L 6 Ar 1406/89

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 5 Ar 1052/88
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Ar 1406/89
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Die Abgrenzung zwischen Vergangenheit und Zukunft bei der Aufhebung eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes bestimmt sich in Fällen, in denen die Verwaltungsbehörde den auf diese Aufhebung gerichteten Verwaltungsakt abgelehnt hat, nach dem Zeitpunkt des Eingangs dieses Antrags (Abgrenzung zu BSG SozR 1300 § 48 Nr. 31)
2) § 152 Abs. 1a AFG i.d.F.d. KOV-Anpassungsgesetzes v. 30.6.1989 (BGBl I S. 1288) findet keine Anwendung auf Fallgestaltungen, die Zeiträume vor Ablauf des Jahres 1988 betreffen und bei denen der Überprüfungsantrag noch in 1988 gestellt worden ist.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 1. November 1989 abgeändert und zugleich der Tenor des Urteils neu gefaßt. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 1988 und der Widerspruchsbescheid vom 15. August 1988 werden aufgehoben. Unter Abänderung des Bescheides vom 7. April 1988 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin in der Zeit vom 20. Juni 1988 bis zum 30. November 1988 Arbeitslosenhilfe ohne Anrechnung von Unterhaltsansprüchen der Klägerin gegenüber ihrem Vater zu gewähren. Im übrigen wird die Beklagte verurteilt, über den Anspruch der Klägerin auf Abänderung des Bescheides vom 7. April 1988 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin in der Zeit vom 1. Februar 1988 bis zum 30. November 1988 Arbeitslosenhilfe ohne Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche gegen ihren Vater zusteht.

Die Klägerin ist 1946 geboren. Sie schloß im Januar 1988 ihre Ausbildung als Lehrerin mit der zweiten Staatsprüfung ab. Mit Wirkung zum 1. Februar 1988 meldete sich die Klägerin arbeitslos. Nach eingetretener Arbeitslosigkeit bemühte sie sich ausschließlich um Stellen als Lehrerin. Weitergehende Bemühungen in minderqualifizierten Tätigkeiten sind durch die Klägerin nicht erfolgt. Auch seitens des Arbeitsamtes wurden solche Tätigkeiten nicht zur Vermittlung vorgeschlagen. Ein darauf bezogenes Beratungsgespräch wurde der Klägerin nicht angeboten.

Der Vater der Klägerin ist 1921 geboren. Er ist Rentner und bezieht neben Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine betriebliche Altersrente der Firma H. AG. Der Vater der Klägerin leistet gegenüber seiner Tochter keinen Unterhalt. Ein 1988 vor dem Amtsgericht Frankfurt am Main anhängig gemachter Unterhaltsrechtsstreit wurde von der Klägerin nicht weiter betrieben. Die 1926 geborene Mutter der Klägerin verfügt über kein eigenes Einkommen.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin durch Bescheid vom 7. April 1988 Arbeitslosenhilfe ab dem 1. Februar 1988. Die Leistungsbewilligung erfolgte unter Zugrundelegung eines wöchentlichen Arbeitsentgeltes von 530,– DM sowie unter Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs der Klägerin gegen ihren Vater in Höhe von 109,33 DM wöchentlich. Dies führte zu einem wöchentlichen Leistungssatz von 107,88 DM. Unter Berücksichtigung des von der Klägerin während ihrer Arbeitslosigkeit erzielten Nettonebeneinkommens ergaben sich daraus in den einzelnen Wochen des Bezugs von Arbeitslosenhilfe Leistungen in unterschiedlicher Höhe.

Mit dem bei der Beklagten am 20. Juni 1988 eingegangenen Schreiben vom 15. Juni 1988 wandte sich die Klägerin gegen den Bescheid vom 7. April 1988. Sie hielt die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf ihre Arbeitslosenhilfe nicht für zulässig, da ihr Vater nicht bereit sei, den entsprechenden Anrechnungsbetrag monatlich als Unterhalt zu zahlen.

Die Beklagte sah dieses Schreiben als Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch X (SGB X) an. Sie lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 8. Juli 1988 mit der Begründung ab, daß es nicht darauf ankomme, ob der Unterhaltsanspruch tatsächlich realisiert werden könne. Zur Anrechnung genüge vielmehr ein fiktiver Unterhaltsanspruch, so daß es bei der tatsächlich vorgenommenen Anrechnung verbleiben müsse.

Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 15. August 1988 zurückgewiesen.

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Kassel durch Urteil vom 1. November 1989 die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Februar 1988 bis zum 30. November 1988 Arbeitslosenhilfe in Höhe von wöchentlich 217,20 DM zu zahlen. Das Sozialgericht hat die Berufung gegen dieses Urteil zugelassen. Das Sozialgericht hat die Auffassung vertreten, die Klägerin habe gegen ihren Vater keinen Unterhaltsanspruch gehabt, so daß die ursprüngliche Anrechnung eines solchen Unterhaltsanspruchs rechtswidrig gewesen sei. Unterhaltsansprüche der Klägerin seien deshalb ausgeschlossen gewesen, weil sich die Klägerin nicht um Arbeiten unter ihrem Niveau als Lehrerin bemüht habe. Die Beklagte sei deshalb auch verpflichtet gewesen, die Anrechnung für die Zukunft zurückzunehmen. Gleiches gelte auch hinsichtlich der Vergangenheit. Zwar sei insoweit der Beklagten grundsätzlich die Ausübung einer Ermessensentscheidung eingeräumt. Dieses Ermessen sei jedoch vorliegend auf Null geschrumpft. Insbesondere könne nicht davon ausgegangen werden, daß das öffentliche Interesse an einer Aufrechterhaltung bestandskräftiger Bescheide gegenüber dem Interesse des einzelnen an einer Nachzahlung von Anrechnungsbeträgen überwiege. Mit der Bewilligung der höheren Arbeitslosenhilfe sei auch kein erheblicher Verwaltungsaufwand verbunden, da lediglich die angerechneten Beträge anhand der Zahlungsnachweise zusammenzurechnen gewesen seien. Schließlich stehe auch § 152 Abs. 1 a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der Fassung vom 30. Juni 1989 einer teilweisen Aufhebung der ursprünglich fehlerhaften Anrechnung nicht entgegen. Da zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung ein Überprüfungsverfahren bereits eingeleitet gewesen sei, könne diese Bestimmung vorliegend nicht zur Anwendung kommen.

Gegen das der Beklagten am 4. Dezember 1989 zugestellte Urteil richtet sich die am 19. Dezember 1989 eingegangene Berufung. Die Beklagte ist der Auffassung, § 152 Abs. 1 a AFG schließe – selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 44 SGB X im übrigen – eine für die Klägerin günstige Entscheidung aus. Diese Bestimmung betreffe alle zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 152 Abs. 1 a AFG (8. Juli 1989) nicht mehr in zulässiger Weise durch Widerspruch, Klage und gerichtliche Rechtsmittel angreifbare und daher unanfechtbar gewordene Arbeitslosenhilfe-Bescheide, und zwar unabhängig davon, an welchem Tag vor dem 8. Juli 1989 diese Bescheide oder die zugehörigen gerichtlichen Entscheidungen bestandskräftig bzw. rechtskräftig und damit verbindlich geworden seien. Dies gelte auch unabhängig davon, ob ein Betroffener vor dem 8. Juli 1989 einen Überprüfungs- und Neubescheidungs-Antrag nach § 44 SGB X gestellt habe oder ein entsprechendes Verfahren von Amts wegen eingeleitet worden sei, es sei denn, ein insoweit stattgebender Bescheid sei seinerseits bereits bestandskräftig und verbindlich geworden (Hinweis auf LSG Niedersachsen, Urt. v. 15.12.1989 – L-6/Ar-292/87). Auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Anwendung des § 152 Abs. 1 a AFG auf Fälle der vorliegenden Art bestünden nicht. Bei dieser als Reaktion auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. September 1988 im Verfahren 11 RAr 25/88 neu geschaffenen Bestimmung handele es sich um eine der Rechtsklarheit und der Verwaltungsvereinfachung dienende Einschränkung der §§ 44 SGB X, 152 Abs. 1 AFG. Der Gesetzgeber könne nicht gehindert sein, die Durchbrechung des dem Rechtsfrieden dienenden Grundsatzes der Bestandskraft unanfechtbar gewordener Verwaltungsakte auf einem bestimmten Sektor nachträglich wieder zu begrenzen, auch wenn dadurch im Einzelfall in "laufende Verfahren” nach § 44 SGB X eingegriffen werde. Die Neuregelung berücksichtige nämlich, daß die betroffenen Arbeitslosenhilfeempfänger ihren Lebensunterhalt auf andere Weise als durch Arbeitslosenhilfe bestritten haben (Hinweis auf Bundesrats-Drucksache 43/89, Seite 12). Ein vorrangiges Individualinteresse an der Rücknahme bestandskräftiger Entscheidungen sei deshalb nicht zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 1. November 1989 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das sozialgerichtliche Urteil für zutreffend. Da das Überprüfungsverfahren zu einem Zeitpunkt bereits eingeleitet worden sei, zu dem eine Überprüfung noch möglich gewesen war, sei § 152 Abs. 1 a AFG insoweit nicht einschlägig. Insbesondere der Gesichtspunkt des Bestreitens des Lebensunterhalts auf andere Weise als durch Arbeitslosenhilfe könne vorliegend nicht zum Tragen kommen, da sie während der Zeit des Arbeitslosenhilfe-Bezugs darauf angewiesen gewesen sei, Schulden zu machen, um ihren Unterhalt zu bestreiten.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vertrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogene Leistungsakte der Beklagten (St. Nr. XXXXX) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte und kraft Zulassung statthafte Berufung (§ 151, § 150 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) ist im wesentlichen unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. August 1988 ist rechtswidrig und war daher aufzuheben. Für die Zeit vom 20. Juni 1988 bis zum 30. November 1988 steht der Klägerin Arbeitslosenhilfe ohne die Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche gegenüber ihrem Vater zu. Hinsichtlich der Zeit vom 1. Februar 1988 bis zum 18. Juni 1988 wird die Beklagte erneut darüber zu entscheiden haben, ob auch für diese Zeit eine Anrechnung solcher Unterhaltsansprüche unterbleiben kann.

Die ursprünglich durch Bescheid vom 7. April 1988 von der Beklagten vorgenommene Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche der Klägerin gegenüber ihrem Vater war rechtswidrig. Eine Rechtsgrundlage hierfür hat bezüglich des gesamten streitbefangenen Zeitraums vom 1. Februar 1988 bis zum 30. November 1988 nicht bestanden.

Die Klägerin bezog in der fraglichen Zeit von ihrem Vater keinen Unterhalt; auch ein Unterhaltsanspruch war in dieser Zeit nicht gegeben. Die Klägerin ist insoweit ihren zivilrechtlichen Erwerbsobliegenheiten (vgl. dazu BSG Urt. v. 7.9.1988 – 11 RAr 25/88 = SozR 4100 § 138 Nr. 23 m.w.N.; Urteile des Senats vom 13.6.1990 – L-6/Ar-698/89 und vom 20.6.1990 – L-6/Ar-1428/89) nicht in ausreichendem Umfang nachgekommen. Sie hat sich vielmehr von sich aus lediglich um eine Beschäftigung in ihrem Beruf als Lehrerin bemüht und weitergehende Anstrengungen, insbesondere bezogen auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, nicht unternommen. Dies schließt Unterhaltsansprüche der Klägerin gegenüber ihrem Vater aus. Dies steht zugleich einer – fiktiven – Unterhaltsanrechnung für den streitbefangenen Zeitraum auf die Arbeitslosenhilfe gemäß § 138 Abs. 1 Nr. 1 AFG a.F. entgegen (BSG a.a.O.).

Im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Unterhaltsanrechnung war die Beklagte nach § 152 Abs. 1 AFG i.V.m. § 44 Abs. 1 SGB X verpflichtet, diese Einkommensanrechnung für die Zukunft zurückzunehmen.

"Zukunft” im Sinne von § 152 Abs. 1 AFG bedeutet nach Auffassung des Senats die Zeit ab dem Eingang des auf die Änderung der rechtswidrigen Einkommensanrechnung zielenden Antrags bei der Beklagten. Dies ist hier der 20. Juni 1988.

Jedenfalls bei der Ablehnung einer beantragten Aufhebung eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes ist der Zeitpunkt des Erlasses der auf diesen Antrag hin ergangenen Verwaltungsentscheidung nicht der geeignete Anknüpfungspunkt dafür, wann Vergangenheit und Zukunft im Sinne von § 152 Abs. 1 AFG voneinander abzugrenzen sind. In einem solchen Falle, der durch die Antragstellung des durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt Benachteiligten ausgelöst wird, kann eine Abgrenzung sachgerecht vielmehr nur aufgrund des konkreten Begehrens des Antragstellers erfolgen. Eine Beurteilung, was Zukunft und was Vergangenheit ist, muß aus seiner Perspektive geschehen. Aus der Perspektive des Antragstellers ist die Zukunft durch die Vorlage seines Antrags bei der Verwaltungsbehörde bestimmt; Vergangenheit ist danach die Zeit davor.

Dem steht nicht entgegen, daß die Abgrenzung zwischen Vergangenheit und Zukunft z.B. bei der Aufhebung eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes (§ 45 Abs. 1 SGB X) oder bei der Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse (§ 48 SGB X) an den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes anknüpft. Denn bei diesen Fallgestaltungen sind stets Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes mit zu berücksichtigen. Einen solchen Vertrauensschutz kann die Verwaltungsbehörde nach den §§ 44 ff. SGB X bei rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakten indes nicht beanspruchen.

Ob – wie das vom 11 b-Senat des Bundessozialgerichts angenommen wurde (Urteil vom 24. Februar 1987 – 11 b RAr 53/86 = SozR 1300 § 48 Nr. 31) – im Falle des tatsächlichen Ergehens eines Rücknahmebescheides, sich die Abgrenzung von Vergangenheit und Zukunft am Zeitpunkt des Zugangs des entsprechenden Rücknahmebescheides orientieren muß, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Denn ein solcher Bescheid ist im Falle der Klägerin nicht ergangen, die Beklagte hat vielmehr dessen Erlaß gerade abgelehnt.

Auch § 152 Abs. 1 a AFG, der durch das KOV-Anpassungsgesetz 1989 (KOVAnpG 1989) vom 30. Juni 1989 eingefügt und mit Wirkung zum 8. Juli 1989 in Kraft getreten ist, steht der beantragten Neubescheidung nicht entgegen.

§ 152 Abs. 1 a AFG sieht vor, daß unanfechtbare Verwaltungsakte nicht aus unterhaltsrechtlichen Gründen für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit für die Zeit vor dem 8. Juli 1989 Unterhaltsansprüche nach § 138 Abs. 1 Nr. 1 AFG berücksichtigt worden sind. Weder der Wortlaut noch die Materialien weisen jedoch darauf hin, daß § 152 Abs. 1 a AFG auch für diejenigen Fälle Anwendung finden sollte, bei denen ein Verfahren nach § 152 Abs. 1 AFG i.V.m. § 44 SGB X bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttreten des § 152 Abs. 1 a AFG eingeleitet war, bzw. in dem – wie hier – ein Überprüfungsantrag sogar noch während des laufenden Leistungsbezugs gestellt worden ist. Beim laufenden Leistungsbezug treffen insbesondere die Erwägungen des Gesetzgebers zu § 152 Abs. 1 a AFG, wonach die vorgesehene Regelung berücksichtige, "daß die Betroffenen Arbeitslosenhilfe-Empfänger insoweit ihren Lebensunterhalt auf andere Weise als durch Arbeitslosenhilfe bestritten haben” (BT-Drucks. 11/4178, S. 7) gerade nicht zu. Die Notwendigkeit der Bestreitung des Lebensunterhalts steht vielmehr noch bevor. Auch eine verfassungskonforme Auslegung des § 152 Abs. 1 a AFG gebietet es, diese Bestimmung auf die vorliegende Fallgestaltung nicht anzuwenden. Denn, folgte man insoweit der Argumentation der Beklagten, dann würde es sich bei dieser Bestimmung um einen Fall der echten Rückwirkung, bzw. – wenn man die Terminologie des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts zugrunde legt (vgl. dazu z.B. Fiedler, Neuorientierung der Verfassungsrechtsprechung zum Rückwirkungsverbot und zum Vertrauensschutz, NJW 1988, S. 1624) um einen Fall der "Rückwirkung von Rechtsfolgen” handeln, bei dem der Schutz des Vertrauens in den Bestand einer bestimmten Rechtsfolgenlage im Zweifel Vorrang vor dem Änderungswillen des Gesetzgebers gebührt.

Dieser Vorrang ist nach Auffassung des Senats auch im vorliegenden Falle zu beachten. Der gegenteiligen Meinung des Landessozialgerichts Niedersachsen (Urteil vom 15.12.1989 – L 7/Ar – 292/87) vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Denn durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 7. September 1988 (11/RAr 25/88 = SozR 4100 § 138 Nr. 23) wurde seinerzeit gerade klargestellt, daß beim Vorhandensein unterhaltsfähiger Eltern eine fehlende Bedürftigkeit im Sinne des Unterhaltsrechts die Bedürftigkeit im Sinne der Arbeitslosenhilfe nicht ersetzen kann, und zwar auch nicht durch die Fiktion eines Unterhaltsanspruchs. Von dieser Rechtslage konnten Arbeitslosenhilfeempfänger jedenfalls zunächst einmal ausgehen. Hinsichtlich des vorliegend umstrittenen Zeitraums sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß dieses Vertrauen nicht schutzbedürftig gewesen wäre, von der Klägerin vielmehr damit gerechnet werden mußte, daß sich die Rechtslage noch innerhalb ihres Arbeitslosenhilfe-Bezugs ändern würde. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum KOV-Anpassungsgesetz 1989 wurde vielmehr erst am 13. März 1989 eingebracht. Dieser Zeitpunkt liegt nach dem vorliegend streitbefangenen Zeitraum.

Dies führt dazu, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin in der Zeit vom 20. Juni 1988 bis zum 30. November 1988 Arbeitslosenhilfe ohne Anrechnung von Unterhaltsansprüchen gegenüber ihrem Vater zu gewähren.

Die weitergehende Verurteilung, wie sie für diesen Zeitraum durch das Sozialgericht erfolgt war, konnte indes keinen Bestand haben. Wegen der unterschiedlichen Anrechnungsbeträge aus den von der Klägerin ausgeübten Nebenbeschäftigungen, ergibt sich für die Zeit ab dem 20. Juni 1988 kein einheitlicher Leistungsanspruch in Höhe von wöchentlich 217,20 DM, wie ihn das Sozialgericht zugesprochen hat. Der Urteilsausspruch war deshalb wie geschehen zu beschränken.

Abzuändern war das Urteil des Sozialgerichts auch insoweit, als die Zeit vom 1. Februar 1988 bis zum 18. Juni 1988 betroffen ist. Insoweit richtet sich das Begehren der Klägerin auf eine Rücknahme der Unterhaltsanrechnung für die Vergangenheit. Hinsichtlich dieses Zeitraums steht der Beklagten jedoch nach § 152 Abs. 1 AFG eine Ermessenentscheidung zu. Die Beklagte wird bezüglich dieses Zeitraums über das Begehren der Klägerin unter Ausübung ihres Ermessens neu zu entscheiden haben. Neben Billigkeitsgesichtpunkten wird die Beklagte dabei insbesondere auch berücksichtigen müssen, ob es zutrifft, daß die Klägerin – wie sie vorträgt – zur Finanzierung ihres Unterhalts neben den Leistungen der Arbeitslosenhilfe in dieser Zeit Darlehen aufnehmen mußte, oder ob sie allein mit der ihr bewilligten Arbeitslosenhilfe und dem erzielten Nebeneinkommen ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Hinblick darauf, daß die Klägerin im wesentlichen mit ihrem Begehren durchgedrungen ist, hielt der Senat eine Quotelung der Kosten nicht für angebracht.

Die Revision hat der Senat gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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