßnahme im Rahmen der Badekur geschützt ist.
2) Dem nicht geschützten eigenmächtigen Abweichen von dem vorgesehenen Weg steht es gleich, wenn der Beschädigte zu Fuß geht, anstatt das vorgeschriebene Verkehrsmittel – hier eine Bergbahn – zu benutzen.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 25. November 1971 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 1924 geborene Kläger erhält Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. gemäß § 1 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen:

"Steckschuß im linken 11. Brustwirbelkörper mit Veränderung der 10. Brustwirbelbandscheibe, ausgedehnte Schwartenbildung rechts als Folge einer Lungenschußverletzung, deutliche Brustkorbverunstaltung.”

Eine ihm von dem Beklagten bewilligte Badekur in B. trat der Kläger am 23. Juli 1968 an. Zwei Tage später fuhr er mit einer Bergbahn auf den in der Nähe von B. gelegenen Malberg. Den Rückweg nach B. legte der Kläger zu Fuß zurück. Er rutschte hierbei aus, fiel einen Abhang herunter und brach sich den linken Arm.

Im August 1968 beantragte er, die Folgen dieses Unfalles als Schädigungsfolge nach dem BVG anzuerkennen. Bei der Untersuchung durch Reg.-Med.-Rat Dr. S. zu dem Gutachten vom 25. September 1968 erklärte der Kläger, es habe an dem Unfalltage stark geregnet. Erst als der Regen gegen 15.00 Uhr aufhörte, habe man sich zu dem Ausflug entschlossen. Der Weg sei noch sehr naß gewesen. Dr. S. kam zu dem Ergebnis, es sei unwahrscheinlich, daß die Schädigungsfolgen eine wesentliche Bedingung für den Sturz bildeten. Hierfür seien andere, äußere Faktoren ausschlaggebend gewesen. Mit Bescheid vom 7. Oktober 1968 lehnte das Versorgungsamt G. es ab, den Unfall als einem zur Heilbehandlung wegen der Schädigungsfolgen notwendigen Weg ereignet habe.

Mit dem Widerspruch behauptete der Kläger, auf Grund einer von dem Badearzt ausgestellten Bescheinigung habe er wie auch die übrigen zur Badekur weilenden Beschädigten von der Kurverwaltung sechs Freikarten zur Benutzung der M.bahn erhalten. Er habe zusammen mit zwei Kameraden die M.bahn nicht wieder zur Abfahrt benutzt, um die frische Luft besser zu nutzen und so zu einem besseren Kurerfolg zu kommen. Ohne die Freikarten wäre er an diesem Tage höchstwahrscheinlich nicht auf den M. gefahren. Der Beklagte half dem Widerspruch mit Bescheid vom 15. November 1968 nicht ab, da es sich bei dem vom Kläger durchgeführten Ausflug nicht um einen angeordneten notwendigen Weg oder um eine zur Badekur gehörende Maßnahme gehandelt habe.

Auf die Klage holte das Sozialgericht Gießen eine Auskunft bei Dr. med. H. W. B., ein, worauf dieser Arzt unter dem 30. Juni 1970 mitteilte, daß er die Freikarten für die M.bahn ausgestellt habe, diese Fahrten wegen des Höhen- und Taltrainings zur Kurbehandlung gehörten und Ausflüge wie ihn der Kläger am Fahrttag unternommen habe, mit Rücksicht auf das Bronchialleiden und die anerkannten Schädigungsfolgen ärztlich geboten waren. Die dem Arzt vom Sozialgericht später gestellten Fragen, ob es dem Kläger verboten war, den Rückweg zu Fuß anzutreten und ob zu dem Höhen- und Taltraining auch Spaziergänge wie der vom Kläger ausgeführte Abstieg vom M. gehörten, beantwortete Dr. W. nicht, obwohl er noch zweimal an die Erledigung der Antrage erinnert wurde.

Entsprechend dem von dem Facharzt für Chirurgie Dr. L. unter dem 13. August 1971 erstatteten Gutachten verurteilte das Sozialgericht Gießen den Beklagten antragsgemäß unter Aufhebung des Bescheides vom 7. Oktober 1968 und des Widerspruchsbescheides vom 15. November 1968, dem Kläger für die Zeit vom 1. August 1968 bis 30. September 1968 Rente nach einer MdE um 100 v.H., für die Zeit vom 1. Oktober 1968 bis 31. Dezember 1968 nach einer MdE um 80 v.H. und ab 1. Januar 1969 Rente nach einer MdE um 70 v.H. unter zusätzlicher Anerkennung von "leichte Streck- und Beugehemmung des linken Ellenbogengelenkes, geringfügige Hemmung der endgradigen Unterarmdrehbewegungen” zu gewähren. Es nahm an, daß dem Kläger bei dem ihm verordneten Höhen- und Taltraining ein Abstieg zu Fuß ärztlicherseits nicht verboten und sicherlich sinnvoller als die Abfahrt mit der Bahn war. Für die Unfallfolgen sei deshalb Versorgung gemäß § 1 Abs. 2 Buchst. e BVG in der Fassung des 3. Neuordnungsgesetzes (NOG) bzw. gemäß § 1 Abs. 2 Buchst. e und f BVG in der Fassung des 1. Anpassungsgesetzes vom 26. Januar 1970 zu gewähren.

Die schriftliche Berufung des Beklagten gegen dieses, ihm am 17. Januar 1972 zugestellte Urteil, ging am 4. Februar 1972 beim Hessischen Landessozialgericht ein. Der Beklagte verweist darauf, der Kläger habe nach seiner eigenen Darstellung im Widerspruchsverfahren auf Grund einer von Badearzt ausgestellten Bescheinigung ebenso wie die übrigen zur Kur weilenden Beschädigten von der Kurverwaltung die sechs Freikarten erhalten. Hierbei handele es sich nicht um eine gezielte Kurmaßnahme. Das Höhen- und Taltraining sei auch nicht wegen der Schädigungsfolgen verordnet worden. Der gesetzliche Unfallschutz erstrecke sich nicht auf Spazierwege während der Badekur, sondern nur auf den Kreis der Leistungen der Heilbehandlung in engerem Sinne, wie dies in dem Rundschreiben des BMA vom 29. August 1967 (BVBl. 1967 S. 118) zum Ausdruck komme. Auch bei den Versehrten-Leibesübungen stehe nur eine Gruppenbehandlung unter dem Schutz des BVG, jedoch nicht der von den einzelnen Schwerbeschädigten ausgeübte Sport.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 25. November 1971 – S-7/V – 409/68 aufzuhaben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, daß er lediglich den Anordnungen des Badearztes Folge geleistet habe und bittet deshalb, das "von Dr. W., B., abgefaßte Gutachten nochmals anzufordern.”

Wegen der näheren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Streitakten in beiden Rechtszügen und die Versorgungsakten über den Kläger, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist auch statthaft, da sie zwar eine Neufeststellung im Sinne des § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) betrifft, aber einmal der ursächliche Zusammenhang der aus den Unfallfolgen resultierenden Gesundheitsstörungen des Klägers mit einer Schädigung im Sinne des BVG (§ 150 Nr. 3 SGG) und zum anderen wesentliche Verfahrensmängel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG vorliegen. Das Sozialgericht hätte sich damit auseinandersetzen müssen, warum es die von ihm angeordnete Beweiserhebung durch nochmaliges Befragen des Dr. W. nicht durchführte und es hätte angeben müssen, auf welche Stelle es seine Auffassung stützte, ein Abstieg sei sicher sinnvoller gewesen als eine Abfahrt mit der Bahn bzw. warum es die Ausdrucksweise "sicher” wählte anstatt für oder gegen Stellung zu nehmen.

Die Berufung ist auch begründet.

Die Frage, ob das dem Kläger verordnete Höhen- und Taltraining durch sechsmalige Benutzung der M.bahn und Ausgabe der entsprechenden Freikarten, eine Kurmaßnahme im engeren Sinne gewesen ist, kann dahin gestellt bleiben, da der Kläger diese Kurmaßnahme – falls es sich überhaupt um eine solche im Versorgungsrechtlichen Sinne gehandelt hat – nicht so wie vorgesehen ausgeführt hat. Die Freifahrtkarte war dem Kläger sowohl für die Bergfahrt wie auch für die Talfahrt gewährt worden. Der Entschluß des Klägers, von dem M. zu Fuß nach B. herunter zu gehen, obwohl es nach seiner Darstellung lange an dem gleichen Tag geregnet hatte und die Wege noch naß waren, beruhte auf einer eigenen Willensbildung des Klägers und der beiden ihn begleitenden Kameraden.

Er wich damit von der vorgesehenen "Kurmaßnahme” ab, zum Zwecke des Höhen- und Taltrainings mit der Zahnradbahn auf den M. hinauf zu fahren und auf die gleiche Weise wieder nach B. herunter zu fahren.

Der Kläger hat sich damit von den durch Ausgabe von Freikarten für die Berg- und Talfahrt ausreichend umgrenzten ärztlichen Anweisungen entfernt und sich aufgrund eigener Überlegungen in das Risiko begeben, einen Bergabstieg bei nassen Wegen vorzunehmen. Er hat sich damit aus dem versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand einer möglichen Unfalls bei Ausführung der "Kurmaßnahmen” gelöst; ohne dieses eigenmächtige Handeln wäre der Unfall nicht erfolgt. Wesentliche Ursache für diesen war diese Lösung, nicht die Anordnung oder Durchführung einer Heilmaßnahme. Er kann deshalb für die Folgen dieses Unfalls weder nach § 1 Abs. 2 Buchst. e) BVG in der Fassung des 3. NOG noch in der des ersten Anpassungsgesetzes entschädigt werden. Bei dieser Sachlage kommt es nicht darauf an, ob es dem Kläger ausdrücklich verboten gewesen ist, den Rückweg vom M. zu Fuß anzutreten. Bei Durchführung einer Kur können nicht alle denkbaren Maßnahmen, die dem Kurzweg zuwiderlaufen oder den Kurpatienten einer vermeidbaren Gefahr aussetzen, ausdrücklich verboten werden. Deshalb kann auch dahingestellt bleiben, ob der Abstieg zu Fuß von dem M. bei Boden sinnvoll war oder nicht. Aus eigenen laienhaften Überlegungen eines Versorgungsberechtigten darüber, was für ihn sinnvoll ist, ergibt sich kein Versorgungsrechtlicher Schutz.

Schließlich kann auch nicht unbeachtet bleiben, daß im Rahmen einer Badekur dem Schwerbeschädigten auch eine gewisse private Freiheitssphäre einzuräumen ist und nicht jede Tätigkeit, die er hierbei ausübt, den Schutz des BVG genießen kann. Deshalb sah sich der Bundesarbeitsminister mit seinem Erlaß vom 29. August 1967 (BVers. Bl. S. 118) veranlaßt, den Schutz als bei einer Badekur auf Unfälle auf dem Hin- und Rückweg zur Kur und bei der unmittelbaren Durchführung der Stationären Behandlungsmaßnahmen am Badeort ausgedehnt zu bezeichnen. Der Erlaß ist aber noch ergänzend dahin auszulegen, daß nach dem Gesetz auch der Hin- und Rückweg zu einzelnen solcher stationären Behandlungsmaßnahmen geschützt ist, indessen nicht ein eigenmächtiges Abweichen des Schwerbeschädigten von einem im Rahmen der Behandlungsmaßnahmen vorgesehen Weg und der im Behandlungsplan vorgesehenen Art der Bewältigung dieses Weges. Wenn der Kläger aber von diesem Weg abwich, als er nicht die im Rahmen der Freifahrkarte vorgesehene Abfahrt vom M. mit der Bergbahn in Anspruch nahm, stand er nicht mehr unter dem Wegeschutz.

Selbst wenn die Freifahrten mit der M.bahn eine "Kurmaßnahme” im Sinne des Gesetzes darstellen würden, stände also das eigenmächtige Abweichen des Klägers von dem "Kurplan” nicht mehr unter dem Heilbehandlungsschutz des BVG.

Die Sturzfolgen sind damit nicht durch eine Maßnahme der Heilbehandlung verursacht. Daß sie – etwa infolge einer erheblichen Gehbehinderung keine wesentliche Bedingung für den Sturz des Klägers gewesen sind, hat Dr. S. überzeugend dargetan.

Auf die Berufung des Beklagten war daher das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung wurde aus § 193 SGG gewonnen.
Rechtskraft
Aus
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