L 4 V 974/75

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 974/75
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. August 1975 wird zurückgewiesen.

Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Beklagte.

Tatbestand:

Der 1914 geborene Kläger bezieht vom Beklagten wegen des Verlustes des linken Armes in Oberarmmitte eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H. (Bescheide vom 7. Mai 1951 und 3. Dezember 1969).

Am 1. September 1972 beantragte er eine Rentenerhöhung wegen der Folgen eines am 1. August 1971 erlittenen Unfalles, den er letztlich auf die Beschädigung zurückführte. Zum Unfallhergang gab er an, er habe auf der 4. Sprosse einer Stehleiter freihändig stehend mit einer Baumschere die frischen Triebe von seinen Rebstöcken abgeschnitten. Plötzlich sei die Leiter seitlich weggerutscht und er sei mit dem Rücken auf die umgefallene Leiter gefallen. Hierbei habe er sich einen Wirbelbruch zugezogen. Seitdem leide er unter Rückenschmerzen. Er wisse zwar, daß das Besteigen von Leitern für einen Einarmigen riskant sei, doch habe er als Registrator öfter auf Leitern steigen müssen, um Akten aus den Regalen zu holen. Er habe sich deshalb nichts dabei gedacht, auch im Garten auf eine Leiter zu steigen.

Der Beklagte zog die Krankengeschichte vom St. J.-Hospital in W. bei. Zur Vorgeschichte hatte der Kläger angegeben, daß er von der Leiter gestürzt sei, als diese sich aus unbekannter Ursache gedreht habe. Der Neurologe Dr. K. berichtete dagegen, daß die Leiter gerutscht sei. Der Versorgungsarzt Dr. S. sah auf Grund dieser Angaben keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Kriegsbeschädigung und dem Wirbelbruch. Die MdE hierfür schätzte er auf 20 v.H. und die Gesamt-MdE auf 90 v.H. Der Beklagte lehnte den Erhöhungsantrag mit Bescheid vom 29. November 1973 ab, weil die Leiter nicht richtig gestellt gewesen sei. Der Unfall wäre deshalb auch dann eingetreten, wenn die Beschädigung nicht vorgelegen hätte. Diesen Bescheid ließ der Kläger bindend werden.

Im Juni 1974 beantragte er die Erteilung eines Zugunstenbescheides, weil der bindende Bescheid falsch sei. Der Unfall sei wesentlich darauf zurückzuführen, daß er sich wegen des fehlenden Armes nicht am Weinspalier habe festhalten können. Diesen Antrag lehnte der Beklagte am 18. Juli 1974 mit der Begründung ab, es seien keine neuen Tatsachen vorgebracht worden, die eine andere Beurteilung zuließen. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 30. Oktober 1974 zurück, weil allenfalls Zweifel an der Richtigkeit des bindenden Bescheides bestehen könnten. Der Unfall hätte durch ein Festhalten am Gerüst der Weinreben vielleicht verhindert werden können, wenn der Kläger von der Leiter gefallen wäre. Da er aber mitsamt der Leiter umgestürzt sei, hätte ein Griff nach dem Gerüst auch nicht mehr helfen können. Aber selbst wenn dies so wäre, wären die Unfallfolgen keine mittelbaren Schädigungsfolgen, weil das eigene unvorsichtige Verhalten als überwiegende Ursache des Unfalles anzusehen sei. Es sei fahrlässig, freihändig eine Leiter zu besteigen.

In seiner Klage behauptete der Kläger, daß die Stehleiter fest auf ebenem Rasen richtig gestellt gewesen sei. Über 2 Jahrzehnte habe er diese Leiter zum Beschneiden seines Weinstockes benutzt, ohne daß dabei jemals etwas passiert wäre. Der Unfall wäre vermieden worden, wenn er sich hätte festhalten können, denn die Leiter habe parallel zum Spalier gestanden, so daß seine linke Seite auf die Weinreben gezeigt habe. Seiner Ansicht nach sei die Leiter nach rechts umgestürzt, weil er sein Gewicht zu dem Weinstock hin habe verlagern müssen. Von Fahrlässigkeit könne keine Rede sein, denn er habe während seiner Berufstätigkeit jahrelang auf ähnlichen Leitern gestanden. Im übrigen schließe Fahrlässigkeit nicht den Versorgungsanspruch aus.

Das Sozialgericht Wiesbaden hat mit Urteil vom 21. August 1975 den Bescheid vom 18. Juli 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 1974 aufgehoben und ausgeführt, die Schädigungsfolgen seien ausschlaggebend für den Sturz des Klägers, weil dieser sich wegen des fehlenden Armes nicht am Spalier habe festhalten können. Ob die Leiter richtig gestanden habe, könne dahingestellt bleiben. Der bindende Bescheid sei deshalb unrichtig und der Kläger müsse neu beschieden werden.

Gegen das dem Beklagten am 13. Oktober 1975 zugestellte Urteil hat dieser am 17. Oktober 1975 Berufung eingelegt.

Er ist der Ansieht, daß das eigene schuldhafte Verhalten des Klägers die überwiegende Ursache des Unfalles gewesen sei, weil dieser freihändig eine Leiter bestiegen habe. In diesem Zusammenhang werde auf das rechtskräftige Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. März 1972 – L-5/V – 377/70 – verwiesen.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. August 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

Der Senat hat die Personalakten und die Rentenakten der BfA beigezogen. Aus diesen ergibt sich, daß der Kläger wegen der Wirbelsäulenverletzung und der Kriegsbeschädigung für erwerbsunfähig angesehen wurde und seit dem 1. Januar 1972 Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht. Das Land Hessen hat den Kläger mit Wirkung vom 1. September 1972 in den Ruhestand versetzt. Von der Orthopädischen Beratungsstelle des Städtischen Gesundheitsamtes in W. wurde die Dienstunfähigkeit ursächlich auf die Schädigungsfolgen zurückgeführt und die MdE auf 90 v.H. geschätzt. Die Pension wurde auf 75 v.H. der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge festgesetzt.

Im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten, der vorgetragen wurde, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig. Es ist die Versorgung eines Wirbelbruches als mittelbare Folge der anerkannten Schädigungsfolgen im Rahmen einer Zugunstenentscheidung im Streit.

Sie ist jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, daß der bindende Bescheid vom 29. November 1973 bereits im Zeitpunkt seines Erlasses materiell-rechtlich unrichtig war (W Nr. 2 zu § 40 VerwVG). Der Beklagte wäre deshalb verpflichtet gewesen, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen. Insoweit steht dem Beklagten keine anderweitige Ermessensausübung zu (vgl. BSG vom 10. Februar 1972 – 8 RV-563/71 – in KOV 1973 S. 188 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 1974 ist daher rechtswidrig (§ 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Der Kläger hat dann Anspruch auf Versorgung der Folgen seines häuslichen Unfalles, wenn der Verlust des linken Armes wesentlich zur Entstehung des Wirbelbruches beigetragen hat, d.h. zumindest annähernd gleichwertige Ursache gewesen ist (§ 1 Bundesversorgungsgesetz – BVG –). Nach der Schilderung des Unfallherganges durch den Kläger, die vom Beklagten im wesentlichen nicht bestritten worden ist, ist davon auszugehen, daß die Leiter infolge einer Gewichtsverlagerung oder eines halbseitigen Einsinkens in den Boden umgefallen ist. Ein Wegrutschen oder Drehen ist bei einer auf vier Holmen auf Rasen stehenden Leiter auszuschließen. Soweit der Kläger hiervon gesprochen hat, handelt es sich um eine ungenaue und mißverständliche Ausdrucksweise. Nach den überreichten Fotos vom Unfallort, insbesondere der Beschaffenheit des Geländes, kommt nur ein Umfallen der Leiter durch Verlagerung des Schwerpunktes nach rechts in Betracht. Dem Beklagten ist darin zuzustimmen, daß ein solches Unfallgeschehen auch bei Unbeschädigten möglich wäre; doch verkennt er, daß jeder Mensch, soweit es sich nicht um Artisten handelt, instinktiv nach einem Halt sucht, wenn er eine Leiter besteigt und über die Holmenden hinaus gelangt oder sich zur Seite dreht. Einen solchen Halt hätte hier das Eisenspalier geboten. Es liegt daher nahe, daß sich der Kläger bei vorhandenen gesunden Armen am Eisengitter festgehalten und dadurch ein Umfallen der Leiter verhindert hätte. Dies gilt sowohl für den Fall einer Gewichtsverlagerung als auch für ein Einsinken eines oder beider Holme. Durch das Festhalten wäre einerseits eine Entlastung der Leiter erfolgt, andererseits hätte der Kläger mit dem rechten Arm oder den Knien die sich neigende Leiter festhalten können. Es ist somit festzustellen, daß dieser bei vorhandenem linken Arm den Unfall hätte abwenden können, so daß dem Umfallen der Leiter nicht die überragende Bedeutung zukommt. Es sind vielmehr zwei annähernd gleichwertige Unfallursachen gegeben, wobei eine davon durch die Schädigungsfolgen gesetzt wurde.

Der Ansicht des Beklagten, daß der Kläger durch leichtfertiges Verhalten den Unfall überwiegend selbst verursacht hat, konnte der Senat nicht beitreten. Es ist zwar richtig, daß der Kläger schon beim Besteigen der Leiter gewußt hat, daß er sich nicht mit der linken Hand am Spalier festhalten kann. Ein Beschädigter ist aber durchaus berechtigt, Verrichtungen des täglichen Lebens entsprechend seinen Lebensgewohnheiten vorzunehmen. Das Besteigen einer Leiter durch Einarmige ist nicht anders zu werten, als das Radfahren (van Nuis-Vorberg, Das Recht der Kriegsbeschädigten, II. Teil, 2. Aufl. 1963, Erl. C II 4 f 2, S. 47), das Fahren von Motorrädern (BSG vom 26. Februar 1959 – 9 RV 96/55 und vom 18. Juli 1961 – 9 RV 1014/60) und das Treiben in einem Autoschlauch auf der Isar (BSG vom 15. November 1960 – 11 RV 608/60). Der Senat befindet sich hier auch in Übereinstimmung mit dem Niedersächsischen Landessozialgericht in Celle (BVBl. 1955 S. 25) und dem Oberversicherungsamt Karlsruhe (Breithaupt 1953 S. 1214). Man kann nicht einerseits den Wert des Leistungssports innerhalb des Versehrtensports auf die Psyche hervorheben und andererseits die Beschädigten auf absolut sichere Betätigungen verweisen (BSG vom 28. Januar 1975 – 10 RV 101/74 in Soz.R. 3100 § 1 BVG Nr. 4). Das würde bedeuten, daß man den Versehrten durch Beschränkung seiner Freiheit und des Rechts auf Entfaltung seiner Persönlichkeit aus der Gemeinschaft der vollwertig Leistungsfähigen ausschließt (van Nuis-Vorberg, a.a.O. S. 47). In letzter Konsequenz müßte dann ein Amputierter in eine Badewanne unter eigenem Risiko einsteigen. Ferner wären alle Verkehrsunfälle daraufhin zu prüfen, ob der Wehrdienstpflichtige durch sein Verhalten eine wesentliche Bedingung für den Unfall gesetzt hat. Der Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr ist vielmehr eng auszulegen. Er dient lediglich dazu, in hohem Maße vernunftwidrige Handlungen auszuschließen (vgl. Lauterbach, Kommentar z. Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 52 zu § 548 RVO und BSGE 6, 169; 11, 157; 14, 67 und 30, 15), weil das Gesetz weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit ausnimmt (§ 1 Abs. 4 BVG) und es daher auf ein Verschulden nicht ankommt (BSG vom 27. Februar 1962 – 10 RV 119/59 in SozR § 1 BVG Nr. 58); nicht aber dazu, die Versorgung für fahrlässig verursachte mittelbare Schäden über die Kausalfrage abzulehnen.

Hier ist überdies zu berücksichtigen, daß der Kläger als Registratur ständig Leitern besteigen mußte, um Akten aus den Regalen zu holen, und seine Stehleiter schon viele Jahre benutzte, um die Reben zu beschneiden. Es ist auch nicht der Normalfell, daß Leitern umfallen. Insoweit kann dem Kläger nicht angelastet werden, daß er die Gefahr unterschätzt hat. Der vorliegende Rechtsstreit unterscheidet sich, insoweit erheblich von den Fällen, die in der Rechtsprechung negativ für den Beschädigten entschieden worden sind (BSG vom 29. Mai 1962 – 7 RV 1122/61 –, vom 18. März 1964 – 10/11 RV 1004/62 und LSG Baden-Württemberg vom 28. Oktober 1954 in Breithaupt 1955 S. 417). Die Entscheidung des 5. Senats des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. März 1972 – L-5/V – 377/70 kann als Entscheidung im Einzelfalle keine grundsätzliche Bedeutung beanspruchen.

Nach allem hat das Sozialgericht zu Recht festgestellt, daß der bindende Bescheid vom 29. November 1973 aus rechtlichen Gründen falsch ist. Hieraus ergibt sich zwangsläufig die Aufhebung des negativen Zugunstenbescheides, so daß die Berufung des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen war.

Der Beklagte wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlaß, weil diese Fälle individuell zu entscheiden sind.
Rechtskraft
Aus
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