Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 An 212/78
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Bei einfacher Fahrlässigkeit kann ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherten in der Rechtmäßigkeit der gewährten Leistung noch unterstellt werden.
2. Bei überwiegendem Mitverschulden von Bediensteten eines Versicherungsträgers im Grenzbereich zur groben Fahrlässigkeit ist die Rückforderung überzahlter Leistungen auch dann ausgeschlossen, wenn dem Versicherten einfache Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.
2. Bei überwiegendem Mitverschulden von Bediensteten eines Versicherungsträgers im Grenzbereich zur groben Fahrlässigkeit ist die Rückforderung überzahlter Leistungen auch dann ausgeschlossen, wenn dem Versicherten einfache Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 25. Januar 1978 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger auch die im Berufungsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Rückforderung überzahlter Versichertenrente in Höhe von 12.120,50 DM streitig.
Der 1950 geborene Kläger besuchte bis Juli 1969 ein Gymnasium in H ... Von Oktober 1969 bis Ende September 1971 war er Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr. Seit Oktober 1971 ist er Student. Ab Mitte Februar 1973 arbeitete der Kläger während der Semesterferien bei der Firma A. als Gabelstaplerfahrer. Am 2. März 1973 erlitt er einen Arbeitsunfall, der zu einer Querschnittslähmung führte.
Am 6. Juli 1973 beantragte der Kläger die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Durch Bescheid vom 11. März 1974 bewilligte die Süddeutsche Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft (BG) ab 2. März 1973 Verletztenrente nach einer MdE um 100 v.H. und einem Jahresarbeitsverdienst in Höhe von 16.066,98 DM. Der Bescheid weist als Jahresbetrag der Vollrente 10.711,32 DM aus und enthält zur Erläuterung des Gesamtbetrages der Monatsrente in Höhe von 492,70 DM folgenden Zusatz:
"unter Berücksichtigung der Darlehenstilgung von monatlich 400,– DM”.
Nach Einholung eines nervenfachärztlichen Gutachtens bei Dr. S. bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 18. Februar 1975 ab 1. Juli 1973 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Bei der Berechnung der Rente unter Berücksichtigung des § 55 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) wurde eine Verletztenrente von 5.912,40 DM zugrunde gelegt. Auch im Bescheid vom 11. Juli 1975 zur Rentenanpassung wurde dieser Betrag der Verletztenrente angesetzt. Dieser Bescheid enthält ebenfalls den Hinweis, daß der Bezug einer Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung sowie jede Veränderung derselben zu einer Änderung der Rentenhöhe führen könne. Der Leistungsempfänger sei verpflichtet, den Bezug oder die Änderung der Leistung umgehend mitzuteilen.
Durch Bescheid vom 5. März 1976 berechnete die BG die Verletztenrente nach dem 18. Rentenanpassungsgesetz und übersandte wie schon bei dem Bescheid vom 11. März 1974 eine Durchschrift an die Beklagte. Der Bescheid enthält die Bemerkung:
”Rentenkürzungmtl. 400,– DM”.
Auf Antrage der Beklagten teilte die BG dieser mit, die monatliche Rentenkürzung beruhe auf der Tilgung eines Darlehens, daß für Baumaßnahmen gewährt worden sei.
Durch Bescheid vom 26. August 1976 stellte die Beklagte die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 1973 unter Berücksichtigung einer Verletztenrente im Höhe von 892,70 DM neu fest. Bei einer Überzahlung von 12.120,50 DM wurde die Versichertenrente ab 1. November 1976 in Höhe von 298,40 DM um monatlich 100,– DM gekürzt.
Mit seinem Widerspruch wandte sich der Kläger gegen die Kürzung seiner Rente und vertrat die Auffassung, an der falschen Rentenberechnung treffe ihn keine Schuld.
Durch Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 1977 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. In einem Votum des Widerspruchsausschusses heißt es:
"Der Ausschuß hat die getroffene Entscheidung unter großen Bedenken gefällt, weil ein Mitverschulden der BfA nicht auszuschließen ist. Die entstandene Schwierigkeit könnte durch Anforderung des Bew. Besch. von der BG vermieden werden.”
Mit seiner Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter und trug zur Begründung vor, die Beklagte sei von der Berufsgenossenschaft über die Höhe der Unfallrente unterrichtet worden. Er selbst habe im Gegensatz zur Beklagten keinerlei Kontrollmöglichkeiten gehabt.
Durch Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 25. Januar 1978 wurde der Bescheid vom 13. Januar 1977 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 26. August 1976 und 28. Juni 1977 verurteilt, von der Rückforderung der Überzahlung Abstand zu nehmen.
Gegen dieses der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 6. Februar 1976 zugestellte Urteil richtet sich ihre mit Schriftsatz vom 21. Februar 1976 – eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 24. Februar 1978 – eingelegte Berufung.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, der Kläger habe die Überzahlung grob fahrlässig mit verursacht. Er sei verpflichtet gewesen, auf den für ihn leicht erkennbaren Fehler hinzuweisen. Bei grober Fahrlässigkeit des Leistungsempfängers sei aber die Rückforderung trotz eigenen Verschuldens an der Überzahlung nicht ausgeschlossen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 25. Januar 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung beruft er sich auf die nach seiner Meinung zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (vgl. §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Das angefochtene Urteil ist zu Recht ergangen. Die angefochtenen Bescheide sind ermessensfehlerhaft (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Zwar hat die Beklagte gegenüber dem Kläger einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch in Höhe von 12.120,50 DM. Denn in der Zeit vom 1. Juli 1973 bis zum 31. Oktober 1976 ist in dieser Höhe eine Überzahlung der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit eingetreten, die durch die Zugrundelegung eines Betrages der Verletztenrente in Höhe von 492,70 DM statt 892,70 DM bei der Anwendung der Ruhensvorschrift des § 55 Abs. 1 AVG entstanden ist. Da die Rechtsfolge des Ruhens unabhängig von einem entsprechenden Feststellungsbescheid bereits mit der Erfüllung des Ruhenstatbestandes kraft Gesetzes eintritt, ist die entgegen § 55 Abs. 1 AVG wegen der Berücksichtigung eines unrichtigen Betrages der Verletztenrente eingetretene Überzahlung vom Leistungsempfänger objektiv zu Unrecht empfangen. Der Kläger wendet sich auch nicht gegen die Überzahlung als solche, sondern gegen die Rückforderung des überzahlten Betrages.
Die Geltendmachung des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs durch die Beklagte ist jedoch ermessensfehlerhaft.
Nach § 80 Satz 2 AVG darf der Rentenversicherungsträger eine Leistung nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger beim Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist. Die Beklagte trifft für die Überzahlung eines Teils der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit in der Zeit vom 1. Juli 1973 bis zum 31. Oktober 1976 ein Verschulden. Der zuständige Sachbearbeiter, dessen Verschulden sich die Beklagte als eigenes zurechnen lassen muß, hat entgegen dem Bescheid der BG vom 11. März 1974 bei der Anwendung des § 55 AVG nur den tatsächlich ausgezahlten Teil der Verletztenrente mit einem Betrag in Höhe von 492,70 DM berücksichtigt, den wegen der Tilgung eines Darlehens für Baumaßnahmen einbehaltenen monatlichen Betrag von 400,– DM indessen außer acht gelassen. Dem Sachbearbeiter der Beklagten hätte bei der Durchsicht des Bescheides der BG vom 11. März 1974 ohne besondere Anstrengungen bei überschlägiger Berechnung auffallen müssen, daß der Gesamtbetrag der Monatsrente bei einem Jahresbetrag der Vollrente von 10.711,32 DM höher als 492,70 DM sein mußte. Auch hätte er den maschinenschriftlichen Zusatz "unter Berücksichtigung der Darlehenstilgung von monatlich 400,– DM” zur Erläuterung des Gesamtbetrages der Monatsrente ohne weiteres erkennen müssen. Bei etwaigem Zweifel über die Höhe der Verletztenrente hätte der Sachbearbeiter die Möglichkeit gehabt, bei der BG anzufragen. Der Fehler eines Bediensteten der Beklagten in der Sachbearbeitung ist dieser als eigenes Verschulden zuzurechnen.
Ein Verschulden des Versicherungsträgers an der Überzahlung steht einer Rückforderung dann nicht entgegen, wenn die Überzahlung vom Empfänger vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden ist (vgl. BSG Urteil in SozR Nr. 16 zu § 1301 u. Nr. 3 zu 2200 § 1301).
In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist der Senat der Auffassung, daß der Gesetzgeber in § 80 AVG den Fall der schuldhaften Mitverursachung der Überzahlung durch den Leistungsempfänger nicht geregelt hat. Diese Lücke ist in Einklang mit der angeführten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dahin zu schließen, daß jedenfalls bei überwiegenden Mitverschulden des Versicherten an der Überzahlung oder bei beiderseits einfachem Verschulden eine Rückforderung der Überzahlung nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Der Kläger hat hier die Überzahlung eines Teils der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht grob fahrlässig mit verursacht.
Zwar war der Kläger nach der Bewilligung der Versichertenrente im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnisses zur unverzüglichen Mitteilung von Veränderungen verpflichtet, die für den Empfang der Versichertenrente erheblich waren. Für die Frage der groben Fahrlässigkeit kommt es indessen auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Leistungsempfängers sowie auf die besonderen Umstandes des Falles an (vgl. BSG Urteil in SozR Nr. 3 zu 4100 § 152 AFG). Grobe Fahrlässigkeit setzt hiernach eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes, d.h. eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt.
Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muß. Grundsätzlich mußte der Empfänger einer Rente wissen, daß ihm diese ganz oder teilweise nicht zusteht, wenn er dies ernsthaft annehmen mußte (vgl. BSG Urteil in SozR Nr. 4 zu 2200 § 1301).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann dem Kläger grobe Fahrlässigkeit bei dem Eintritt der Überzahlung nicht vorgeworfen werden. Dies gilt auch für den Empfang des überzahlten Teils der Versichertenrente. Der Kläger mußte bei Empfang der Versichertenrente seit Juli 1973 nicht ernsthaft annehmen, daß ihm diese nicht in der gewährten Höhe zustand. Der Fehler der Beklagten bei der Berechnung der Versichertenrente unter Anwendung des § 55 AVG war für den Kläger nach Erhalt des Bescheides vom 18. Februar 1975 nicht ohne weiteres erkennbar. Unter Berücksichtigung der Unterhaltsicherungsfunktion der Versichertenrente mußte sich dem Kläger nicht aufdrängen, daß statt des tatsächlich ausgezahlten Monatsbetrages der Verletztenrente auch die monatliche Darlehenstilgung der Berechnung der Versichertenrente gemäß § 55 AVG zugrunde zu legen war. Die Berechnung auf Blatt 1 der Anlage 4 zum Bescheid vom 18. Februar 1975 konnte vom Kläger dahin verstanden werden, daß mit dem Wort "Verletztenrente” nach seiner objektiven Erklärungsbedeutung nur der aktuell zum Lebensunterhalt zufließende Rentenbetrag gemeint sein konnte. Danach ist das Verhalten des Klägers auch unter Berücksichtigung des Bescheides vom 11. Juni 1975, der bei erneut fehlerhafter Rentenberechnung den Kläger in der Annahme deren Richtigkeit bestärken mußte, nicht als schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung zu werten.
Die Hinweise in den Bescheiden vom 18. Februar 1975 und 11. Juli 1975 rechtfertigen keine andere Beurteilung, da der Kläger nach den Rentenberechnungen davon ausgehen durfte, daß der Beklagten der Bezug der Verletztenrente bekannt war. Da eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung nicht festgestellt werden kann, ist das Verhalten des Klägers nur als leichte Fahrlässigkeit einzuordnen. Bei einfacher Fahrlässigkeit kann aber ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherten in die Rechtmäßigkeit der zuerkannten Leistung noch unterstellt werden (vgl. BSG in SozR Nr. 16 zu § 1301).
Demgegenüber überwiegt das Verschulden von Bediensteten der Beklagten. Trotz des klaren Wortlauts des Bescheids der BG vom 11. März 1974 ist die Versichertenrente nach dem Gesamtbetrag der Monatsrente von 492,70 DM berechnet worden, obwohl der Bescheid zur Erläuterung dieses Betrages den maschinenschriftlichen Zusatz "unter Berücksichtigung der Darlehenstilgung von monatlich 400,– DM enthält. Auch bei einer überschlägigen Berechnung der Verletztenrente nach dem aufgeführten Jahresbetrag von 10.711,32 DM hätte sich dem Sachbearbeiter die Annahme einer monatlichen Verletztenrente von nahezu 900,– DM aufdringen müssen. Bei den eindeutigen Daten und dem Zusatz im Bescheid der BG vom 11. März 1974 bedeutet deren Nichtbeachtung für die Anwendung des § 55 Abs. 1 AVG durch in der Rentenversicherung geschulte Bedienstete der Beklagten ein Verschulden, das das des Klägers überwiegt und das Maß einfacher Fahrlässigkeit erheblich überschreitet. Bei überwiegendem Verschulden von Bediensteten der Beklagten, das an der Grenze zur groben Fahrlässigkeit eingeordnet werden muß, ist aber eine Rückforderung des überzahlten Betrages ausgeschlossen.
Die angefochtenen Bescheide sind im übrigen auch deswegen fehlerhaft, weil entgegen § 80 Satz 2 AVG die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht geprüft worden sind. Das Vorgehen der Beklagten in Form der Kürzung der Versichertenrente durch Aufrechnung ab 1. November 1976 verstößt darüber hinaus wegen des vom Kläger eingelegten Widerspruchs gegen § 86 Abs. 2 SGG.
Bei dieser Sach- und Rechtslage war die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 25. Januar 1978 unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Bei überwiegendem Verschulden des Versicherungsträgers im Grenzbereich zur groben Fahrlässigkeit und noch schutzwürdigem Vertrauen des Versicherten in die Rechtmäßigkeit der gewährten Leistung ist die Rückforderung nach § 80 Satz 2 AVG ausgeschlossen. Der Rechtssache kommt mithin keine grundsätzliche Bedeutung zu (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
II. Die Beklagte hat dem Kläger auch die im Berufungsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Rückforderung überzahlter Versichertenrente in Höhe von 12.120,50 DM streitig.
Der 1950 geborene Kläger besuchte bis Juli 1969 ein Gymnasium in H ... Von Oktober 1969 bis Ende September 1971 war er Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr. Seit Oktober 1971 ist er Student. Ab Mitte Februar 1973 arbeitete der Kläger während der Semesterferien bei der Firma A. als Gabelstaplerfahrer. Am 2. März 1973 erlitt er einen Arbeitsunfall, der zu einer Querschnittslähmung führte.
Am 6. Juli 1973 beantragte der Kläger die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Durch Bescheid vom 11. März 1974 bewilligte die Süddeutsche Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft (BG) ab 2. März 1973 Verletztenrente nach einer MdE um 100 v.H. und einem Jahresarbeitsverdienst in Höhe von 16.066,98 DM. Der Bescheid weist als Jahresbetrag der Vollrente 10.711,32 DM aus und enthält zur Erläuterung des Gesamtbetrages der Monatsrente in Höhe von 492,70 DM folgenden Zusatz:
"unter Berücksichtigung der Darlehenstilgung von monatlich 400,– DM”.
Nach Einholung eines nervenfachärztlichen Gutachtens bei Dr. S. bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 18. Februar 1975 ab 1. Juli 1973 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Bei der Berechnung der Rente unter Berücksichtigung des § 55 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) wurde eine Verletztenrente von 5.912,40 DM zugrunde gelegt. Auch im Bescheid vom 11. Juli 1975 zur Rentenanpassung wurde dieser Betrag der Verletztenrente angesetzt. Dieser Bescheid enthält ebenfalls den Hinweis, daß der Bezug einer Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung sowie jede Veränderung derselben zu einer Änderung der Rentenhöhe führen könne. Der Leistungsempfänger sei verpflichtet, den Bezug oder die Änderung der Leistung umgehend mitzuteilen.
Durch Bescheid vom 5. März 1976 berechnete die BG die Verletztenrente nach dem 18. Rentenanpassungsgesetz und übersandte wie schon bei dem Bescheid vom 11. März 1974 eine Durchschrift an die Beklagte. Der Bescheid enthält die Bemerkung:
”Rentenkürzungmtl. 400,– DM”.
Auf Antrage der Beklagten teilte die BG dieser mit, die monatliche Rentenkürzung beruhe auf der Tilgung eines Darlehens, daß für Baumaßnahmen gewährt worden sei.
Durch Bescheid vom 26. August 1976 stellte die Beklagte die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 1973 unter Berücksichtigung einer Verletztenrente im Höhe von 892,70 DM neu fest. Bei einer Überzahlung von 12.120,50 DM wurde die Versichertenrente ab 1. November 1976 in Höhe von 298,40 DM um monatlich 100,– DM gekürzt.
Mit seinem Widerspruch wandte sich der Kläger gegen die Kürzung seiner Rente und vertrat die Auffassung, an der falschen Rentenberechnung treffe ihn keine Schuld.
Durch Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 1977 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. In einem Votum des Widerspruchsausschusses heißt es:
"Der Ausschuß hat die getroffene Entscheidung unter großen Bedenken gefällt, weil ein Mitverschulden der BfA nicht auszuschließen ist. Die entstandene Schwierigkeit könnte durch Anforderung des Bew. Besch. von der BG vermieden werden.”
Mit seiner Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter und trug zur Begründung vor, die Beklagte sei von der Berufsgenossenschaft über die Höhe der Unfallrente unterrichtet worden. Er selbst habe im Gegensatz zur Beklagten keinerlei Kontrollmöglichkeiten gehabt.
Durch Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 25. Januar 1978 wurde der Bescheid vom 13. Januar 1977 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 26. August 1976 und 28. Juni 1977 verurteilt, von der Rückforderung der Überzahlung Abstand zu nehmen.
Gegen dieses der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 6. Februar 1976 zugestellte Urteil richtet sich ihre mit Schriftsatz vom 21. Februar 1976 – eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 24. Februar 1978 – eingelegte Berufung.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, der Kläger habe die Überzahlung grob fahrlässig mit verursacht. Er sei verpflichtet gewesen, auf den für ihn leicht erkennbaren Fehler hinzuweisen. Bei grober Fahrlässigkeit des Leistungsempfängers sei aber die Rückforderung trotz eigenen Verschuldens an der Überzahlung nicht ausgeschlossen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 25. Januar 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung beruft er sich auf die nach seiner Meinung zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (vgl. §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Das angefochtene Urteil ist zu Recht ergangen. Die angefochtenen Bescheide sind ermessensfehlerhaft (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Zwar hat die Beklagte gegenüber dem Kläger einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch in Höhe von 12.120,50 DM. Denn in der Zeit vom 1. Juli 1973 bis zum 31. Oktober 1976 ist in dieser Höhe eine Überzahlung der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit eingetreten, die durch die Zugrundelegung eines Betrages der Verletztenrente in Höhe von 492,70 DM statt 892,70 DM bei der Anwendung der Ruhensvorschrift des § 55 Abs. 1 AVG entstanden ist. Da die Rechtsfolge des Ruhens unabhängig von einem entsprechenden Feststellungsbescheid bereits mit der Erfüllung des Ruhenstatbestandes kraft Gesetzes eintritt, ist die entgegen § 55 Abs. 1 AVG wegen der Berücksichtigung eines unrichtigen Betrages der Verletztenrente eingetretene Überzahlung vom Leistungsempfänger objektiv zu Unrecht empfangen. Der Kläger wendet sich auch nicht gegen die Überzahlung als solche, sondern gegen die Rückforderung des überzahlten Betrages.
Die Geltendmachung des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs durch die Beklagte ist jedoch ermessensfehlerhaft.
Nach § 80 Satz 2 AVG darf der Rentenversicherungsträger eine Leistung nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger beim Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist. Die Beklagte trifft für die Überzahlung eines Teils der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit in der Zeit vom 1. Juli 1973 bis zum 31. Oktober 1976 ein Verschulden. Der zuständige Sachbearbeiter, dessen Verschulden sich die Beklagte als eigenes zurechnen lassen muß, hat entgegen dem Bescheid der BG vom 11. März 1974 bei der Anwendung des § 55 AVG nur den tatsächlich ausgezahlten Teil der Verletztenrente mit einem Betrag in Höhe von 492,70 DM berücksichtigt, den wegen der Tilgung eines Darlehens für Baumaßnahmen einbehaltenen monatlichen Betrag von 400,– DM indessen außer acht gelassen. Dem Sachbearbeiter der Beklagten hätte bei der Durchsicht des Bescheides der BG vom 11. März 1974 ohne besondere Anstrengungen bei überschlägiger Berechnung auffallen müssen, daß der Gesamtbetrag der Monatsrente bei einem Jahresbetrag der Vollrente von 10.711,32 DM höher als 492,70 DM sein mußte. Auch hätte er den maschinenschriftlichen Zusatz "unter Berücksichtigung der Darlehenstilgung von monatlich 400,– DM” zur Erläuterung des Gesamtbetrages der Monatsrente ohne weiteres erkennen müssen. Bei etwaigem Zweifel über die Höhe der Verletztenrente hätte der Sachbearbeiter die Möglichkeit gehabt, bei der BG anzufragen. Der Fehler eines Bediensteten der Beklagten in der Sachbearbeitung ist dieser als eigenes Verschulden zuzurechnen.
Ein Verschulden des Versicherungsträgers an der Überzahlung steht einer Rückforderung dann nicht entgegen, wenn die Überzahlung vom Empfänger vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden ist (vgl. BSG Urteil in SozR Nr. 16 zu § 1301 u. Nr. 3 zu 2200 § 1301).
In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist der Senat der Auffassung, daß der Gesetzgeber in § 80 AVG den Fall der schuldhaften Mitverursachung der Überzahlung durch den Leistungsempfänger nicht geregelt hat. Diese Lücke ist in Einklang mit der angeführten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dahin zu schließen, daß jedenfalls bei überwiegenden Mitverschulden des Versicherten an der Überzahlung oder bei beiderseits einfachem Verschulden eine Rückforderung der Überzahlung nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Der Kläger hat hier die Überzahlung eines Teils der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht grob fahrlässig mit verursacht.
Zwar war der Kläger nach der Bewilligung der Versichertenrente im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnisses zur unverzüglichen Mitteilung von Veränderungen verpflichtet, die für den Empfang der Versichertenrente erheblich waren. Für die Frage der groben Fahrlässigkeit kommt es indessen auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Leistungsempfängers sowie auf die besonderen Umstandes des Falles an (vgl. BSG Urteil in SozR Nr. 3 zu 4100 § 152 AFG). Grobe Fahrlässigkeit setzt hiernach eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes, d.h. eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt.
Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muß. Grundsätzlich mußte der Empfänger einer Rente wissen, daß ihm diese ganz oder teilweise nicht zusteht, wenn er dies ernsthaft annehmen mußte (vgl. BSG Urteil in SozR Nr. 4 zu 2200 § 1301).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann dem Kläger grobe Fahrlässigkeit bei dem Eintritt der Überzahlung nicht vorgeworfen werden. Dies gilt auch für den Empfang des überzahlten Teils der Versichertenrente. Der Kläger mußte bei Empfang der Versichertenrente seit Juli 1973 nicht ernsthaft annehmen, daß ihm diese nicht in der gewährten Höhe zustand. Der Fehler der Beklagten bei der Berechnung der Versichertenrente unter Anwendung des § 55 AVG war für den Kläger nach Erhalt des Bescheides vom 18. Februar 1975 nicht ohne weiteres erkennbar. Unter Berücksichtigung der Unterhaltsicherungsfunktion der Versichertenrente mußte sich dem Kläger nicht aufdrängen, daß statt des tatsächlich ausgezahlten Monatsbetrages der Verletztenrente auch die monatliche Darlehenstilgung der Berechnung der Versichertenrente gemäß § 55 AVG zugrunde zu legen war. Die Berechnung auf Blatt 1 der Anlage 4 zum Bescheid vom 18. Februar 1975 konnte vom Kläger dahin verstanden werden, daß mit dem Wort "Verletztenrente” nach seiner objektiven Erklärungsbedeutung nur der aktuell zum Lebensunterhalt zufließende Rentenbetrag gemeint sein konnte. Danach ist das Verhalten des Klägers auch unter Berücksichtigung des Bescheides vom 11. Juni 1975, der bei erneut fehlerhafter Rentenberechnung den Kläger in der Annahme deren Richtigkeit bestärken mußte, nicht als schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung zu werten.
Die Hinweise in den Bescheiden vom 18. Februar 1975 und 11. Juli 1975 rechtfertigen keine andere Beurteilung, da der Kläger nach den Rentenberechnungen davon ausgehen durfte, daß der Beklagten der Bezug der Verletztenrente bekannt war. Da eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung nicht festgestellt werden kann, ist das Verhalten des Klägers nur als leichte Fahrlässigkeit einzuordnen. Bei einfacher Fahrlässigkeit kann aber ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherten in die Rechtmäßigkeit der zuerkannten Leistung noch unterstellt werden (vgl. BSG in SozR Nr. 16 zu § 1301).
Demgegenüber überwiegt das Verschulden von Bediensteten der Beklagten. Trotz des klaren Wortlauts des Bescheids der BG vom 11. März 1974 ist die Versichertenrente nach dem Gesamtbetrag der Monatsrente von 492,70 DM berechnet worden, obwohl der Bescheid zur Erläuterung dieses Betrages den maschinenschriftlichen Zusatz "unter Berücksichtigung der Darlehenstilgung von monatlich 400,– DM enthält. Auch bei einer überschlägigen Berechnung der Verletztenrente nach dem aufgeführten Jahresbetrag von 10.711,32 DM hätte sich dem Sachbearbeiter die Annahme einer monatlichen Verletztenrente von nahezu 900,– DM aufdringen müssen. Bei den eindeutigen Daten und dem Zusatz im Bescheid der BG vom 11. März 1974 bedeutet deren Nichtbeachtung für die Anwendung des § 55 Abs. 1 AVG durch in der Rentenversicherung geschulte Bedienstete der Beklagten ein Verschulden, das das des Klägers überwiegt und das Maß einfacher Fahrlässigkeit erheblich überschreitet. Bei überwiegendem Verschulden von Bediensteten der Beklagten, das an der Grenze zur groben Fahrlässigkeit eingeordnet werden muß, ist aber eine Rückforderung des überzahlten Betrages ausgeschlossen.
Die angefochtenen Bescheide sind im übrigen auch deswegen fehlerhaft, weil entgegen § 80 Satz 2 AVG die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht geprüft worden sind. Das Vorgehen der Beklagten in Form der Kürzung der Versichertenrente durch Aufrechnung ab 1. November 1976 verstößt darüber hinaus wegen des vom Kläger eingelegten Widerspruchs gegen § 86 Abs. 2 SGG.
Bei dieser Sach- und Rechtslage war die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 25. Januar 1978 unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Bei überwiegendem Verschulden des Versicherungsträgers im Grenzbereich zur groben Fahrlässigkeit und noch schutzwürdigem Vertrauen des Versicherten in die Rechtmäßigkeit der gewährten Leistung ist die Rückforderung nach § 80 Satz 2 AVG ausgeschlossen. Der Rechtssache kommt mithin keine grundsätzliche Bedeutung zu (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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