L 9 R 2590/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 3538/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 2590/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Mai 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Gewährung von Halbwaisenrente nach Vollendung des 27. Lebensjahres hat.

Der 1975 geborene, in Griechenland wohnende griechische Kläger bezog aufgrund des Bescheides vom 03.04.1984 ab dem 28.04.1982 Halbwaisenrente aus der Versicherung seines 1950 geborenen und am 28.04.1982 verstorbenen Vaters G. P ... Bei einem Motorradunfall im Jahr 1991 zog sich der Kläger eine rechts- und beinbetonte spastische Tetraparese, ein posttraumatisches Anfallsleiden und eine Dysphagie zu. Mit Bescheid vom 21.11.1994 bewilligte die Beklagte Waisenrente ab dem 01.08.1993 bis zum 31.07.2002.

Am 22.07.2002 beantragte der Kläger die Weitergewährung der Halbwaisenrente über das 27. Lebensjahr hinaus mit der Begründung, er sei zu 100% behindert und nicht im Stande, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Mit Bescheid vom 09.08.2002 lehnte die Beklagte den Antrag ab.

Am 31.03.2003 stellte der Kläger erneut den Antrag auf Gewährung von Halbwaisenrente. Zur Begründung führte er aus, sein Vater würde ihn unterstützen, wenn dieser noch am Leben wäre. Darüber hinaus falle mit der Einstellung der Waisenrente auch sein Krankenversicherungsschutz weg, da die Krankenkasse eine Familienversicherung ablehne. Mit Bescheid vom 08.04.2003 verwies die Beklagte auf ihren Bescheid vom 09.08.2002. Nachdem der Kläger am 02.06.2003 mitgeteilt hatte, den Bescheid vom 09.08.2002 nie erhalten zu haben, übersandte die Beklagte diesen Bescheid am 05.06.2003 an den Kläger.

Am 03.07.2003 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart. Zur Begründung trug er vor, er sei nicht in der Lage, für seinen eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, da er zu 100% behindert sei.

Die Beklagte erklärte sich bereit, die Klageschrift als Widerspruch zu betrachten und das Widerspruchsverfahren durchzuführen. Mit Widerspruchsbescheid vom 04.03.2004 wies sie den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, ein Anspruch auf Waisenrente bestehe gem. § 48 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres. Der Kläger habe am 30.07.2002 das 27. Lebensjahr vollendet. Die Waisenrente sei befristet bis zum 31.07.2002 gewährt worden. Gründe im Sinne des § 48 Abs. 5 SGB VI für die Weitergewährung der Waisenrente über das 27. Lebensjahr der Waise hinaus lägen nicht vor. Es bestehe deshalb kein Anspruch auf Weitergewährung der Waisenrente über das 27. Lebensjahr hinaus.

Mit Urteil vom 23.05.2005 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, nach § 48 Abs. 4 SGB VI bestehe der Anspruch auf Halb- oder Vollwaisenrente längstens 1. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres oder 2. bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wenn die Waise a) sich in Schulausbildung oder Berufsausbildung befinde oder ein freiwilliges soziales Jahr im Sinne des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres oder ein freiwilliges ökologisches Jahr im Sinne des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres leiste oder b) wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande sei, sich selbst zu unterhalten. In den Fällen des Abs. 4 Nr. 2 Buchst. a erhöhe sich die für den Anspruch auf Waisenrente maßgebende Altersbegrenzung bei Unterbrechung oder Verzögerung der Schulausbildung oder Berufsausbildung durch den gesetzlichen Wehrdienst, Zivildienst oder einen gleichgestellten Dienst um die Zeit dieser Dienstleistung, höchstens um einen der Dauer des gesetzlichen Grundwehrdienstes oder Zivildienstes entsprechenden Zeitraum (§ 48 Abs. 5 SGB VI).

Der Kläger, der am 30.07.2002 sein 27. Lebensjahr vollendet habe, sei bereits seit seinem 17. Lebensjahr aufgrund eines Motorradunfalls behindert, so dass die Verlängerungstatbestände des § 48 Abs. 5 SGB VI nicht in Betracht kämen. Ein Anspruch auf Halbwaisenrente über das 27. Lebensjahr hinaus bestehe deshalb nicht.

Die gesetzliche Befristung von Waisenrenten auch für behinderte Kinder sei verfassungskonform. Dies habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits zu der Vorgängerregelung des jetzigen § 48 Abs. 4 Nr. 2b SGB VI, § 44 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) entschieden. Die zeitliche Begrenzung verstoße auch in Ansehung einer andersartigen Regelung im Beamtenversorgungsgesetz weder gegen Artikel 6 Abs. 1 GG noch gegen Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (BVerfGE 40,121,131 f.). Diesen Ausführungen habe sich das Bundessozialgericht (BSG) in seinen Urteilen vom 12.03.1981 (L 11 RA 12/80) und vom 25.03.1993 (4 RA 37/92) in vollem Umfang angeschlossen. Mit Urteilen vom 20.06.2002 (B 13 RJ 13/02B und B 13 RJ 45/01 R) habe das BSG diese Beurteilung erneut bestätigt.

Gegen das am 08.06.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24.06.2005 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Der Kläger trägt vor, die deutsche Rechtslage entspreche nicht mehr dem im Europäischen Gemeinschaftsrecht verankerten allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union liege eine Ungleichbehandlung vor; in den Mitgliedsstaaten Griechenland, Spanien, Luxemburg und Österreich werde eine Hinterbliebenenrente im Falle einer Behinderung oder Erwerbsunfähigkeit zeitlich unbeschränkt gewährt. Zwar existiere im Bereich des Sozialversicherungsrechts keine der Richtlinie 2000/78 im Arbeitsrecht entsprechende Richtlinie, die eine Diskriminierung wegen Alters verbiete. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft habe jedoch einen Wirtschafts- und Sozialausschuss gegründet mit dem Ziel, die Sozialschutzpolitik in der Europäischen Union zu koordinieren. Das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 12 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages von Nizza vom 26.02.2001 (konsolidierte Fassung 2002 Nr. C 325/33) stelle eine Anspruchsgrundlage dar. Gem. Art. 13 Abs. 1 könne der Rat im Rahmen der übertragenen Zuständigkeit Vorkehrungen treffen, um eine Diskriminierung aus Gründen einer Behinderung oder des Alters zu bekämpfen. Weiter sei in der Europäischen Sozialcharta vom 18.10.1992 unter Teil II Art. 12 Ziff. 4a die Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthalten, zu gewährleisten, dass eine Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsparteien mit ihren eigenen Staatsangehörigen hinsichtlich der Ansprüche aus der sozialen Sicherheit einschließlich der Wahrung der nach den Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit erwachsenen Leistungsansprüche erfolge. Dies gelte unabhängig davon, wo die geschützte Person innerhalb des Hoheitsgebietes der Vertragsparteien ihren Aufenthalt nehme.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 23. Mai 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. August 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Halbwaisenrente über den 31. Juli 2002 hinaus zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Beklagtenakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Beklagte hat mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht die Gewährung von Halbwaisenrente an den Kläger nach Vollendung des 27. Lebensjahres abgelehnt.

Das SG hat in der angefochtenen Entscheidung zutreffend entschieden, dass der Kläger aufgrund der nationalen Vorschriften keinen Anspruch auf Gewährung von Halbwaisenrente über das 27. Lebensjahr hinaus hat und dass diese Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Auf die Entscheidung wird deshalb gem. § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen und insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen.

Im Übrigen ist auszuführen, dass auch kein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorliegt. Wie auch der Kläger vorgetragen hat, existiert im Gebiet der Sozialversicherungssysteme keine Richtlinie, auf welche der geltend gemachte Anspruch gestützt werden könnte. Insbesondere ist Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 EG vom 27.11.2000 nicht anwendbar. In der Präambel der Richtlinie ist unter Ziff. 13 ausdrücklich ausgeführt: "Diese Richtlinie findet weder Anwendung auf die Sozialversicherungs- und Sozialschutzsysteme, deren Leistungen nicht einem Arbeitsentgelt in dem Sinne gleichgestellt werden, der diesem Begriff für die Anwendung des Art. 141 des EG-Vertrags gegeben wurde, noch auf Vergütungen jeder Art seitens des Staates, die den Zugang zu einer Beschäftigung oder die Aufrechterhaltung eines Beschäftigungsverhältnisses zum Ziel haben". Dies wird in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie nochmals ausdrücklich festgestellt: "Diese Richtlinie gilt nicht für Leistungen jeder Art seitens der staatlichen Systeme oder der damit gleichgestellten Systeme einschließlich der staatlichen Systeme der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes."

Dementsprechend ist das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 22.11.2005 - C - 144/04 - nicht einschlägig, durch das § 14 Abs. 3 Teilzeitbefristungsgesetz als mit Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar erklärt wurde, da dieses Urteil eine Regelung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und nicht des Sozialrechts betraf.

Zutreffend ist zwar, dass die Kommission der Europäischen Gemeinschaft eine Koordinierung der Sozialschutzpolitik in der Europäischen Union anstrebt und hierzu einen Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gegründet hat. Solange dieser jedoch noch keine entsprechenden Richtlinien erlassen hat, können daraus auch keine Rechtsansprüche abgeleitet werden.

Auch aus den allgemeinen Regelungen des Gemeinschaftsrechts ergibt sich kein Anspruch des Klägers auf Gewährung der Halbwaisenrente nach Vollendung des 27. Lebensjahres. Insbesondere verstößt die Regelung nicht gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 39 Abs. 2 EGV, welcher das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 konkretisiert. Nach Art. 12 EGV ist unbeschadet der besonderen Bestimmungen dieses Vertrages in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Der Rat kann nach dem Verfahren des Art. 251 Regelungen für das Verbot solcher Diskriminierungen treffen. Nach Art. 39 Abs. 2 EGV umfasst die von der Gemeinschaft zu gewährleistende Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Durch dieses Diskriminierungsverbot hat der Staatsangehörige eines anderen Mitgliedsstaates lediglich Anspruch auf Inländergleichbehandlung. Ein Anspruch auf Übernahme von Regelungen hinsichtlich der Hinterbliebenenrente aus sozialen Sicherungssystemen anderer Mitgliedstaaten kann hierauf jedoch nicht gestützt werden. Unbeachtlich ist deshalb, dass in anderen Mitgliedstaaten der EU teilweise andersartige Regelungen existieren, nach denen eine zeitliche Begrenzung der Hinterbliebenenrente nicht existiert.

Art. 12 Abs. 1 EGV verbietet grundsätzlich die Ungleichbehandlung von Inländern und Ausländern aufgrund der Staatsangehörigkeit. Die Mitgliedstaaten dürfen eine schlechter stellende Differenzierung nicht auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit stützen. Hierdurch verboten ist auch die versteckte Diskriminierung, die dann vorliegt, wenn eine Differenzierung nicht unmittelbar auf die Staatsangehörigkeit abstellt, wohl aber auf Kriterien, die typischerweise nur Ausländer oder Inländer erfüllen (EuGH, Urteil vom 10.03.1993 in der Rechtssache C-111/91 - Kommission/Luxemburg - Slg 1993 I, 840; Urteil vom 23.01.1997 in der Rechtssache C-29/95 - Pastoors/Belgien - Slg 1997 I, 285). Eine versteckte Benachteiligung liegt dagegen nicht schon in der Benachteiligung eines Ausländers, die sich aus der bloßen Unterschiedlichkeit der nationalen Regelungen ergibt (EuGH, Urteil vom 17.10.1995 in der Rechtssache C-44/94 - Queen/National Federation of Fishermen`s Organisations - Slg 1995 I, 3115). Vorliegend liegt keine Ungleichbehandlung in diesem Sinne vor. Ein Anspruch des Klägers auf Halbwaisenrente über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus steht dem Kläger nicht deshalb nicht zu, weil er griechischer Staatsangehöriger ist. Ein solcher Anspruch ist vielmehr für alle Hinterbliebenen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung nicht gegeben.

Die Berufung des Klägers war deshalb mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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