L 6/2 J 1/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6/2 J 1/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Gewahrsam, der in ähnlicher Weise auch nach rechtsstaatlichen Prinzipien hätte erlitten werden müssen, ist unabhängig von seinem Grund nicht politisch im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG (Anschluß an Urteil des BVerwG vom 22. Juni 1977 – VIII C 4.76).
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 28. Oktober 1976 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Zeit vom 6. April 1951 bis zum 8. Juni 1952 als Ersatzzeit.

Der 1909 geborene Kläger ist als Sowjetzonenflüchtling gemäß § 3 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) anerkannt. Am 13. April 1951 wurde er im sowjetisch besetzten Sektor von B. in Haft genommen und im Dezember 1951 angeklagt, als Kraftfahrer der O. Firma O. insgesamt 13 Holz-, Chemikalien- und Kohlentransporte gegen ein Entgelt von 25,– DM für jeden Transport bestimmungswidrig und illegal nach W. überführt zu haben, und zwar mit Hilfe von Warenbegleitscheinen, die von anderen Mitangeklagten gefälscht worden waren; dadurch habe er wertvolles Volksgut der Friedenswirtschaft entzogen und der westlichen Kriegswirtschaft zugeführt, wodurch er sich nach den §§ 1 und 2 der Verordnung über den innerdeutschen Handel vom 23. Dezember 1949 i.V. mit § 4 Abs. 1, 11 der Verordnung zum Schutz des innerdeutschen Handels strafbar gemacht habe. Am 15. Februar 1952 wurde der Kläger von der 1. großen Strafkammer des ehemaligen Landgerichts Berlin zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren verurteilt wegen Verstoßes gegen die als Transport- und Frachtführer auferlegte Verpflichtung der genauesten Einhaltung der Inhaltsangaben der Warenbegleitscheine. Mit Verfügung vom 21. Mai 1952 wurde die Reststrafe von 316 Tagen mit Wirkung vom 25. Mai 1952 zur Bewährung ausgesetzt.

Am 17. November 1958 übersiedelte der Kläger in die Bundesrepublik. Auf seinen Antrag stellte der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht in Frankfurt am Main durch Bescheid vom 2. Januar 1961 fest, daß die Vollstreckung der durch rechtskräftiges Urteil der 1. großen Strafkammer des sowjetrektoralen Landgerichts Berlin vom 15. Februar 1952 wegen Vergehens gegen die 4. Durchführungsbestimmung der Verordnung über Versandverpflichtung und Warenbegleitscheine vom 14. Oktober 1950 erkannten Strafe von 2 Jahren Gefängnis unzulässig sei.

Die Anträge des Klägers auf Ausstellung einer Bescheinigung gemäß § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes (HHG) und Gewährung einer Eingliederungsbeihilfe gemäß § 9 a Abs. 1 HHG wurden durch Bescheide des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 15. März 1962 abgelehnt mit der Begründung, der Kläger gehöre nicht zu den Berechtigten nach § 1 Abs. 1 HHG, da seine Inhaftierung wegen Verstoßes gegen die geltenden Bewirtschaftungsbestimmungen erfolgt sei, nicht aber politische Ursachen gehabt habe.

Mit Bescheid vom 4. Februar 1974 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersruhegeld vom 1. Januar 1974 an. Der Berechnung legte sie Versicherungs- und Ausfallzeiten für den Zeitraum vom 3. September 1923 bis 31. Dezember 1973 zugrunde. Eine Anrechnung der vom Kläger geltend gemachten Inhaftierung vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 als Ersatzzeit lehnte sie ab mit der Begründung, der Kläger gehöre nicht zum Personenkreis des § 1 HHG.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger keinen Rechtsbehelf ein, sondern beantragte mit Schreiben vom 15. Januar 1976 unter Berufung auf den Bescheid des Generalstaatsanwalts vom 2. Januar 1961, die Zeit vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 als Ersatzzeit anzurechnen und das Altersruhegeld neu festzustellen.

Durch Bescheid vom 5. Februar 1976 lehnte die Beklagte den Antrag ab unter Hinweis auf die fehlenden Voraussetzungen des § 1 HHG. Ein Widerspruchsverfahren wurde nicht durchgeführt.

Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden machte der Kläger geltend, entgegen den im damaligen Strafverfahren getroffenen Feststellungen von der Illegalität der Warentransporte nichts gewußt und lediglich einmal ein Trinkgeld von 20,– DM angenommen zu haben für seine Mithilfe beim Abladen der Ware.

Durch Urteil vom 28. Oktober 1976 verurteilte das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 4. Februar 1974, die Zeit vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 als Ersatzzeit anzuerkennen und dem Kläger eine höhere Rente zu gewähren.

Gegen dieses der Beklagten am 27. Dezember 1976 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 3. Januar 1977 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte das Vorverfahren nachgeholt (Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1978).

Die Beklagte hält die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 HHG für nicht erfüllt. Sie ist der Auffassung, daß der Kläger seine – allerdings unangemessen hohe – Haftstrafe wegen eines typischen Wirtschaftsstrafvergehens verbüßt habe, nicht aber wegen einer politischen Straftat.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 28. Oktober 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen, insbesondere den der Rentenakten, der Akten des Regierungspräsidenten in Darmstadt sowie der Akten der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht in Frankfurt am Main, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt und an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Sie ist auch sachlich begründet.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht zur Anerkennung einer Ersatzzeit vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 verurteilt.

Nach § 1300 Reichsversicherungsordnung (RVO) hat der Träger der Rentenversicherung eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugt, daß eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist. Im Rahmen dieser Vorschrift haben die Gerichte lediglich zu prüfen, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner negativen Überzeugung offensichtlich fehlerhaft gehandelt hat. Dementsprechend dürfen sie den Versicherungsträger nur dann als von der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides überzeugt ansehen und ihn zum Erlaß des von dem Versicherten begehrten günstigeren Neufeststellungsbescheides verurteilen, wenn die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides so offensichtlich ist, daß der Versicherungsträger bei der erneuten Prüfung zu der Überzeugung von der Rechtswidrigkeit hätte gelangen müssen, wenn sich seine negative Überzeugung also unter keinem tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt halten läßt (vgl. Urteile des Bundessozialgerichts vom 31. Juli 1968 und 20. August 1970 in SozR § 1300 Nr. 7, 12).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 1978, der gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, nicht zu beanstanden. Die Beklagte mußte sich nicht davon überzeugen, daß sie bei der Berechnung des Altersruhegeldes die Zeit vom 6. April 1951 bis 8. Juni 1952 zu Unrecht als Ersatzzeit außer Betracht gelassen hat. Vielmehr deckt sich ihre Rechtsauffassung über die Bewertung der streitigen Zeit in vollem Umfang mit derjenigen des Senats, so daß für eine Entscheidung zugunsten des Klägers selbst dann kein Raum wäre, wenn man in dem Bescheid vom 5. Februar 1976 einen inhaltlich (gegenständlich) beschränkten Zweitbescheid sehen würde, der uneingeschränkt auf seine Rechtsmäßigkeit nachzuprüfen ist (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 26. Januar 1978 – 5 RJ 34/77 –).

Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO, der hier alleine in Betracht kommt, werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten angerechnet Zeiten des Gewahrsams und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit bei Personen im Sinne des § 1 des Häftlingshilfegesetzes (HHG). Dazu gehören nach Abs. 1 Nr. 1 dieser Regelung bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen u.a. deutsche Staatsangehörige, wenn sie nach dem 8. Mai 1945 in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin aus politischen und nach freiheitlich demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam genommen wurden. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat die Beklagte zu Recht verneint.

Während der Zeit vom 13. April 1951 bis 24. Mai 1952, die als Haftzeit alleine nachgewiesen ist, befand sich der Kläger nicht aus politischen Gründen in Gewahrsam. Diese Entscheidung hatte der Senat unabhängig von dem Bescheid des Regierungspräsidenten vom 15. März 1962 zu treffen, der die Erteilung einer Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG abgelehnt hatte (vgl. KOCH-HARTMANN, Komm. z. AVG, 28. Lieferg. Stand: Mai 1977, § 28 Anm. B V 4).

Das Häftlingshilfegesetz selbst definiert den Begriff des Gewahrsams aus politischen Gründen nicht. Wie das Bundesverwaltungsgericht jedoch in seinem Urteil vom 22. Juni 1977 – BVerwG VIII C 4.76 – dargelegt hat, ist dieser Begriff nicht deckungsgleich mit dem Wortsinn. Vielmehr muß aus der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 HHG vorgenommenen geographischen Beschränkung geschlossen werden, daß das Gesetz nur Herrschaftsformen im Auge hat, die von der marxistisch-leninistischen Lehre geprägt sind. Der durch die marxistisch-leninistische Ideologie bestimmte Gewahrsam ist aber nur dann politischer Gewahrsam im Sinne des Häftlingshilfegesetzes, wenn er nach den in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden rechtsstaatlichen Grundsätzen auch unter Berücksichtigung der traditionellen Anschauungen im Gewahrsamsgebiet nicht vertretbar ist. Aus der Bindung der Häftlingshilfe an einen Gewahrsam in einem bestimmten Gewahrsamsgebiet folgt ferner, daß politisch nur eine Maßnahme ist, die gerade aus den Verhältnissen, die diesem Gebiet eigen sind, ihre Bewertung als politisch erhält. Dementsprechend ist grundsätzlich nur der Gewahrsam politisch, der dem im Herrschaftsgebiet bestehenden eigenen Herrschaftssystem zuzurechnen ist. Aus dieser Zielrichtung ergibt sich aber andererseits, daß ein Gewahrsam, der in ähnlicher Weise auch nach rechtsstaatlichen Prinzipien hätte erlitten werden müssen, unabhängig von seinem Grund im Sinne des Häftlingshilfegesetzes nicht politisch ist (vgl. BVerwG, a.a.O.). Diesen vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen schließt sich auch der erkennende Senat an.

Im vorliegenden Fall bedurfte es keiner abschließenden Entscheidung, ob die Höhe der gegen den Kläger im Urteil vom 15. Februar 1952 ausgesprochenen Strafe mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Denn selbst wenn man diese Frage in Übereinstimmung mit dem Bescheid des Generalstaatsanwalts beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main vom 2. Januar 1961 verneinen würde, führte dies nicht zur Anerkennung der Zeit vom 13. April 1951 bis 24. Mai 1952 als Ersatzzeit. Denn der Grund für die Verurteilung und Inhaftierung des Klägers, der einen schuldhaften Tatbeitrag leugnet, ist trotz der einseitigen Formulierungen in der Anklageschrift weder der marxistisch-leninistischen Ideologie noch dem im Gewahrsamsgebiet bestehenden eigenen Herrschaftssystem zuzurechnen. Vielmehr erfolgte die Verurteilung des Klägers – wie der Anklageschrift und dem Strafregisterauszug entnommen werden muß – aufgrund des Gesetzes zum Schutz des innerdeutschen Handels vom 21. April 1950 (vgl. Sammlung von Gesetzen und Verordnungen aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, S IV). In § 4 Abs. 1 dieses Gesetzes ist für den Transport von Waren aus dem Gebiet der DDR nach dem Ostsektor Groß-Berlins das Mitführen von Warenbegleitscheinen zwingend vorgeschrieben. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift und die dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen ist mit einer Gefängnisstrafe bis zu 3 Jahren und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bedroht. Insoweit handelt es sich um typische Wirtschaftsstrafbestimmungen, die zur Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung erlassen worden sind und ihre Erklärung in den geographischen Besonderheiten des Gewahrsamsgebietes finden, nicht aber in der marxistisch-leninistischen Ideologie. Auch das nach Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassene Wirtschaftsstrafgesetz vom 26. Juli 1949 (Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1949, 193) enthält Regelungen, die z.B. die Gefährdung der Bedarfsdeckung oder den Verstoß gegen Bewirtschaftungsvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen mit Gefängnisstrafe, in schweren Fällen sogar mit Zuchthausstrafe bedrohten (§§ 1, 17, 22, 25).

Die Tatsache, daß der Kläger möglicherweise wegen fehlenden Verschuldens zu Unrecht verurteilt und inhaftiert worden ist, rechtfertigt nicht die Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 5 RVO. Denn ein allgemeiner Grundsatz, daß beitragslose Zeiten, die auf unschuldig erlittenem Freiheitsentzug beruhen, durch Gewährung einer Ersatzzeit auszugleichen sind, läßt sich aus dem Gesetz nicht herleiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Rechtskraft
Aus
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