S 56 AS 1948/06

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
56
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 56 AS 1948/06
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 16.6.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.8.2006 und des Änderungsbescheides vom 31.8.2006 verpflichtet, der Klägerin für den Monat Juni 2006 Leistungen nach dem SGB II ohne Kürzung infolge der unentgeltlichen Verpflegung während ihres stationären Krankenhausaufenthaltes zu gewähren. 2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. 3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kürzung von Leistungen nach dem SGB II während eines stationären Krankenhausaufenthaltes der Klägerin.

Die 1966 geborene Klägerin erhält seit Januar 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchenden nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 30.3.2006 bewilligte ihr die Beklagte Leistungen für den Zeitraum 1.5.2006 – 31.10.2006 in Höhe von monatlich 539,72 EUR unter Berücksichtigung eines Regelsatzes von 345,- EUR.

Am 13.6.2006 wurde die Klägerin stationär in das Krankenhaus B. B1. aufgenommen. Dies teilte die Betreuerin der Klägerin der Beklagten am 15.6.2006 per Fax mit. Am 16.6.2006 erließ die Beklagte einen Änderungsbescheid, mit dem der Klägerin für den Zeitraum 1.6.2006 – 30.6.2006 Leistungen in Höhe von 509,41 EUR und für den Zeitraum 1.7.2006 – 31.10.2006 in Höhe von 461,11 EUR monatlich bewilligt wurden. Der dem Bescheid beigefügte Berechnungsbogen wies einen Gesamtbedarf von 581,86 EUR (345,- EUR Regelsatz und 236,86 EUR Kosten der Unterkunft) aus, davon wurde als "sonstiges Einkommen" im Juni 2006 ein Betrag von 72,45 EUR, in den übrigen Monaten von 120,75 EUR abgezogen. In dem Bescheid heißt es "Wegen stationärem Aufenthalt im Krankenhaus werden gem. § 9 SGB II 35 Prozent der Regelleistung wegen anderweitiger Bedarfsdeckung von der Regelleistung abgezogen. Da das Programm leider keine andere Möglichkeit zulässt, erscheint der Betrag (35 Prozent der Regelleistung) als sonstiges Einkommen, hierbei handelt es sich aber um die Minderung der Regelleistung."

Hiergegen erhob die Klägerin am 20.6.2006 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, die Regelleistung werde in § 20 Abs. 2 SGB II als absoluter Betrag und ohne Rücksicht auf individuelle Belange festgelegt. Eine Kürzung wegen fehlenden Bedarfs sei nicht vorgesehen. Außerdem teilte die Klägerin unter Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung des B. Krankenhauses mit, dass sie am 18.6.2006 das Krankenhaus wieder verlassen habe.

Mit Änderungsbescheid vom 3.7.2006 bewilligte die Beklagte für den Zeitraum 1.7.2006 – 31.10.2006 Leistungen in Höhe von 581,86 EUR monatlich.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.8.2006 setzte die Beklagte die Kürzung der Regelleistung aufgrund des stationären Aufenthaltes in der Zeit vom 13.6.2006 bis zum 18.6.2006 auf 24,15 EUR fest. Im Übrigen wies sie den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, ein Leistungsanspruch bestehe nur insoweit, wie der Betroffene hilfebedürftig sei. Die Klägerin habe während der stationären Maßnahme volle Verpflegung erhalten. Damit sei ein Teil des von der Regelleistung erfassten Bedarfs von anderen geleistet worden. Der Wert der Verpflegung sei mit 35% des Regelsatzes zu bemessen, d.h. mit 120,75 EUR. Für 6 Tage betrage der Wert 6/30 hiervon, d.h. 24,15 EUR. Daher habe die Klägerin für den Monat Juni 2006 einen Anspruch auf Regelleistung in Höhe von lediglich 320,85 EUR.

Am 31.8.2006 erließ die Beklagte einen Änderungsbescheid, mit dem der Klägerin für den Zeitraum 1.6.2006 – 30.6.2006 Leistungen in Höhe von 557,71 EUR bewilligt wurden.

Die Klägerin hat am 27.9.2006 Klage erhoben. Sie verweist auf Entscheidungen des Sozialgerichts Berlin vom 6.3.1006 und des Sozialgerichts Detmold vom 10.1.2006 und trägt vor, dass § 19 SGB II die Höhe des Regelsatzes abschließend bestimme. Abzüge, die mit einem Nichtbestehen eines Teils des vom Regelsatz erfassten Bedarfs begründet werden, sehe das Gesetz nicht vor. Bei einer pauschalen Regelleistungsbestimmung könne ein tatsächlich geringerer Bedarf ebenso wenig zu einer Kürzung des Zahlbetrags führen, wie sich ein Hilfeempfänger jenseits der anerkannten Mehrbedarfsfälle auf einen dauerhaft höheren Regelbedarf berufen könne. Außerdem sehe § 7 Abs. 4 SGB II vor, dass derjenige, der länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, keine Leistungen erhält. Daraus sei im Umkehrschluss zu folgern, dass bei einem kürzeren Aufenthalt Leistungen uneingeschränkt zu gewähren sind.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16.6.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.8.2006 und des Änderungsbescheides vom 31.8.2006 zu verpflichten, ihr für den Monat Juni 2006 Leistungen nach dem SGB II ohne Kürzung infolge der unentgeltlichen Verpflegung während ihres stationären Krankenhausaufenthaltes zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf den Widerspruchsbescheid vom 29.8.2006 und führt ergänzend aus, die erhaltene Vollverpflegung stelle eine Einnahme dar und sei daher als Einkommen gemäß § 11 SGB II auf den Bedarf anzurechnen.

Zur Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Akte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 16.6.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.8.2006 und des Änderungsbescheides vom 31.8.2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat für den Monat Juni 2006 Anspruch auf Bewilligung von Leistungen ohne Abzüge infolge der Verpflegung während ihres stationären Krankenhausaufenthaltes.

Die Verpflegung, die die Klägerin während ihres Krankenhausaufenthaltes erhalten hat, berechtigt die Beklagte nicht dazu, von einem geringeren Bedarf auszugehen und deshalb die Regelleistung zu mindern (ebenso LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.7.2007, Az.: L 7 AS 1431/07; SG Berlin, Urteil vom 22.6.2007, Az.: S 37 AS 8103/06, Urteil vom 24.4.2007, Az: S 93 AS 9826/06 und Urteil vom 6.3.2006, Az.: S 103 AS 468/06; SG Mannheim, Urteil vom 28.2.2007, Az.: S 9 AS 3882/06; SG Karlsruhe, Urteil vom 9.1.2007, Az: S 14 AS 2026/06 offen gelassen von LSG Bayern, Urteil v. 19.6.2007, Az.: L 11 AS 4/07). Die Höhe des Regelsatzes ist in § 19 SGB II abschließend und in Form einer Pauschale, d.h. ohne Rücksicht auf individuelle Besonderheiten geregelt. Eine Rechtsgrundlage für die abweichende Festsetzung der Regelleistung in Fällen anderweitiger Bedarfsdeckung enthält das SGB II – anders als die entsprechende Vorschrift über den Regelsatz im Rahmen der Sozialhilfe, § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII – nicht. Hat sich der Gesetzgeber für eine pauschalierte Leistungsbewilligung entschieden, so nimmt er in Kauf, dass einerseits ein tatsächlicher dauerhaft höherer Bedarf des Leistungsempfängers ungedeckt bleibt und andererseits im Falle eines tatsächlich niedrigeren Bedarfs eine Überdeckung eintritt.

Eine Kürzung des Leistungsanspruchs kann daher nur dann erfolgen, wenn die kostenlose Krankenhausverpflegung Einkommen im Sinne von § 11 SGB II darstellt und als solches auf den Bedarf anzurechnen ist. Im vorliegenden Fall resultiert aus der Krankenhausverpflegung im Monat Juni 2006 jedoch kein zu berücksichtigendes Einkommen der Klägerin. Das ergibt sich allerdings nicht bereits daraus, dass die kostenlose Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes generell kein Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II wäre. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen; die in dieser Vorschrift ausdrücklich genannten Ausnahmen sind vorliegend nicht einschlägig. Die kostenlose Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes ist nach Auffassung des Gerichts als geldwerte Einnahme in diesem Sinne anzusehen (strittig, wie hier LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.7.2007, Az.: L 7 AS 1431/07; LSG Bayern, Urteil v. 19.6.2007, Az.: L 11 AS 4/07; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 19.6.2007, Az.: L 3 ER 144/07 AS; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.1.2007, Az.: L 13 AS 14/06 ER; SG Karlsruhe, Urteil vom 9.1.2007, Az.: S 14 AS 2026/06; SG Koblenz, Urteil vom 20.4.2006, Az.: S 13 AS 229/05, a.A. VG Bremen, Urteil vom 13.7.2007, Az.: S 7 K 1968/06; SG Osnabrück, Urteil vom 20.6.2007, Az.: S 24 AS 189/07; SG Berlin, Urteil vom 22.6.2007, Az.: S 37 AS 8103/06, Urteil vom 24.4.2007, Az: S 93 AS 9826/06 und Urteil vom 6.3.2006, Az.: S 103 AS 468/06; SG Mannheim, Urteil vom 28.2.2007, Az.: S 9 AS 3882/06; SG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 24.10.2006, Az.: S 9 AS 1557/06). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Aus der ALG II-Verordnung (ALG II-V), die nähere Bestimmungen zur Berechnung und Berücksichtigung von Einkommen enthält, geht hervor, dass auch Sachleistungen Einkommen darstellen. § 2 Abs. 4 ALG II-V regelt die Bewertung von Sachleistungen, die als Lohn für nichtselbständige Arbeit gewährt werden und verwies hierfür in der bis zum 31.12.2006 geltenden Fassung auf die Sachbezugsverordnung. § 2 ALG II-V ist jedoch nicht nur auf Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit anwendbar, sondern auch auf sonstige Einnahmen, die nicht aus selbständiger Arbeit, Gewerbebetrieb und Land- und Forstwirtschaft stammen, § 2b ALG II-V. In § 1 Sachbezugsverordnung wird die freie Verpflegung ausdrücklich als Sachbezug angesehen. In diesen Regelungen kommt zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber auch eine kostenlose Verpflegung als Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II berücksichtigt wissen wollte (vgl. hierzu SG Karlsruhe, Urteil vom 9.1.2007, Az.: S 14 AS 2026/06).

Auch ohne Rückgriff auf diese expliziten Regelungen lässt sich die kostenlose Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes unter den Einkommensbegriff des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II subsumieren. Einnahmen in Geldeswert sind solche Sacheinnahmen, die einen in Geld ausdrückbaren Wert besitzen. Dabei muss es sich um einen Marktwert handeln, weshalb kleinere Gefälligkeiten, die von Bekannten oder Verwandten gewährt werden, keinen Geldwert in diesem Sinne haben. Außerdem muss die Sachleistung geeignet sein, die Hilfebedürftigkeit (teilweise) zu beseitigen. Die Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes hat einen Marktwert. Dies wird vor allem daran deutlich, dass für diese Leistungen ein Entgelt erbracht wird; zwar nicht von dem Hilfeempfänger, aber von der zuständigen Krankenkasse oder – bei einer Reha-Maßnahme – dem Rentenversicherungsträger (vgl. hierzu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.7.2007, Az.: L 7 AS 1431/07; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.1.2007, Az.: L 13 AS 14/06 ER). Angesichts dessen ist es nach Auffassung des Gerichts auch unerheblich, dass der Hilfeempfänger die Krankenhausverpflegung realistischerweise wohl kaum durch Verkauf an Dritte wieder in Geld umwandeln kann (vgl. hierzu SG Mannheim, Urteil vom 28.2.2007, Az.: S 9 AS 3882/06). Die Verpflegung ist auch bedarfsbezogen verwendbar, denn der Hilfeempfänger kann mit ihr seinen Ernährungsbedarf decken und damit die Hilfebedürftigkeit mindern. Etwas anderes mag allenfalls dann gelten, wenn die Erkrankung eine spezielle Kostform erfordert, was vorliegend nicht der Fall war.

Die von der Beklagten vorgenommene Bewertung der kostenlosen Vollverpflegung mit 35 % des Regelsatzes, d.h. 120,75 EUR monatlich bzw. 24,15 EUR für sechs Tage im Juni 2006 ist nicht zu beanstanden. Der so ermittelte Betrag liegt weit unter dem Wert, der nach der Sachbezugsverordnung für Vollverpflegung angesetzt wird. Er entspricht in etwa dem Anteil der Verpflegung am Regelsatz (127,31 EUR allerdings inklusive Tabakwaren, vgl. Schwabe, ZfF 2007, S. 25).

Von dem so ermittelten Einkommen der Klägerin in Höhe von 24,15 EUR für den Monat Juni 2006 ist jedoch die Versicherungspauschale gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB II iVm § 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG II-V) abzusetzen (für eine Absetzung auch LSG Bayern, Urteil vom 19.6.2007, Az.: L 11 AS 4/07). Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin das Einkommen in Form der Verpflegung nicht direkt für Versicherungsbeiträge aufwenden kann. Dies ergibt sich bereits daraus, dass weder § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB II noch § 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG II-V die Absetzbarkeit der Versicherungsbeiträge auf bestimmte Arten von Einkommen beschränkt. Hätte der Gesetzgeber bei Sacheinnahmen keinen Abzug der Versicherungspauschale ermöglichen wollen, so hätte es nahegelegen, den Abzug ausdrücklich nur für Einnahmen in Geld vorzusehen. Der Gesetzgeber war sich der Möglichkeit, Abzüge auf bestimmte Einkommensarten zu beschränken, durchaus bewusst, was z.B. darin zum Ausdruck kommt, dass der Freibetrag nach § 11 Abs. 2 Nr. 6, § 30 SGB II sowie die Werbungskosten- und die Fahrtwegpauschale nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 ALG II-V nur vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit abzusetzen ist. Hinsichtlich der Versicherungspauschale findet sich in § 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG II-V eine Beschränkung auf das Einkommen Volljähriger und solcher Minderjähriger, die nicht mit volljährigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Weitere Einschränkungen sind nicht vorgesehen, weshalb von einer Anwendbarkeit auf alle Arten von Einkommen Volljähriger auszugehen ist. Außerdem kann die Klägerin zwar nicht die Verpflegung selbst für Versicherungsbeiträge einsetzen, wohl aber die Ersparnis, die sie infolge der Vollverpflegung hat.

Nach Absetzung der Versicherungspauschale in Höhe von 30,- EUR verbleibt der Klägerin vorliegend kein anzurechnendes Einkommen.

Die Berufung bedurfte der Zulassung, da der Beschwerdegegenstand die Grenze des § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht übersteigt. Das Gericht hat die Berufung zugelassen, da die entscheidungserheblichen Fragen der Anrechenbarkeit der kostenlosen Verpflegung während des Krankenhausaufenthaltes als Einkommen und des Abzugs der Versicherungspauschale grundsätzliche Bedeutung haben, § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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