L 6 Ar 686/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 11 Ar 401/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Ar 686/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Regelung des § 152 Abs. 3 AFG, die die Bundesanstalt für Arbeit von der Ausübung von Ermessen in Fällen der Aufhebung des Verwaltungsaktes nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X bei atypischer Fallgestaltung freistellt (liegen die Voraussetzungen vor, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben), darf jedenfalls nicht auf Fälle angewandt werden, in denen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens am 1. Januar 1994 bereits ein Vorverfahren anhängig gemacht worden war.
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Mai 1995 und der Bescheid der Beklagten vom 21. April 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 1994 aufgehoben.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligung wegen des Bezuges von Altersrente in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 23. Oktober 1992 und der Rückforderung des in diesem Zeitraum gezahlten Arbeitslosengeldes in Höhe von 13.400,10 DM.

Die Klägerin, geb. 1931, bezog vom 1. April bis zum 20. Juni 1989 Arbeitslosengeld und im Anschluß Krankengeld. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 16. Juli 1990 die Weitergewährung von Arbeitslosengeld ab dem 9. Juli 1990 für weitere 763 Tage. In ihrem Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld vom 28. März 1989 verschwieg die Klägerin jedoch ihren Antrag auf Gewährung von Rente bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 13. September 1988. Die Klägerin beantragte am 9. Juli 1990 die Weitergewährung von Arbeitslosengeld nach einer Unterbrechung des Bezuges. Dabei gab die Klägerin ihren Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld für Frauen (frühere Bezeichnung: vorgezogenes Altersruhegeld) nicht an. Die BfA bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 12. Oktober 1990 Rente wegen Berufsunfähigkeit mit einem Rentenbeginn am 24. Juli 1989. Die Rente wurde zum ersten Mal am 1. Dezember 1990 monatlich in Höhe von 948,20 DM ausgezahlt. Des weiteren ergab sich eine Rentennachzahlung in Höhe von insgesamt 14.122,80 DM. Dieser Betrag wurde der Klägerin in vollem Umfang ausgezahlt, da die Beklagte der BfA schriftlich mitteilte, daß sie keinen Erstattungsanspruch geltend mache.

Die Beklagte dynamisierte das Arbeitslosengeld der Klägerin mit Bescheid vom 5. April 1991 und mit Bescheid vom 3. April 1992.

Am 2. Oktober 1991 beantragte die Klägerin bei der BfA die Gewährung von Altersrente für Frauen. Am 9. September 1992 teilte die Klägerin der Beklagten telefonisch mit, laut Postbescheid erhalte sie ab 1. Oktober 1992 Altersruhegeld. Ein Bescheid der BfA liege ihr jedoch nicht vor. Die Beklagte machte daraufhin bei der BfA einen Erstattungsanspruch im Hinblick auf die zu erwartende Rentennachzahlung geltend. Die BfA teilte der Beklagten mit Schreiben vom 12. Oktober 1992 mit, der angemeldete Erstattungsanspruch könne nicht mehr erfüllt werden, da die Rentennachzahlung in Höhe von 4.497,54 DM mit Anweisung vom 10. August 1992 an die Klägerin ausgezahlt worden sei. Der Klägerin sei mit Bescheid vom 10. August 1992 eine Rente in Höhe von 1.466,14 DM monatlich bewilligt worden. Der Rentenbeginn falle auf den 1. Januar 1992 und die Rente sei erstmals zum 1. Oktober 1992 ausgezahlt worden. Die Beklagte hob mit Bescheid vom 21. Oktober 1992 die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 24. Oktober 1992 wegen des Anspruchs der Klägerin auf Altersruhegeld auf und kündigte mit Schreiben vom 19. November 1992 die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 1. Januar 1992 an. Mit Bescheid vom 21. April 1993 forderte die Beklagte von der Klägerin die Rückzahlung von gezahltem Arbeitslosengeld in Höhe von 13.400,10 DM. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend, die rückwirkende Aufhebung des Leistungsbescheides nach § 48 SGB X sei rechtswidrig, da sie das Arbeitsamt umfassend und korrekt über ihre Verhältnisse, über ihre jeweiligen Antragstellungen bei der BfA und die Rentenbezüge informiert habe. Zudem habe die Mitarbeiterin der Beklagten, Frau J., anläßlich eines Telefongespräches versichert, daß sie keine Rückzahlungen leisten müsse. Die Beklagte wies die Klägerin mit Schreiben vom 11. Oktober 1993 darauf hin, daß sie in ihrem Weiterbewilligungsantrag vom 9. Juli 1990 die Frage, ob eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Altersruhegeld beantragt sei, mit "nein” beantwortet habe. Aus diesem Grunde habe sie gegenüber der BfA keinen vorsorglichen Erstattungsanspruch geltend machen können. Erst nach der telefonischen Unterrichtung der Klägerin vom 9. September 1992 habe sie einen Erstattungsanspruch unter dem Datum 30. September 1992 geltend machen können. Unter Hinweis auf die Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 4 SGB X wurde der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme nach § 24 SGB X eingeräumt. In der Stellungnahme räumte die Klägerin ein, daß sie zwar im Antrag die beantragte Rente nicht angegeben habe. Sie habe jedoch nachfolgend diesen Fehler korrigiert. Auch habe sie aus der Tatsache, daß die Rentennachzahlung anläßlich der Bewilligung der Berufsunfähigkeitsrente in voller Höhe an sie geleistet worden sei geschlossen, daß ihr für einen begrenzten Zeitraum neben der Rentenleistung auch das Arbeitslosengeld zustehe. Sie sei von ihrem Arbeitsvermittler dahingehend informiert worden, daß sie bis Dezember 1992 Arbeitslosengeld und Rente beziehen könne. Inwieweit es sich dabei um ein Mißverständnis handele, könne wohl nicht mehr aufgeklärt werden. Auch habe das ihr ausgehändigte Merkblatt nicht das sichere Wissen auslösen können, daß die erhaltene Rente nicht neben dem Arbeitslosengeld bezogen werden dürfe. Auch habe sie die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht erkannt. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit seien ihr nicht anzulasten. Aufgrund der Tatsache, daß sie das Arbeitsamt jeweils informiert habe, habe sie den Nachzahlungsbetrag im guten Gewissen verbraucht.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 1994 als unbegründet zurück. Dazu führte sie aus, unstreitig habe die Klägerin nach Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs führe. Auch könne angenommen werden, daß ihr bekannt gewesen sei, daß ihr gesetzlicher Anspruch auf Arbeitslosengeld zum Ruhen komme oder teilweise weggefallen sei. Dieses Wissen habe die Klägerin dem Merkblatt für Arbeitslose "Ihre Rechte und Ihre Pflichten” entnehmen können. Aufgrund des ab 1. Januar 1994 neu gefaßten § 152 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sei ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit ohne Ermessensausübung zurückzunehmen, soweit die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) vorlägen. Gleiches gelte für die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X. § 152 AFG sei mangels einer Übergangsregelung vorliegend anwendbar. Ob und inwieweit es zu einem Mißverständnis zwischen der Klägerin und dem Arbeitsamt hinsichtlich der Gewährung von Arbeitslosengeld neben dem Bezug von Rente gekommen sei, sei außer acht zu lassen. Es sei auszuschließen, daß seitens des Arbeitsamtes eine entsprechende Auskunft gegeben worden sei. Da die Leistungsbewilligung aufgehoben worden sei, habe die Klägerin die erbrachte Leistung in Höhe von 13.400,10 DM zurückzuzahlen.

Gegen den am 9. März 1994 zugestellten Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 6. April 1994 Klage erhoben. Dazu hat sie ergänzend vorgetragen, § 152 AFG in der ab 1. Januar 1994 gültigen Fassung sei vorliegend nicht einschlägig, da der streitbefangene Bescheid vom 21. April 1993 datiere. Auch erfordere die Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X über die Verweisung des § 48 Abs. 4 nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X das Vorliegen von Vorsatz bzw. grober Fahrlässigkeit. Beides könne ihr nicht vorgeworfen werden. Im übrigen habe sie den Nachzahlungsbetrag verbraucht.

Das Sozialgericht Kassel hat mit Urteil vom 18. Mai 1995 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien sachlich und rechtlich nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3 SGB X lägen vor. Auch habe die Beklagte rechtmäßig die Arbeitslosengeldbewilligung mit Bescheid vom 21. Oktober 1992 nicht nur für die Zukunft, sondern auch mit Wirkung der geänderten Verhältnisse und damit für die Vergangenheit aufgehoben. Die BfA habe der Klägerin ab 1. Januar 1992 eine Altersrente für Frauen zuerkannt. Aufgrund dieser Rentenbewilligung sei eine Änderung in den wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen eingetreten, die beim Erlaß des Leistungsbescheides der Beklagten nicht vorgelegen hätten. Dies gelte nicht nur für den ursprünglichen Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 9. Juli 1990 sondern auch für die nachfolgenden Dynamisierungsbescheide vom 5. April 1991 und vom 3. April 1992. § 48 Abs. 1 SGB X und nicht § 45 SGB X sei anwendbar. Die Rentenbewilligung datiere vom 10. August 1992 und liege damit zeitlich nach dem Dynamisierungsbescheid vom 3. April 1992. Da die BfA der Klägerin ab 1. Januar 1992 eine Altersrente für Frauen zuerkannt habe, habe sie im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X nach Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen erzielt. Dies habe zum Wegfall ihres Leistungsanspruches gemäß § 118 Abs. 1 Nr. 4 AFG geführt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich die Kammer anschließe, falle die nachträgliche Rentengewährung unter das Tatbestandsmerkmal des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X (Hinweis auf BSG Urteil vom 19. Februar 1986 Az.: 7 RAr 55/84, SozR 1300, § 48 SGB X Nr. 22; BSG Urteil vom 13. August 1986 Az.: 7 RAr 33/85, SozR 1300, § 48 SGB X Nr. 26). Entgegen der Auffassung der Klägerin komme es vorliegend auf die Annahme von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit im Hinblick auf unterlassene Mitteilungspflichten nicht an. Die Verweisungsvorschrift des § 48 Abs. 4 SGB X betreffe nur die Regelungen des § 45 Abs. 3 und Abs. 4 SGB X und beziehe sich allein auf die Fristen, innerhalb derer eine rückwirkende Aufhebung von Verwaltungsakten zulässig sei. Auch seien die angefochtenen Bescheide nicht wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig. Eine solche sei zwar nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Rahmen einer Entscheidung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X erforderlich, wenn ein sog. atypischer Fall vorliege (BSG Urteil vom 18. August 1996, a.a.O.). Ob ein solcher atypischer Fall vorliege, sei jedoch letztendlich aufgrund der hier anzuwendenden Neuregelung des § 152 Abs. 3 AFG nicht abzustellen. Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X sei ohne Ermessensausübung vorzunehmen. Es entfalle damit die Pflicht zur Ermessensausübung in sog. atypischen Fällen, so daß stets eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit vorzunehmen sei (Hinweis auf Hennig/Kühl/Heuer/Henke, Arbeitsförderungsgesetz, Loseblattkommentar, § 152 RdNr. 40). Entgegen der Auffassung der Klägerin sei § 152 AFG vorliegend anwendbar. Die Neuregelung des § 152 AFG sei zum 01.01.1994 ohne Übergangsregelung in Kraft getreten. Damit sei diese Norm auf alle noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Fälle anwendbar.

Gegen das ihr am 8. Juni 1995 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 5. Juli 1995 Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, daß § 152 AFG in der ab 1. Januar 1994 geltenden Fassung nicht anwendbar sei. Deshalb seien die angefochtenen Bescheide wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig. Auch sei die Annahme des Sozialgerichts nicht gerechtfertigt, die Verweisung des § 48 Abs. 4 SGB X auf die Regelung des § 45 Abs. 3 SGB X sei nur eine Rechtsfolgenverweisung und verweise nicht auf die Tatbestandsmerkmale. Auch habe sie auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut. Sie habe zusätzliche Ausgaben in Bezug auf ihre Wohnungseinrichtung und ihre Töchter gehabt. Am Ende des Jahres sei von der Nachzahlung nichts übrig geblieben. Auch in der heutigen Situation sei sie durch die Rückforderung unbillig hart getroffen, da sie nur ein geringes Altersruhegeld beziehe. Sie sei nicht in der Lage, den von der Beklagten geforderten Betrag zurückzuzahlen. Auch könne sie im Hinblick auf § 152 Abs. 3 AFG nicht schlechter gestellt werden, als sie stünde, wenn der Bescheid vom 21. April 1993 rechtskräftig geworden wäre.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Mai 1995 und den Bescheid vom 21. April 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 1994 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß das Sozialgericht Kassel in dem angefochtenen Urteil zutreffend entschieden habe. Unter Hinweis auf das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10.01.1995 – L-8 S (Ar) 189/94 ist sie der Auffassung, daß § 152 Abs. 2 bzw. 3 AFG i.d. ab 01.01.1994 geltenden Fassung anwendbar sei.

Das Gericht hat die Leistungsakte der Beklagten beigezogen. Wegen der Einzelheiten des Vertrags wird auf die Gerichtsakte und auf die beigezogene Akte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 28. Februar 1996 gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht erhoben und ist statthaft gemäß § 151 Abs. 1; §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der ab 1. März 1993 geltenden Fassung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (RPflentlG) vom 11. Januar 1993 (BGBl. I S. 50).

Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. Mai 1995 war aufzuheben; der Bescheid der Beklagten vom 21. April 1993 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 1994 waren wegen fehlender Ermessensausübung aufzuheben. Gem. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 21. Oktober 1992, mit dem die Beklagte die Weitergewährung von Arbeitslosengeld für die Zukunft aufhob, steht außer Streit.

Gem. § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X soll ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Nr. 3 nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Diese Voraussetzung liegt an sich vor, wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat. Die der Klägerin ab Januar 1992 rückwirkend bewilligte Altersrente für Frauen (§ 39 Sozialgesetzbuch, 6. Buch – SGB VI) führt gem. § 118 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AFG zum Ruhen des bewilligten Arbeitslosengeldes.

Gleichwohl waren das Urteil des Sozialgerichts Kassel und die angefochtenen Bescheide aufzuheben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG in SozR 1300 § 48 Nrn. 19 und 25) steht die Aufhebung für die Vergangenheit im Ermessen der Beklagten, wenn ein Sachverhalt vorliegt, der von der Regel abweichende Besonderheiten aufweist (atypischer Fall). Worauf das Sozialgericht im angefochtenen Urteil zutreffend hinweist, hat das Bundessozialgericht zwar in Fällen der Doppelzahlung von Leistungen das Vorliegen eines atypischen Falles im Grundsatz abgelehnt. Der erkennende Senat ist jedoch zu dem Ergebnis gekommen, daß der vorliegende Sachverhalt eine Reihe von Anhaltspunkten liefert, die die Annahme eines atypischen Falles rechtfertigen. Auf diese – und damit maßgeblich auf den Einzelfall – abzustellen, entspricht zudem ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 26. November 1986 – 7 RAr 65/85NZA 1987, S. 467; Urteil vom 29. April 1992 – 7 RAr 4/91 – DBlR 3928 a, § 48 SGB X; Urteil vom 26. August 1994 – 13 RJ 29/93 – HVBG-INFO 1994, S. 2711). Aufgrund des Alters der Klägerin und des Bezuges von Rente wegen Berufsunfähigkeit war anzunehmen, daß der Klägerin ein Anspruch auf Altersrente nach § 37 (für Schwerbehinderte, Berufsunfähige oder Erwerbsunfähige), § 38 (wegen Arbeitslosigkeit) oder § 39 SGB VI (für Frauen) zustehen könnte. Ebenso hatte die Klägerin, wie das Sozialgericht Kassel zutreffend festgestellt hat, unangefochten eine Rente wegen Berufsunfähigkeit neben dem Arbeitslosengeld bezogen und sie hatte die Beklagte auch über den Stand ihrer Rentenangelegenheiten unterrichtet.

Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Sozialgerichts Kassel war die Beklagte aufgrund der vorliegenden Fallgestaltung verpflichtet, Ermessen auszuüben. § 152 Abs. 3 AFG ist in der ab 01. Januar 1994 geltenden Fassung hier nicht anwendbar. Der Bescheid vom 21. Oktober 1992 war auch im Widerspruchsverfahren nach der Gesetzeslage vom Oktober 1992 zu überprüfen.

Die nachträgliche Gesetzesänderung kann im vorliegenden Fall nicht zu Lasten der Klägerin gehen.

Die Freistellung der Beklagten von der Ausübung ihres Ermessens durch die Einfügung des § 152 Abs. 3 AFG ist für den Betroffenen eine für ihn einschneidende und belastende Maßnahme, wie der vorliegende Fall deutlich belegt. Denn im Falle der Berücksichtigung der oben angeführten Besonderheiten des Einzelfalles könnte die Beklagte zu dem Ergebnis kommen, daß die Klägerin zumindest nicht den vollen Betrag der Überzahlung zu erstatten habe, da die Klägerin die Überzahlung keineswegs allein verursacht hat. Weshalb die BfA der Beklagten keinerlei weitere Informationen über den Fortgang des Rentenverfahrens der Klägerin gegeben hatte, bleibt unklar, brauchte aber nicht weiter aufgeklärt zu werden, da lediglich der Erstattungsanspruch der Beklagten gegen die Klägerin streitig ist. Ein eventueller Fehler der BfA kann sich hier nicht zu Lasten der Klägerin auswirken.

Hinzu kommt noch, daß die Beklagte im Bescheid vom 21. April 1993 ohne Ausübung ihres Ermessens den Bescheid vom 16. Juli 1990 auf gehoben hatte und noch bis zum Vermerk in der Leistungsakte vom 26.01.1994 (Bl. 145) davon ausgegangen war, daß dies im Widerspruchsbescheid nachzuholen sei. Der daraufhin ergangene Widerspruchsbescheid vom 28.02.1994 stützt sich – erstmals – wegen des nicht ausgeübten Ermessens auf § 152 Abs. 3 AFG i.d.F. vom 01. Januar 1994.

Die gegebene Fallgestaltung belegt deutlich, daß der Rechtsstand zum Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheides und nicht zum Zeitpunkt des später ergangenen Widerspruchsbescheides maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit sein kann. Andernfalls wäre der Zeitablauf des Widerspruchsverfahrens dafür entscheidend, ob das fehlende Ermessen des Erstbescheides im Widerspruchsbescheid noch hätte nachgeholt werden müssen (Abschluß vor oder nach dem 1. Januar 1994). Der Anspruch des Betroffenen auf pflichtgemäße Ermessensausübung könnte in diesem Falle nicht verwirklicht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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