L 6 Ar 346/94

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 5 Ar 1755/87
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Ar 346/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Bei der Berechnung des auf den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe anzurechnenden Nebeneinkommens sind die Beiträge zu einer von der Beitragspflicht befreienden Lebensversicherung einkommensmindernd zu berücksichtigen.
2. Die Aufhebung einer Leistungsbewilligung nach § 48 SGB X kann in eine Rücknahme nach § 45 SGB X nur dann umgedeutet werden, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist.
3. Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gem. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X entfällt, wenn das Gericht der ersten Instanz und der zweiten Instanz unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten.
I. Auf die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. November 1993 wird der Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1987 aufgehoben, soweit die Zeit ab 1. Januar 1983 betroffen ist.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch um die Rechtswidrigkeit der teilweisen Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe für die Zeit von Januar 1983 bis einschließlich April 1987 und die teilweise Rückforderung der in dieser Zeit gezahlten Arbeitslosenhilfe.

Der Kläger, geboren 1926, war als angestellter Diplom-Ingenieur tätig. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) befreite den Kläger mit Bescheid vom 8. Juli 1968 von der Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung wegen des Abschlusses befreiender Lebensversicherungen gemäß Art. 2 § 1 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG). Der Kläger hatte zuvor Lebensversicherungsverträge mit der Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft (monatlicher Beitrag 176,50 DM), bei dem -Konzern (monatlicher Beitrag 30,50 DM) und bei der Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit (monatlicher Beitrag 631,13 DM) abgeschlossen. Der Kläger stand ab 1. Juli 1976 im Leistungsbezug der Beklagten. Ab Juli 1977 bezog der Kläger Anschlußarbeitslosenhilfe. Er bezog Arbeitslosenhilfe ab

01.06.1982 318,– DM wöchentlich bzw. 73,– DM werktäglich, 01.07.1982 426,60 DM wöchentlich bzw. 71,10 DM werktäglich, 01.07.1983 444,60 DM wöchentlich bzw. 74,10 DM werktäglich, 01.01.1984 447,– DM wöchentlich bzw. 74,50 DM werktäglich, 01.07.1984 442,80 DM wöchentlich bzw. 73,80 DM werktäglich, 01.01.1985 455,40 DM wöchentlich bzw. 75,90 DM werktäglich, 01.01.1986 469,80 DM wöchentlich bzw. 78,30 DM werktäglich, 01.01.1987 476,40 DM wöchentlich bzw. 79,40 DM werktäglich.

In diesen Zeiträumen ergingen folgende Bewilligungsbescheide:
Am 22.07.1981 für die Zeit vom 01.07.1981 bis zum 30.06.1982,
am 19.07.1982 für die Zeit vom 01.07.1982 bis 30.06.1983,
am 13.08.1982 für die Zeit vom 01.07.1981 bis 30.06.1982

(Änderungsbescheid)
am 29.06.1983 für die Zeit vom 01.07.1983 bis zum 30.06.1984,
am 26.07.1984 für die Zeit vom 02.07.1984 bis zum 30.06.1985,
am 12.07.1985 für die Zeit vom 01.07.1985 bis zum 30.06.1986
und
am 16.07.1986 für die Zeit vom 01.07.1986 bis zum 30.06.1987.

Auf Antrag des Klägers zahlte die Beklagte gemäß § 166 b Arbeitsförderungsgesetz (AFG) Beiträge zu diesen Lebensversicherungen in Höhe der Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung und ab 1984 zusätzlich freiwillige Beiträge zur BfA. Die Beklagte reduzierte die Beiträge ab dem 1. Januar 1983 nach dem geänderten § 166 b AFG (Haushaltsbegleitgesetz 1983 vom 20. Dezember 1982). Die Beitragszahlungen wurden danach nicht mehr nach dem Bruttoarbeitsentgelt, sondern nach der Höhe der bezogenen Leistungen entrichtet.

Nach dem angefochtenen Urteil des Sozialgerichts Gießen war der Kläger ab Juni 1982 bei der Firma Markenservice als Warenplazierer in verschiedenen Lebensmittelmärkten unterhalb der Grenze zur beitragspflichtigen Beschäftigung stundenweise tätig.

Nach den Feststellungen des Sozialgerichts Gießen in dem angefochtenen Urteil gab der Kläger diese Tätigkeit in allen folgenden Anträgen auf Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe nicht an. Nach den Angaben des Klägers erzielte er ein Nebeneinkommen im Jahre

1982 von 954,17 DM,
1983 von 3.841,55 DM,
1984 von 4.637,34 DM,
1985 von 4.308,53 DM,
1986 von 4.607,35 DM

und von Januar bis einschließlich April 1987 1.459,43 DM (Angabe der Beklagten).

Das Verhältnis zwischen den Gesamtversicherungsbeiträgen zu den Lebensversicherungen des Klägers, dem Anteil der Beklagten und dem Anteil des Klägers stellt sich wie folgt dar:

gesamter
Jahr Vers.-beitrag Anteil der Bekl. Anteil des Klag.
1982 10.441,41 DM 10.210,92 DM 230,79 DM
1983 11.089,51 DM 4.213,68 DM 6.875,83 DM
1984 11.089,51 DM 4.398,90 DM 7.698,61 DM
1985 11.089,51 DM 4.511,94 DM 7.642,57 DM
1986 11.089,51 DM 4.705,50 DM 7.488,01 DM
1987 5.544,76 DM 1.529,32 DM 3.854,56 DM.
(bis 30.04.87)

Nach den Feststellungen des Sozialgerichts Gießen in dem angefochtenen Urteil stellt sich der Sachverhalt wie folgt weiter dar:

Anlässlich einer Außenprüfung bei der Firma P. am 19. Dezember 1985 erhielt die Beklagte Kenntnis von der Beschäftigung des Klägers und am 16.01.1986 die Lohnunterlagen. Die Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 23. Mai 1986 zur Überzahlung der Arbeitslosenhilfe in Höhe von 3.609,40 DM wegen des erzielten Nebeneinkommens an. Der Kläger trug dazu in seiner Stellungnahme von 9. Juni 1986 vor, da die Anrechnung seines Nebeneinkommens wegen seiner hohen Versicherungsbeiträge entfalle, habe er diese nicht angemeldet. Auf Anforderung der Beklagten übersandte der Kläger am 10. Oktober 1986 eine Aufstellung seiner Fahrtkosten für die Jahre 1982 und 1983.

Im November 1986 erfuhr die Beklagte, dass der Kläger weiterhin durchgehend Nebeneinkünfte aufgrund seiner Tätigkeit als Warenplazierer erzielt habe. Die Beklagte hob daraufhin mit Bescheid vom 30. Juni 1987 die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe teilweise für die Zeit von Juni 1982 bis April 1987 auf und forderte insgesamt 9.238,90 DM zurück. Dabei berechnete die Beklagte den gesamten Rückforderungsbetrag nach der ab 1.1.1986 gültigen Fassung des § 115 AFG unter gleichmäßiger Verteilung der Auszahlungen und Berücksichtigung eines Freibetrages in Höhe von 30,– DM wöchentlich.

Der weitere Sachverhalt stellt sich nach den dem Senat vorliegenden Unterlagen wie folgt dar:

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 24. November 1987 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Aufhebung der Leistung sei gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch – 10. Buch – (SGB X) rechtmäßig erfolgt. Ein atypischer Fall läge nicht vor.

Dagegen hat der Kläger am 4. Dezember 1987 Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben.

Die Beklagte hat im Wege eines Teilanerkenntnisses die vom Kläger für das Jahr 1982 geltend gemachten Fahrtkosten in Höhe von 457,45 DM, für das Jahr 1983 in Höhe von 1.511,– DM und für das Jahr 1984 in Höhe von 2.004,80 DM anerkannt und die Rückforderung auf 8.347,40 DM herabgesetzt.

Der Kläger hat zur weiteren Klagebegründung vorgetragen, es sei fehlerhaft, dass die Beklagte über den gesamten Zeitraum das ab 1.1.1986 geltende Recht angewandt habe. Auch sei er auf das Nebeneinkommen angewiesen, da er seit dem 1.1.1983 60 % der Beiträge selbst habe tragen müssen. Die Rückforderung der Arbeitslosenhilfe sei deshalb rechtswidrig. Zudem sei die ab 1.1.1983 geltende Neuregelung des § 166 b AFG verfassungswidrig.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Kläger sei durch die Berechnung des Anrechnungsbetrages nach der ab 1.1.1986 geltenden Rechtslage nicht beschwert, da ihm auf diese Weise ein größerer Freibetrag verbleibe. Bei der Berechnung des anrechenbaren Einkommens könne jedoch der vom Kläger getragene Anteil der Beiträge für seine Lebensversicherung nicht einkommensmindernd berücksichtigt werden.

Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 30. November 1993 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte habe mit den angefochtenen Bescheiden rechtmäßig den Betrag von 8.347,40 DM zurückgefordert. Das Recht der Beklagten zur Anrechnung des in der Zeit vom Juni 1982 bis Dezember 1985 erzielten Einkommens aus Erwerbstätigkeit folge aus § 138 Abs. 1 Nr. 1, 134 Abs. 4 Satz 4, 115 Abs. 1 Satz 1 AFG i.d. bis zum 31. Dezember 1985 geltenden Fassung und hinsichtlich des in der Zeit von Januar 1986 bis April 1987 erzielten Einkommens aus § 138 Abs. 1 Nr. 1, 134 Abs. 4 Satz 4, 115 Abs. 1 AFG i.d. ab 1. Januar 1986 geltenden Fassung. Das Einkommen, das vor dem 1. Januar 1986 erzielt worden sei, sei auf den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe zur Hälfte anzurechnen gewesen, soweit das Einkommen nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und der Werbungskosten 15,– DM wöchentlich übersteige. Dagegen sei ab dem 1.1.1986 das im Bezugszeitraum erzielte Einkommen dann zur Hälfte anzurechnen, wenn es wöchentlich 30,– DM nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und Werbungskosten übersteige. Da der Kläger von seinen Einkünften keine Steuer und keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt habe und auch keine weiteren Werbungskosten angefallen seien, sei die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung des Einkommens hinsichtlich des Zeitraums von 1986 bis April 1987 nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Zeit von Juni 1982 bis Dezember 1985 habe die Beklagte zwar ihrer Berechnung fälschlicherweise das ab 1.1.1986 geltende Recht zugrunde gelegt. Da diese falsche Berechnungsweise jedoch für den Kläger vorteilhaft sei, sei der Kläger nicht beschwert. Durch die Umlegung des Monatseinkommens des Klägers auf alle Leistungswochen entspreche dies der ab 1.1.1986 geltenden Regelung. Die Anrechnung des Einkommens des Klägers auf seinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe sei auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte den vom Kläger zu tragenden Beitragsanteil zu seinen Lebensversicherungen nicht berücksichtigt habe. Sozialabgaben im Sinne von § 115 Abs. 1 AFG seien nicht zu berücksichtigen, da das vom Kläger seit Juni 1982 erzielte Einkommen unterhalb der Sozialversicherungspflichtgrenze gelegen habe. Soweit der Kläger vortrage, eine Anrechnung seines Einkommens komme nicht in Betracht, da er seit 1. Januar 1983 60 % der Beiträge zur Lebensversicherung selbst zu tragen habe und deshalb auf das Nebeneinkommen angewiesen sei, so bestehe für diese Auffassung keine Rechtsgrundlage. Die Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Leistungsbewilligung sei dagegen in § 45 SGB X zu sehen. Der Kläger habe die Überzahlung dadurch verursacht, dass er wahrheitswidrig in den Fragebögen zur Gewährung von Arbeitslosenhilfe angegeben habe, dass er keiner Erwerbstätigkeit nachgehe. Der Kläger habe dies zumindest grob fahrlässig falsch angegeben. Aus dem ihm ausgehändigten Merkblatt für Arbeitslose habe er erkennen können, dass erzieltes Einkommen auf die Arbeitslosenhilfe anzurechnen sei. Der Kläger habe somit die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung erkennen können. Der Vorwurf der vorsätzlichen Falschangabe treffe den Kläger auch im Hinblick auf den Fragebogen vom 25. Juni 1986. Zwar habe er am 9. Juni 1986 zum Anhörungsschreiben der Beklagten vom 23. Mai 1986 erklärt, aus welchen Gründen er die Tätigkeit in den Jahren 1983 und 1984 nicht angegeben habe. Da er im Anhörungsschreiben auf die Notwendigkeit zutreffender Angaben hingewiesen worden sei, habe er nicht davon ausgehen können, dass die weitere Nichtangabe von Einkommen akzeptiert werden würde. Ein Vertrauensschutz auf § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X stehe dem Kläger nicht zur Seite, da er vorsätzlich falsche Angaben gemacht habe. Der Vorwurf der vorsätzlichen Falschangabe gegenüber der Beklagten könne auch nicht im Hinblick auf die Rechtsauffassung des Klägers entfallen. Auch wenn den Kläger keine Schuld oder der Vorwurf einer Fahrlässigkeit hinsichtlich dieser rechtlich unzutreffenden Schlußfolgerung träfen, bleibe die Ursächlichkeit seines Verhaltens für die teilweise fehlerhafte Leistungsbewilligung bestehen. § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X knüpfe den Wegfall des Vertrauensschutzes nicht an eine zutreffende oder fehlerhafte rechtliche Wertung, sondern an die Erklärung tatsächlicher Umstände. Die angefochtenen Bescheide seien nicht rechtswidrig, auch wenn die Beklagte ihre Entscheidung fehlerhaft auf § 48 SGB X gestützt habe. Die Beklagte habe zwar in den angefochtenen Bescheiden auf die Ausübung ihres Ermessens verzichtet. Nach § 45 SGB X habe die Beklagte grundsätzlich eine Ermessensentscheidung zu treffen. Nach den Umständen des Einzelfalles sei jedoch nur eine Entscheidung, nämlich die teilweise Aufhebung der Arbeitslosenhilfebewilligung, möglich gewesen. Die Ermessensprüfung erfolge im Rahmen einer Gegenüberstellung des Interesses des Begünstigten am Behaltendürfen der zu Unrecht bezogenen Leistungen gegenüber dem Interesse der Versichertengemeinschaft an der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes. Dieses Interesse sei im Hinblick auf die hohen Arbeitslosenzahlen mit einem großen Anteil von Langzeitarbeitslosen und die damit verbundenen finanziellen Belastungen der Versichertengemeinschaft so zu werten, dass Zahlungen ohne Rechtsgrund, wie im vorliegenden Fall, nicht mehr verkraftet werden könnten. Hinzu komme, dass der Kläger ganz bewußt und damit vorsätzlich über Jahre hinweg gegen seine Mitteilungspflicht verstoßen habe, um so die durch die Gesetzesänderung des § 166 b AFG für ihn aufgetretenen finanziellen Belastungen zu Lasten der Allgemeinheit auszugleichen. Demgegenüber habe das finanzielle Interesse des Klägers am Behaltendürfen der über Jahre hin zu Unrecht bezogenen Leistungen zurückzutreten. Auch sei nicht erkennbar, dass der Kläger aus finanziellen Gründen zur Rückzahlung der Beiträge nicht in der Lage sei. Auch lägen die weiteren formellen Voraussetzungen des § 45 SGB X vor. Da die Beklagte die Leistungsbewilligung im noch streitigen Umfang rechtmäßig aufgehoben habe, habe der Kläger die zu Unrecht bezogenen Leistungen gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zurückzuzahlen.

Gegen das am 25. Februar 1994 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17. März 1994 Berufung bei dem Sozialgericht Gießen eingelegt.

Zur Begründung trägt er vor, der angefochtene Rücknahmebescheid verletze ihn in seinen Rechten auf Eigentum nach Art. 14 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz (GG). Die Änderung des § 166 b AFG zum 1.1.1983 sei verfassungswidrig. Die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie umfasse auch Rechtsansprüche als erdiente Berechtigungen (BSGE 9, 127, 128). Im Falle der Befreiung von der Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung müssten auch die durch eine private Lebensversicherung begründeten Anwartschaften dem Schutz der Eigentumsgarantie unterstellt werden. Aus diesen Gründen sei § 166 b AFG zwischenzeitlich erneut geändert worden. Dies sei von der Beklagten bei der Ermessensausübung nicht berücksichtigt worden. Im übrigen habe die Beklagte bereits am 19. Dezember 1985 Kenntnis von der Nebentätigkeit gehabt. Die Aufhebung der Bewilligung der Arbeitslosenhilfe habe bereits zu diesem Zeitpunkt allein aufgrund dieser Kenntnis erfolgen können. Die Mitteilung des Klägers zur Höhe der Fahrtkosten (10. Oktober 1986) habe nur die Höhe des Rückforderungsanspruches betroffen. Da jedoch die Aufhebung der Bewilligung erst mit Bescheid vom 30. Juni 1987 erfolgt sei, sei die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht gewahrt. Zudem habe die Beklagte spätestens seit seiner Anhörung zur Oberzahlung im Mai 1986 Kenntnis davon gehabt, dass er beabsichtige, die Beiträge zur Lebensversicherung durch Nebeneinkommen zu finanzieren. Zumindest habe er davon ausgehen können, dass die Beklagte Kenntnis von seinem Nebenerwerb habe. Weiter erklärte der Kläger, er beschränke seine Klage auf die Rückforderung von Leistungen ab 1. Januar 1983.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. November 1993 und den Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1987 aufzuheben, soweit die Zeit ab 1. Januar 1983 betroffen ist.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht Gießen habe mit dem angefochtenen Urteil zutreffend entschieden.

Das Sozialgericht Gießen hat der Beklagten die Leistungsakten (4 Bände) mit Verfügung vom 28. Februar 1994 übersandt. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 28. Juli 1994 lediglich noch Band 4 der Leistungsakten (ab Bl. 589) vorgelegt. Zwischenzeitlich hatte die Beklagte Band 1 bis 3 (Bl. 1-588) am 30.03.1994 zur Vernichtung entnommen. Der Senat hat in Zusammenarbeit mit dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers einen Teil der vernichteten Bände und zwar Band 1 und 2 bis Bl. 401 rekonstruiert. Band 3 konnte nicht rekonstruiert werden. Der Senat hat des weiteren den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung am 6. August 1997 angehört. Wegen der Einzelheiten des Vertrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, auf Band 4 der Leistungsakte und die rekonstruierten Aktenteile ergänzend verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht eingelegt und ist statthaft gemäß § 151 Abs. 1 und 2; §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Sie ist auch in dem noch im Berufungsverfahren verfolgten Umfange begründet.

Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. November 1993 und der Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1987 war entsprechend dem Antrag des Klägers im Berufungsverfahren aufzuheben, soweit die Zeit ab 1. Januar 1983 betroffen ist.

Die Beklagte hat zu Unrecht das Einkommen des Klägers in der Zeit ab 1. Januar 1983 aus seiner Nebentätigkeit bei der Firma -Markenservice auf seinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe angerechnet.

Anspruch auf Arbeitslosenhilfe hat gemäß § 134 Abs. 1 Nr. 3 AFG u.a., wer bedürftig ist. Der Arbeitslose ist gemäß § 137 Abs. 1 AFG bedürftig, soweit er seinen Lebensunterhalt und den seines Ehegatten nicht auf andere Weise als durch Arbeitslosenhilfe bestreitet oder bestreiten kann und das Einkommen, das nach § 138 AFG zu berücksichtigen ist, die Arbeitslosenhilfe nach § 136 AFG (i.d.F. des Haushaltbegleitgesetzes 1983 vom 20.12.1982 – BGBl. I S. 1857) nicht erreicht.

Die Beklagte hätte das Nebeneinkommen des Klägers bei der Bedürftigkeitsprüfung nach § 138 Abs. 1 Nr. 3 AFG in der noch streitigen Zeit außer Betracht lassen müssen.

Die Einnahmen des Klägers aus seiner Nebentätigkeit sind unstreitig Einkommen im Sinne von § 138 Abs. 2 Satz 1 AFG. Danach sind Einkommen alle Einnahmen in Geld oder Geldwert. Davon sind jedoch gemäß § 138 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung sowie Beiträge zur öffentlichen und privaten Versicherung oder ähnlichen Einrichtungen abzusetzen, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind.

Der Senat ist zur der Überzeugung gekommen, dass die Beiträge zu den privaten Lebensversicherungen des Klägers gesetzlich vorgeschrieben waren, da er mit Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 8. Juli 1968 wegen deren Abschluß von der Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung gemäß Artikel 2 § 1 AnVNG befreit worden war.

Des weiteren ist der Senat der Überzeugung, dass diese Beiträge nach Grund und Höhe angemessen sind. Die Beklagte hat die Beiträge zu diesen Lebensversicherungen gemäß § 166 b AFG a.F. bis einschließlich 1982 bis auf einen geringen Rest (Anteil der Beklagten im Jahre 1982 10.210,92 DM gegenüber dem Anteil des Klägers in Höhe von 230,79) getragen. Nach der alten gesetzlichen Regelung hatte die Beklagte die Beiträge zur befreienden Lebensversicherung bis zu der Höhe getragen, in der sie andernfalls Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten gehabt hätte.

Bei dieser Entscheidung hat der Senat auch berücksichtigt, dass der Kläger in der noch streitigen Zeit nicht mehr, sondern weniger verdiente, als er für die Aufrechterhaltung der Beitragszahlungen benötigte. Damit hielt der Kläger mit seinem Nebeneinkommen ab 1. Januar 1983 nur das an Rentenanwartschaften aufrecht, was viele Jahre zuvor zu seiner Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung geführt hatte.

Durch die Neuregelung des § 166 b AFG durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 trug die Beklagte ab 1.1.1983 nur noch ca. 1/3 der Beiträge zur privaten Rentenversicherung des Klägers. Damit muß nach Überzeugung des Senats dem Kläger die Möglichkeit bleiben, soviel als Nebeneinkommen zu erwirtschaften, um seine bisherige angemessene Alterssicherung zu erhalten, ohne dass er den vollen Arbeitslosenhilfeanspruch verliert. Dabei stützt der Senat seine Überzeugung auch auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts mit Urteil vom 8. August 1990 – Az.: 11 RAr 55/89 in SozR 3-4100 § 138 Nr. 4. Mit diesem Urteil hat das Bundessozialgericht entschieden, dass im Rahmen der Prüfung der Bedürftigkeit des Arbeitslosen vom festgestellten Netto-Einkommen seiner Ehefrau gemäß § 138 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG neben den Pflichtbeiträgen der Ehefrau zur Sozialversicherung auch ihre Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen absetzbar sind, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind. Wenn nach dieser Rechtsprechung das anrechenbare Einkommen der Ehefrau eines Arbeitslosen neben den Pflichtbeiträgen zur Sozialversicherung zusätzlich auch um weitere Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen gemindert werden kann, so hat dies nach Überzeugung des Senats erst Recht für die Beiträge zu einer Lebensversicherung zu gelten, wenn damit eine Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung ersetzt wurde.

Lediglich ergänzend weist der Senat noch auf folgendes hin:

1. Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Beklagte habe zutreffend den Anspruch des Klägers auf Arbeitslosenhilfe wegen seines Nebeneinkommens vermindern können, so stützt die Beklagte die teilweise Aufhebung der Bewilligung der Arbeitslosenhilfe für die Zeit ab 1. Januar 1983 fehlerhaft auf § 48 SGB X. Da der Kläger seine Nebentätigkeit ab Juni 1982 aufgenommen hatte, hätte sie die Bewilligungsbescheide vom 19. Juli 1982, vom 13. August 1982, vom 29. Juni 1983, vom 26. Juli 1984, vom 12. Juli 1985 und vom 16. Juli 1986 nach § 45 SGB X aufheben müssen. Nach der Auffassung des Senats wäre dann eine Umdeutung gemäß § 43 SGB X nicht möglich gewesen, da er keine Gründe für eine Ermessensreduzierung auf Null erkennen kann.

2. Selbst wenn man auch hier anderer Auffassung sein sollte, so könnte dem Kläger nicht gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gemacht werden. Nach Auffassung des Senats ist dieser Vorwurf angesichts der unterschiedlichen Auffassung beider Instanzen des Rechtsstreits zur Anrechenbarkeit von Nebeneinkünften nicht gerechtfertigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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