L 6 J 287/69

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 J 287/69
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Februar 1969 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der 1921 geborene Kläger betreibt seit Januar 1950 eine Elfenbeinschnitzerei als Gewerbebetrieb mit eigener Betriebsstätte. Das Gewerbe "Elfenbeinschnitzerei” ist mit Wirkung vom 6. November 1950 bei der Gemeinde E. gemeldet. Eine Anmeldung als Hausgewerbetreibender hat zu keiner Zeit vorgelegen. Bei dem Finanzamt M. wird er zu allen Steuern, insbesondere zur Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer, herangezogen. Seit dem 6. November 1950 ist er als Inhaber eines Drechsler-(Elfenbeinschnitzer) Betriebes in der Handwerksrolle bei der Handwerkskammer D. eingetragen.

Mit der Beitragsleistung für den Monat Februar 1966 hatte der Kläger für 216 Kalendermonate Pflichtbeiträge zur Handwerkerversicherung nachgewiesen und ist daher versicherungsfrei.

Mit Bescheid vom 9. Januar 1968 machte die Beklagte gemäß § 1227 Abs. 1 Ziff. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Arbeiter geltend, weil der Kläger als Hausgewerbetreibender tätig sei. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er wies darauf hin, daß er unter allen Umständen seine Selbständigkeit wahren und nicht in einer arbeitnehmerähnlichen Funktion als Hausgewerbetreibender tätig sein wolle, da er eine freie Existenz als Gewerbetreibender habe.

Mit Bescheid vom 23. Februar 1968 bestätigte die Beklagte den von ihr im Bescheid vom 9. Januar 1968 eingenommenen Standpunkt und begründete ihn vor allem damit, daß der Kläger in erheblichem Umfang im Auftrag und für Rechnung anderer Gewerbetreibender tätig sei. Der Anteil an der Direktbelieferung von Privatkundschaft betrage nur etwa 20 %. Nachdem der Kläger darauf hingewiesen hatte, daß er nicht im Auftrag und für Rechnung anderer Gewerbetreibender tätig sei, weil es sich jeweils um einen freien und keinerlei vertraglichen Bindungen unterliegenden Geschäftsabschluß handele, er vielmehr auf eigene Rechnung und Gefahr tätig werde, hat die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1968 den Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. In den Gründen führt sie aus, daß gemäß § 1227 Abs. 1 Nr. 3 RVO Hausgewerbetreibende in der Arbeiterrentenversicherung versichert würden. Als Hausgewerbetreibende gälten die selbständigen Gewerbetreibenden, die in eigenen Betriebsstätten im Auftrag und für Rechnung anderer Gewerbetreibender gewerbliche Erzeugnisse herstellten oder bearbeiteten, § 162 Abs. 1 RVO. Der Kläger habe zehn Auftraggeber angegeben, für die er tätig werde. Der Anteil der von ihm belieferten Privatkundschaft betrage nur etwa 20 % seiner Gesamtlieferungen. Im übrigen sei zu beachten, daß die Begriffsbestimmung in § 2 des Heimarbeitergesetzes für Hausgewerbetreibende im Rahmen des § 162 RVO nicht angewendet werden könne. Es komme auch nicht darauf an, ob das Finanzamt den Kläger als Hausgewerbetreibenden ansehe oder nicht. Daß er in der Handwerkerversicherung versicherungsfrei sei, berühre seine Versicherungspflicht als Hausgewerbetreibender nicht. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß Versicherungsfreiheit nur nach dem Handwerkerversicherungsgesetz bestehe.

Seiner Klage hat das Sozialgericht Darmstadt mit Urteil vom 6. Februar 1969 stattgegeben. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, daß es dahingestellt bleiben könne, ob der Kläger neben seiner Eigenschaft als Handwerker noch Hausgewerbetreibender im Sinne des § 1227 Abs. 1 Ziff. 3 RVO sei. Nach § 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) gehöre der Kläger als Handwerker, der in die Handwerksrolle eingetragen sei, der Handwerkerversicherung an. Da die Eintragung nach wie vor bestehe und der Kläger auch nach dem 1. März 1966 in gleicher Weise tätig geworden sei wie früher, sei allein entscheidend, ob er nach dem Handwerkerversicherungsgesetz versicherungspflichtig sei oder nicht. Da die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Befreiung in der Handwerkerversicherung unstreitig vorlägen, sei seine Heranziehung zu Beiträgen zu einem anderen Zweig der Versicherung auf jeden Fall rechtlich unzulässig. Bei der Handwerkerversicherung handele es sich um eine geschlossene und auch hinsichtlich der Versicherungspflicht aus der Reichsversicherungsordnung herausgenommene Standesversicherung. Es sei insbesondere kein Grund einzusehen, warum der Kläger als Handwerker noch einer weiteren Versicherungspflicht nach der Reichsversicherungsordnung unterliegen solle. Die Annahme einer solchen Versicherungspflicht würde gerade der in § 1 des HwVG getroffenen Regelung einer möglichen Beitragsbefreiung zuwiderlaufen. Der Kläger habe daher, nachdem er mindestens für 216 Monate Beiträge entrichtet habe, auf Grund dieses Befreiungstatbestandes ebensowenig zur Abführung von Beiträgen herangezogen werden dürfen, wie wenn etwa ein Befreiungstatbestand des § 6 HwVG von vornherein vorgelegen hätte. Der Kläger sei keinesfalls auf Grund einer nachträglichen Tätigkeit als abhängiger Arbeitnehmer versicherungspflichtig geworden. Das Urteil wurde der Beklagten am 19. Februar 1969 mit Empfangsbekenntnis zugestellt.

Ihre Berufung ist am 15. März 1969 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingegangen. Sie führt aus, daß nach ihrer Ansicht die Tätigkeit des Klägers die Voraussetzungen eines Hausgewerbetreibenden erfülle. Als Hausgewerbetreibender unterliege er der Versicherungspflicht nach § 1227 Abs. 1 Nr. 3 RVO. Gründe, die Versicherungsfreiheit nach der Reichsversicherungsordnung zur Folge hätten, lägen nicht vor. Versicherungspflicht nach § 1 HwVG bestehe für ihn nicht, weil er mehr als 216 Monate Pflichtbeiträge nachgewiesen habe. Da er nicht zu dem Personenkreis gehöre, der durch das Handwerkerversicherungsgesetz erfaßt werde, könnten auch etwa im Handwerkerversicherungsgesetz enthaltene, der Versicherungspflicht nach § 1227 RVO entgegenstehende Vorschriften keine Anwendung finden. Der Auffassung des Vordergerichts, daß er so zu behandeln sei, wie wenn etwa der Tatbestand des § 6 HwVG erfüllt wäre, könne nicht gefolgt werden. Versicherungsfreiheit nach § 6 HwVG finde nur auf Handwerker Anwendung, die für weniger als 216 Monate Pflichtbeiträge entrichtet hätten. Auf Personen mit mehr als 216 Monaten Pflichtbeiträgen sei das Handwerkerversicherungsgesetz nicht anwendbar. Selbst wenn man davon ausgehe, daß dem Handwerkerversicherungsgesetz als Sondervorschrift der Vorrang zukomme und deshalb die von diesem Gesetz erfaßten Personen nicht der Versicherungspflicht nach § 1227 Abs. 1 Nr. 3 RVO unterlägen, müsse im vorliegenden Falle berücksichtigt werden, daß der Kläger nicht zu dem vom Handwerkerversicherungsgesetz erfaßten Personenkreis gehöre. Nach § 1227 RVO werde er als Hausgewerbetreibender von der Versicherungspflicht erfaßt.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Februar 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise
die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er führt aus, daß er nach § 1 HwVG als Handwerker der Handwerkerversicherung zugehöre. Seine Eintragung in die Handwerksrolle bestehe nach wie vor. Er sei auch nach dem 1. März 1966 in gleicher Weise als Handwerker tätig wie früher. Es sei allein maßgebend, ob er als Handwerker nach dem Handwerkerversicherungsgesetz versicherungspflichtig sei. Da die gesetzlichen Voraussetzungen für die Befreiung in der Handwerkerversicherung vorlägen, sei es rechtlich unzulässig, ihn zu Beiträgen zu einem anderen Versicherungszweig heranzuziehen. Es gebe keine gesetzlichen Vorschriften, wonach er als Handwerker noch einer weiteren Versicherungspflicht unterliegen solle. Er verkenne nicht, daß die steuerliche Behandlung der Sache nur von sekundärer Bedeutung sei.

Die Beitragsakten der Beklagten und die Akten des Finanzamtes M., den Kläger betreffend, haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten in beiden Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist frist- und formgerecht eingelegt, §§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist aber unbegründet.

Der Senat stimmt dem Urteil des Vordergerichts in allen Punkten zu. Der Kläger gehörte nach § 1 HwVG als in der Handwerksrolle eingetragener Handwerker der Handwerkerversicherung an. Da die Eintragung in die Handwerksrolle nach wie vor besteht und der Kläger auch nach dem 1. März 1966 in gleicher Weise tätig ist, ist allein entscheidend, wie das Sozialgericht zutreffend ausführt, ob er nach dem Handwerkerversicherungsgesetz versicherungspflichtig ist oder nicht. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Befreiung in der Handwerkerversicherung liegen vor, nachdem der Kläger für 216 Kalendermonate Pflichtbeiträge entrichtet hat. Seine Heranziehung zu Beiträgen zu einem anderen Zweig der Rentenversicherung ist rechtlich unzulässig. Bei der Handwerkerversicherung handelt es sich um eine geschlossene und hinsichtlich der Versicherungspflicht aus der Reichsversicherungsordnung herausgenommene Standesversicherung. Es ist nicht erfindlich, wieso der Kläger als Handwerker noch einer weiteren Versicherungspflicht nach der Reichsversicherungsordnung unterliegen sollte. Die Annahme einer solchen Versicherungspflicht würde der in § 1 HwVG getroffenen Regelung zuwiderlaufen. Nachdem der Kläger für 216 Monate Beiträge entrichtet hatte, entstand ein Befreiungstatbestand, der eine Heranziehung zur Abführung von Beiträgen ebensowenig zulässig erscheinen läßt, wie wenn etwa ein Befreiungstatbestand des § 6 HwVG von vornherein vorgelegen hätte. Wie das Urteil des Hess. Landessozialgerichts vom 5. November 1968, das in der Zwischenzeit durch Urteil des Bundessozialgerichts – 4 RJ 53/68 – vom 12. November 1969 bestätigt wurde, darlegt, konnte es dort dahingestellt bleiben, ob der Kläger neben seiner Eigenschaft als Handwerker noch Hausgewerbetreibender im Sinne des § 1227 Abs. 1 Ziff. 3 RVO war oder ist. Nach Auffassung des Senats gilt das auch im vorliegenden Falle (Verbandskommentar 6. Auflage, Anm. 21 zu § 1227 RVO; Schlageder, Handwerkerversicherungsgesetz 2. Auflage, § 13 Anm. 2 a). Die von der Beklagten vertretene Ansicht mag für sich ins Feld führen können daß durch § 13 Abs. 1 Nr. 1 HwVG mit Wirkung vom 1. Januar 1962 (§ 16 HwVG) in § 1227 Abs. 1 RVO die Worte "oder des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk” gestrichen worden sind; denn die frühere Fassung des § 1227 Abs. 1 RVO hatte die Pflichtversicherung in der Rentenversicherung der Arbeiter davon abhängig gemacht, daß die versicherungspflichtigen Personen nicht wegen derselben Beschäftigung oder derselben Tätigkeit nach den Bestimmungen das Angestelltenversicherungsgesetzes oder des Reichsknappschaftsgesetzes oder des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk versicherungspflichtig oder versicherungsfrei oder auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit waren. Damit mag für nach dem Inkrafttreten des Handwerkerversicherungsgesetzes neu eintretende Fälle darüber gestritten werden können, ob ein Gewerbetreibender, obschon er in der Handwerkerversicherung versicherungsfrei ist, als Hausgewerbetreibender gleichwohl nach § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO in der Arbeiterrentenversicherung versicherungspflichtig ist (BSG vom 29.1.1970 – 12 RJ 320/68 –). Wenn auch Sinn und Zweck des § 6 Abs. 3 HwVG andere sind als die des § 1 Abs. 1 und 4 HwVG würde es in unlösbarem Widerspruch stehen, wenn der versicherungsfreie Handwerker, weil er auch Hausgewerbetreibender ist, abermals der Versicherungspflicht unterstellt würde, aus der er wegen Erreichung der zweihundertsechzehn Kalendermonate herausgenommen worden war. Würde man der Rechtsansicht der Beklagten folgen, würde dies für den Kläger eine Doppelsicherung zur Folge haben, nämlich einmal die durch die Handwerkerversicherung geschaffene und zum anderen durch die Pflichtversicherung als Hausgewerbetreibender gemäß § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO. Das wäre im Hinblick auf die aus der Reichsversicherungsordnung herausgenommene Standesversicherung bei derselben Tätigkeit ein Ergebnis, das sonst nirgendwo von der Rechtsordnung der Sozialversicherung gefordert wird. Ein auf solche Weise zur Mehrfachsicherung herangezogener hausgewerbetreibender Handwerker würde in seinem Vertrauen in den Fortbestand der einmal eingetretenen vollständigen Versicherungsfreiheit in der gesamten Rentenversicherung erschüttert werden. Wegen der erneuten Versicherungspflicht wäre er zudem in seinem wirtschaftlichen Dispositionen gestört, weil er nunmehr, obschon er der im Rahmen seiner Standesversicherung vorgeschriebenen Versicherungspflicht zur Gänze genügte, noch die Beiträge für die Pflichtversicherung aufbringen müßte (so auch BSG vom 28.1.1970).

Der Berufung der Beklagten war daher der Erfolg zu versagen.

Dem Antrag der Beklagten, die Revision zuzulassen, war wegen der Grundsätzlichkeit der Rechtsfrage zu entsprechen.

Die Entscheidung über die Kosten erfolgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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