L 6 An 1301/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 An 1301/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Die Träger der Krankenversicherung sind nur für die medizinische und nicht für die berufliche Rehabilitation zuständig (Anschluss an BSG Urt. v. 7.12.77 – RA 7/77 – RA 7/77).
2) Zahnersatz gehört insoweit zur beruflichen Rehabilitation, als eine teurere Spezialanfertigung für die Berufsausübung (z.B: als Musiker) notwendig ist.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 25. November 1977 und der Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. September 1976 aufgehoben.

II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen.

III. Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen beider Rechtszüge zu erstatten.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Gewährung eines Zuschusses zum Zahnersatz als berufsfördernde Massnahme.

Der Kläger ist Posaunist im Orchester des Staatstheaters K ... Um diesen Beruf weiter ausüben zu können, liess er sich im Jahre 1976 einen den besonderen Anforderungen seines Berufes entsprechenden Zahnersatz eingliedern. Die Aufwendungen hierfür betrugen 9.897,79 DM. Von seiner Krankenkasse, der DAK, erhielt der Kläger einen Zuschuss von 5.394,67 DM. Der Arbeitgeber des Klägers gewährte darüber hinaus eine Beihilfe von 729,– DM. Aufgrund einer freiwilligen Versicherung leistete die Bayrische Versicherungskammer einen weiteren Zuschuss von 1.665,– DM. Wegen des Restbetrages von 2.109,12 DM stellte der Kläger im Januar 1976 einen Antrag auf Beihilfe zum Zahnersatz nach § 13 AVG bei der Beklagten.

Durch Bescheid vom 9. Februar 1976 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, durch das am 1. Oktober 1974 in Kraft getretene Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation seien Kosten für Zahnersatz Pflichtleistung für die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung geworden. Die Richtlinien über die Bewilligung von Beihilfen zum Zahnersatz seien daher aufgehoben worden. Entsprechende Haushaltsmittel stünden daher nicht zur Verfügung. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20. September 1976).

Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, es handele sich hier nicht um einen gewöhnlichen Zahnersatz, für den die Krankenkasse nach § 182 RVO aufzukommen habe. Vielmehr benötige er als Bläser eine besondere Ausführung dieses Zahnersatzes. Dabei gehe es nicht nur um die übliche Zahnfunktion wie Kaufähigkeit, sondern um den richtigen Ansatz für die Tonbildung des Blasinstrumentes. Hiervon hänge letztlich die Berufsfähigkeit ab. Deswegen handele es sich nicht schlechthin um die Bezuschussung von Zahnersatz, sondern um Massnahmen zur Erhaltung der Berufsfähigkeit im Sinne des § 13 AVG. Die Leistungsverpflichtung der Beklagten sei insoweit durch das Rehabilitationsangleichungsgesetz nicht berührt worden.

Die Beklagte räumte zwar ein, dass der Kläger für seine Berufstätigkeit einen speziellen Zahnersatz benötige. Sie vertrat jedoch die Auffassung, dass hierfür die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ausschliesslich zuständig seien.

Durch Urteil vom 25. November 1977 hat das Sozialgericht Kassel die Klage abgewiesen mit der Begründung, die vom Kläger begehrte Beihilfe sei keine Rehabilitationsmassnahme im Sinne des § 13 AVG. Frühere Beihilferichtlinien der Beklagten für Zahnersatz seien ab 1. Oktober 1974 durch das Rehabilitationsangleichungsgesetz aufgehoben worden. Die Berufung wurde zugelassen.

Gegen dieses dem Kläger am 16. Dezember 1977 zugestellte Urteil richtet sich seine am 22. Dezember 1977 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung, mit der er sich gegen die Rechtsauffassung des Sozialgerichts wendet. Er vertritt weiter die Auffassung, dass das Rehabilitationsangleichungsgesetz die Leistungen zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit eines Bläsers im Orchester, um die es hier gerade gehe, nicht abgeschafft habe. Ohne den speziellen Zahnersatz, der höhere Aufwendungen erfordere, würde Berufsunfähigkeit eintreten. Die hierfür erforderlichen besonderen Aufwendungen würden von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung häufig nur zu etwa 50 % erstattet, weil es keinen besonderen Tarif für Zahnersatz zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit gebe, sondern die Krankenkasse nur allgemein im Rahmen ihrer Krankenhilfe Leistung gewähre. Für seinen Beruf benötige er eine besonders gut sitzende Prothese mit gesicherter Okklusion. Dies bedinge Mehrkosten durch Funktionsanalyse, Metallkeramik und dergleichen in Höhe von 4.503,12 DM.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 25. November 1977 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. Februar 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 1976 zu verurteilen, einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die in rechter Form und Frist eingelegte Berufung ist nach § 150 Nr. 1 SGG zulässig.

Die Berufung ist auch begründet.

Das angefochtene Urteil konnte keinen Bestand haben.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind ermessensfehlerhaft und mussten daher aufgehoben werden.

Zu Unrecht hat die Beklagte ihr Ermessen bei der Prüfung der Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe der Kläger Anspruch auf die begehrte Beihilfe zum Zahnersatz hat, nicht ausgeübt (Ermessensmangel). Die Rechtsauffassung der Beklagten dass auch im Falle des Klägers der Träger der Krankenversicherung allein Leistungen zu erbringen hat, wird vom erkennenden Senat nicht geteilt. Sie findet im Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 (BGBl. I S. 1881 – RehaG –) keine ausreichende Stütze.

Nach § 6 Abs. 1 RehaG richtet sich die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers nach den für ihn geltenden gesetzlichen Vorschriften. In diesem Rahmen sind die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung für die medizinische, jedoch nicht für die berufliche Rehabilitation zuständig. Nach dem insoweit unveränderten § 182 Abs. 2 RVO muss die Krankenhilfe ausreichend und zweckmässig sein; sie darf das Mass des Notwendigen nicht überschreiten. Damit wird die Krankenhilfe durch medizinische Grundsätze inhaltlich bestimmt und begrenzt. Dies gilt auch für den Zahnersatz (§ 182 c RVO). Diesen hat der Krankenversicherungsträger nur insoweit zu gewähren, als es zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit eines Gebisses erforderlich ist. Weitergehende Leistungen wären unwirtschaftlich. So besteht insbesondere keine Verpflichtung zur Gewährung einer Sonderanfertigung, die anderen Zwecken als der eigentlichen Funktionsfähigkeit des Gebisses zu dienen bestimmt ist.

Im vorliegenden Fall geht es nicht nur um den Zahnersatz schlechthin, sondern um eine Spezialanfertigung im Hinblick auf eine Berufstätigkeit des Klägers. Die hierfür erforderlichen Aufwendungen liegen über denen, die angefallen wären, wenn lediglich die übliche Funktionsfähigkeit des Gebisses hätte wiederhergestellt werden müssen. Der Kläger brauchte einen besonderen Zahnersatz, um seinen Beruf als Bläser weiter ausüben zu können. Die hierfür erforderlichen, den üblichen Zahnersatz übersteigenden Aufwendungen sind nicht dem Bereich der medizinischen, sondern der beruflichen Rehabilitation zuzuordnen.

Wären bei einem aus medizinischer Sicht an sich gesunden Gebiss irgendwelche Vorrichtungen erforderlich, um das Spielen eines Musikinstrumentes zu ermöglichen, so wäre das Anbringen dieser Vorrichtung eine zahnärztliche Leistung, diente aber ausschliesslich der beruflichen Rehabilitation. In diesem Falle liesse sich die Zuständigkeit eines Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung nicht begründen. Eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 2 RVO läge nicht vor. Nichts anderes kann aber im Prinzip gelten, wenn eine nach medizinischen Gesichtspunkten ausreichende zahnärztliche Versorgung wegen des Berufes eines Patienten ausgedehnt werden muss. Auch dann sind Leistungen zu erbringen, die mit der Heilung einer Krankheit nichts mehr zu tun haben. Für die hier erforderliche berufliche Rehabilitation des Klägers ist die Beklagte zuständig. Hier geht es nicht um die Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, sondern um die Erhaltung der Erwerbsfähigkeit. Dem steht nicht entgegen, dass nach § 5 Abs. 2 RehaG jeder Rehabilitationsträger die nach Lage des Einzelfalles erforderlichen Leistungen vollständig und umfassend zu erbringen hat. Dies gilt nur insoweit, als im Rahmen des § 6 RehaG nach den besonderen gesetzlichen Vorschriften die Zuständigkeit begründet ist. Wie bereits ausgeführt, besteht hinsichtlich der Spezialanfertigung des Zahnersatzes, die den Kläger instand setzt, seinen Beruf als Bläser weiter auszuüben, keine Leistungspflicht der Krankenkasse. Die beruflichen Auswirkungen eines Zahnersatzes werden vom Heilerfolg im Sinne des § 182 Abs. 2 RVO erfasst. Wegen dieser besonderen vorrangigen Zuständigkeitsvorschriften greift auch § 5 Abs. 2 RehaG nicht Platz. Mehrfache Zuständigkeiten im Bereich der Rehabilitation wollte der Gesetzgeber zwar einschränken, jedoch ebenso wie die Kumulierung von Rehabilitationsleistungen nicht ausschliessen (vgl. BSG, Urteil v. 7.12.1977 – 1 RA 7/77 –). Andernfalls hätte die Zuständigkeitsregelung im Sinne des § 6 Abs. 1 RehaG entsprechend modifiziert werden müssen.

Auch ohne das Vorhandensein von Richtlinien wird die Beklagte im Rahmen des ihr in § 13 AVG eingeräumten Ermessens prüfen müssen, ob und in welcher Höhe dem Kläger eine Beihilfe zum Zahnersatz zu gewähren ist (vgl. BSG 27, 34, 38). Der erkennende Senat kann dabei sein Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Beklagten setzen. Bei der Prüfung des vom Kläger geltend gemachten Anspruches kann die Beklagte den beihilfefähigen Betrag dahin eingrenzen, dass sie von den Gesamtkosten die Kosten absetzt, die auch bei kassenüblicher Versorgung entstanden wären und sich auf die durch die Spezialanfertigung entstandenen Mehrkosten beschränkt. Weiterhin steht es im Ermessen der Beklagten, die beihilfefähigen Kosten im Hinblick auf die schon bei kassenüblicher Versorgung nach § 182 c RVO angefallene Eigenbeiteiligung des Klägers voll zu übernehmen oder nur teilweise zu erstatten. Eine Eigenleistung des Versicherten (Selbstbehalt) kann bei beruflicher Rehabilitation nach Lage des Einzelfalles durchaus möglich sein.

Nach alledem war das angefochtene Urteil und die angefochtenen Bescheide der Beklagten nach § 54 Abs. 2 SGG aufzuheben. Die Beklagte wird dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen haben (vgl. BSG 27, 34).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Rechtsfrage der Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Beihilfe für Zahnersatz als Leistung beruflicher Rehabilitation von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Rechtskraft
Aus
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