L 3 U 39/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 36 U 529/97
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 U 39/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. April 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Weitergewährung von Verletztengeld über den 6. September 1996 hinaus und die Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Juli 1996 streitig.

Die Klägerin wurde am X.XXXXX 1938 als jüngstes von insgesamt fünf Kindern in der Türkei geboren. Nach Ende der zehnjährigen Schulzeit erlernte sie den Beruf einer Krankenpflegehelferin. Im Alter von 22 Jahren heiratete sie einen türkischen Lehrer. Aus der Ehe gingen zwei 1962 und 1965 geborene Töchter hervor. Bis auf die Unterbrechungen durch den Mutterschutz arbeitete die Klägerin durchgehend im Krankenhaus.

Im Jahre 1973 kam die Klägerin ohne ihre Familie in die Bundesrepublik Deutschland, wo sie zunächst als Arbeiterin in einer Schokoladenfabrik tätig war. Ihre Versuche, den Ehemann zu überzeugen, ebenfalls in die Bundesrepublik zu kommen, scheiterten; er verblieb mit der älteren Tochter in der Türkei, während allein die jüngere Tochter ihrer Mutter nach Deutschland folgte. 1976 ließ sich die Klägerin von ihrem Ehemann scheiden. Seit 1981 lebt sie mit einem Lebensgefährten zusammen, der wegen eines Herzleidens Rente wegen Erwerbsminderung bezieht. Ab 1987 arbeitete die Klägerin in ihrem erlernten Beruf im Krankenhaus G., von wo sie 1990 in das H-D-Altenpflegeheim wechselte. Dort erlitt sie am 23. Juli 1996 einen Arbeitsunfall, als beim Waschen des Intimbereichs eines männlichen Heimbewohners dieser das Gleichgewicht verlor und zusammen mit der Klägerin zu Boden stürzte, wobei der Heimbewohner auf sie fiel. Die Klägerin wurde von Arbeitskolleginnen aus dieser Lage befreit und suchte unmittelbar nach dem Ereignis den Chirurgen Dr. K. auf, welcher multiple Prellungen diagnostizierte. Bewusstlosigkeit, Übelkeit und/oder Erbrechen gab die Klägerin ihm gegenüber nicht an. Die röntgenologische Untersuchung ergab keinen Hinweis auf eine Fraktur. Nachdem der behandelnde Ohrenarzt Dr. B. am 8. August 1996 eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts und der behandelnde Augenarzt am 5. August 1996 einen unauffälligen Befund, am 21. August 1996 jedoch eine plötzlich aufgetretene Gesichtsfeldeinschränkung rechts diagnostiziert hatten, stellte sich die Klägerin am 22. August 1996 erneut bei Dr. K. vor, der eine neurologische Konsiliaruntersuchung im Allgemeinen Krankenhaus (AK) E. am gleichen Tag veranlasste. Die dortige ambulante Untersuchung erbrachte keinen pathologischen Befund. Die Klägerin lehnte zunächst eine neurologische Zusatzdiagnostik ab und verließ die Klinik gegen ärztlichen Rat. In der Zeit vom 26. August bis 6. September 1996 erfolgte dann doch eine stationäre Untersuchung in der neurologischen Abteilung des AK E., wo die Klägerin angab, sie sei nach dem Unfall 20 bis 30 Minuten bewusstlos gewesen, und neben der Seh- und Hörminderung eine Halbseitenlähmung rechts beklagte, die sich während des stationären Aufenthaltes immer mehr verschlechtert habe. Die geklagten Beschwerden konnten nicht objektiviert werden. Die neurologischen Untersuchungsbefunde waren in allen Einzelheiten regelgerecht. Es wurde daher der Verdacht auf eine funktionelle Halbseitenstörung rechts diagnostiziert.

Die auf Veranlassung von Dr. B. am 19. September 1996 in der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten des M.-Krankenhauses durchgeführte Untersuchung erbrachte ebenfalls kein pathologisches Ergebnis. In der Beurteilung wurde ausgeführt, dass in der Zusammenschau von Anamnese, klinischem Untersuchungsbefund, Beobachtung der Patientin und den erhobenen Befunden der Eindruck entstehe, dass eine Taubheit rechts simuliert werde. Auch hinsichtlich der deutlich dargestellten Lähmungssymptomatik hätten sich zumindest beim Hinlegen in das für die objektive Hörprüfung notwendige Bett Zweifel an einer echten neurologischen Störung ergeben. Insgesamt entstehe der Eindruck einer hysterischen, möglicherweise nicht bewussten Aggravation oder Simulation. In ihrem auf Veranlassung der Beklagten erstellten Gutachten vom 13. Februar 1997 kam die Neurologin Dr. I. nach Untersuchung der Klägerin, bei der diese jetzt auch Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Niedergeschlagenheit und Antriebsarmut angegeben hatte, zu dem Ergebnis, auf neurologischem Fachgebiet liege keine Gesundheitsstörung und damit keine Unfallfolge vor. Es lägen affektiv bedingte Beschwerden in Form einer endogenen oder reaktiven depressiven Verstimmung vor, auf deren Boden sich eine neurotische Fehlentwicklung ergeben habe. Ein ursächlicher Zusammenhang dieser Beschwerden mit dem Arbeitsunfall bestehe nicht. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit habe bis 6. September 1996 bestanden. Danach liege auf neurologischem Fachgebiet keine Minderung der Erwerbsfähigkeit vor. Auf der Grundlage dieser Begutachtung erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 4. Juni 1997 unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis zum 6. September 1996 an, lehnte aber die Gewährung von Leistungen über diesen Zeitpunkt hinaus ab. Mit ihrem dagegen eingelegten Widerspruch reichte die Klägerin das Attest des sie behandelnden Nervenarztes Dr. E1. vom 13. Juni 2007 ein, nach welchem zwischen der vorliegenden psychosomatischen Erkrankung und dem Unfall vom 23. Juli 1996 ein unmittelbarer Zusammenhang bestehe. Die Beklagte ließ die Klägerin – nachdem diese bereits am 20. Oktober 1997 Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Hamburg erhoben hatte – durch den Nervenarzt Dr. F. untersuchen und begutachten. Dieser gelangte in dem Gutachten vom 15. Mai 1998 zu dem Ergebnis, auf neurologischem Fachgebiet liege keine Unfallfolge vor. Aus psychiatrischer Sicht entspreche das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild nicht einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Anpassungsstörung. Mit Recht habe Dr. E1. die Diagnose einer Konversionsstörung gestellt. Derartige Störungen seien aber nicht Folge akuter Ängste oder Belastungen, sondern würden tief greifenden seelischen Konflikten entspringen. Sie seien daher nicht Unfallfolge. Allerdings gebe es maßgebende Hinweise dafür, dass die Klägerin ihre Krankheitszeichen bewusstseins- und willensnah verstärkt darbiete. Aufgrund des Ergebnisses der Begutachtung wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1998 zurück.

Während des nachfolgenden Klageverfahrens hat das Sozialgericht die Klägerin durch den Nervenarzt Dr. L. begutachten lassen, der das Gutachten vom 4. November 2002 nach dreimaliger Untersuchung der Klägerin erstellt hat. Er führt in seinem Gutachten in der Annahme, die Lähmungserscheinungen hätten bereits am Folgetag des Unfalls eingesetzt, unter anderem aus, der Arbeitsunfall sei aus psychosomatischer Sicht als ein traumatisches symptomauslösendes Ereignis auf eine bestehende neurotische Fehlentwicklung der Klägerin anzusehen. Es sei anzunehmen, dass sich in dem Ereignis eine der Klägerin zumindest im unbewussten Erleben vertraute frühkindliche sexuelle Traumatisierung reinszeniert habe. Als Ergebnis fasst dieser Sachverständige zusammen, dass bei der Klägerin eine dissoziative Störung der Bewegung und der Sinnesempfindung (Konversionsstörung im eigentlichen Sinne), eine dissoziative Störung des Bewusstseins mit Amnesie, eine Angststörung mit zeitweilig agoraphobischer Symptomatik und Panikattacken, eine Zwangsstörung, eine somatoforme autonome Funktionsstörung sowie eine neurotische Depression vorlägen. Der Unfall vom 23. Juli 1996 sei nicht als alleinige, aber als auslösende Ursache der festgestellten Gesundheitsstörungen anzusehen. Ihm sei die Bedeutung einer wesentlichen Bedingung für die Krankheitsentstehung zuzurechnen. Dabei sei nicht der objektive Schweregrad des Ereignisses, sondern der überindividuelle Schweregrad des subjektiven Erlebens von einschneidendem starkem Gewicht. Die Klägerin habe — wenn auch nur in ihrer Phantasie — eine genitale Verletzung erlebt. Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Unfallfolgen bestehe seit dem 23. Juli 1996. Die Klägerin sei zu keiner Erwerbsfähigkeit auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens mehr in der Lage. Nachdem die Beklagte der Einschätzung des Sachverständigen unter Hinweis auf die entgegenstehende Beurteilung des Nervenarztes Dr. F. widersprochen hatte, hat Dr. L. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 26. August 2003 zusätzlich darauf hingewiesen, dass die Klägerin nach Angaben des behandelnden Arztes und entgegen der Annahme der Beklagten vor dem Unfallereignis nicht wegen Störungen auf nervenärztlichem Fachgebiet arbeitsunfähig gewesen sei.

Der Nervenarzt H. ist in seinem auf Veranlassung des Sozialgerichts erstatteten Gutachten vom 24. Februar 2004 nach einmaliger Untersuchung der Klägerin (eine vorgesehene zweite Untersuchung hatte die Klägerin abgelehnt) zu dem Ergebnis gelangt, bei dieser lägen schwere gemischte dissoziative Störungen (Konversionsstörungen), vor allem dissoziative Bewegungsstörungen und dissoziative Empfindungsstörungen und zusätzlich mildere dissoziative Kognitionsstörungen vor. Es handele sich um psychogene Störungen, bei denen häufig eine nahe zeitliche Verbindung zu traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen bestehe. Daneben sei der Verdacht auf Neurasthenie und auf eine histrionische Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Demgegenüber seien bei der Klägerin für eine posttraumatische Belastungsstörung typische und wegweisende Symptome nicht festzustellen. Insgesamt bestehe bei ihr in Anbetracht des Umstandes, dass vor dem Unfall die hinterher festgestellten psychischen Symptome nicht vorlagen, die grundsätzliche Möglichkeit, dass die psychischen Beschwerden als unfallbedingt anzusehen seien. Die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Zusammenhanges sei aber wegen der geringen Spezifität der Symptome nicht festzustellen.

In seiner weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 23. Dezember 2004 hat Dr. L. dargelegt, dass auch nach seiner Auffassung bei der Klägerin die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht erfüllt seien. Daraus sei aber nicht abzuleiten, dass kein Zusammenhang zwischen dem Unfall und den bestehenden psychischen Störungen bestehe. Bei der Klägerin habe eine wesentlich in der Kindheit verankerte psychostrukturelle Disposition vorgelegen, aufgrund derer sie nicht in der Lage gewesen sei, das fragliche Unfallereignis folgenlos zu verarbeiten. Bei dieser Disposition handele es sich allenfalls um eine spezifische Charakterausformung ohne Krankheitswert. Insofern bleibe es bei einer Bewertung des Überwiegens der unfallgebundenen Umstände und Faktoren für die entscheidende Richtungsgebung bei der Ausbildung der psychischen Störung.

Das Sozialgericht hat die Klage durch sein Urteil vom 28. April 2005 abgewiesen. Es lasse sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass bei der Klägerin über den 6. September 1996 hinaus Unfallfolgen vorlägen. Die ursprünglich vorliegenden Prellungen seien folgenlos ausgeheilt, und die bestehende psychische Störung könne nicht mit Wahrscheinlichkeit wesentlich ursächlich oder teilursächlich auf das Unfallereignis zurückgeführt werden. Zeitnah zum Unfall sei keine psychische Symptomatik festgestellt worden. Entsprechende Symptome seien mit der angegebenen Taubheit rechts erst zwei Wochen nach dem Ereignis und mit der funktionellen Halbseitenstörung erst während der stationären Behandlung im AK E. (mehr als 4 Wochen nach dem Unfall) aufgetreten und hätten dann weiter zugenommen. Der Unfall habe objektiv keinen besonderen Schweregrad gehabt. Soweit Dr. L. einen erheblichen subjektiven Schweregrad annehme, berücksichtige er zu Unrecht nicht den beruflichen Werdegang der Klägerin und unterstelle in unzulässiger Weise einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Der Sachverständige H. habe demgegenüber schlüssig dargelegt, dass dem Unfall allenfalls die Bedeutung einer Gelegenheitsursache zukomme.

Gegen das am 29. Juni 2006 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 29. Juli 2006 Berufung eingelegt: Das erstinstanzliche Urteil sei fehlerhaft, weil der Kausalitätsbegriff und die damit verbundene Beweislast zu ihren Lasten unzulässig verschärft und verschoben worden seien. An sich sei es aufgrund der vorliegenden Gutachten als unstreitig anzusehen, dass der Arbeitsunfall bei ihr, der Klägerin, zu den vorliegenden katastrophalen Folgen geführt habe. Dem setze das Sozialgericht lediglich allgemeine, nicht weiter spezifizierte Bedenken über den zeitlichen Verlauf der Gesundheitsstörungen entgegen und übersehe, dass sich während der laufenden Behandlung der Unfallfolgen durch verschiedene Ärzte die psychosomatischen Beschwerden eingeschlichen hätten. Dr. L. habe in seinem Gutachten zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, dass sie ohne den Arbeitsunfall noch gesund, munter und arbeitsfähig wäre. Eindeutiger könne eine Kausalität nicht festgestellt werden. Die entgegenstehenden Beurteilungen von Dr. F. und H. würden demgegenüber nicht überzeugen, zumal es sich bei diesen Sachverständigen nicht um Spezialisten der Psychosomatik handele.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. April 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Juli 1996 Verletztengeld über den 6. September 1996 hinaus bis zum Ablauf der 78. Woche nach dem Unfall und im Anschluss daran Verletztenrente in Höhe von mindestens 50 vom Hundert der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Der angeschuldigte Arbeitsunfall sei schon grundsätzlich ungeeignet, überhaupt eine psychische Schädigung zu verursachen. Das Gutachten Dr. L. erscheine in weiten Teilen spekulativ und sei deshalb nicht geeignet, einen Ursachenzusammenhang zu belegen.

Nachdem das Landessozialgericht die die Klägerin betreffenden Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung Bund beigezogen hatte, die unter anderem das nervenärztliche Gutachten des Dr. R. vom 26. August 1997 enthalten, ist der Nervenarzt Dr. L1. in seinem Gutachten vom 17. August 2006 nach zweimaliger Untersuchung der Klägerin (29. Juni und 17. August 2006) zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dieser eine schwere gemischte dissoziative Störung vorliege, die mit dem Unfall zwar im zeitlichen, aber nicht im ursächlichen Zusammenhang stehe. Der Unfall könne allenfalls als Auslöser der Erkrankung angesehen werden. Symptome einer psychischen Traumatisierung oder einer nachhaltigen, durch den Unfall ausgelösten akuten Belastungsstörung mit daraus ableitbarer Anpassungsstörung hätten sich nicht gefunden.

Anlässlich seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung am 15. Mai 2007 hat Dr. L1. dargelegt, dass sich die Ursache der bestehenden psychischen Erkrankung nicht eindeutig klären lasse. Wegen des Fehlens einerseits der bei einem Unfallzusammenhang zu erwartenden Symptomatik und andererseits des für die Verursachung einer posttraumatischen Belastungsstörung erforderlichen Schweregrades des Ereignisses sei ein ursächlicher Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit dem angeschuldigten Unfall aber nicht wahrscheinlich. Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung wie das Wiedererleben und Intrusionen seien bei der Klägerin ebenso wenig festzustellen wie solche einer Anpassungsstörung in Form von Rückzugstendenzen, Antriebsstörungen und einer feindlichen abweisenden Haltung. Bei ihr finde man vielmehr eine dissoziative Störung in Form einer Konversionsstörung, wobei es sich um einen hysterischen Befund handele. Auch unter Berücksichtigung ihrer Biografie könne nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Ereignis um einen die Klägerin tief traumatisierenden Vorgang gehandelt habe. Es sei zu berücksichtigen, dass sie ihren Weg in die mitteleuropäische Gesellschaft über weite Strecken gut gemeistert und viele Stufen der Persönlichkeitsentwicklung bewältigt habe. Sie sei zum Unfallzeitpunkt bereits seit mehreren Jahren in der Kranken- und Altenpflege tätig gewesen, wo täglich alte, mitunter nackte Menschen gepflegt werden müssten. Unter Berücksichtigung dieser Umstände sei der Migrationshintergrund der Klägerin nicht so bedeutend, dass das Unfallereignis Ursache für den festzustellenden Gesundheitszustand sein könne.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 15. Mai 2007 aufgeführten Akten und Unterlagen Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin (§§ 143, 144, 151 Abs. 1 SGG) ist nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht mit seinem Urteil vom 28. April 2005 die Klage abgewiesen. Auch zur Überzeugung des Senats ist der Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 1998 rechtmäßig, da gesundheitliche Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Juli 1996 bei der Klägerin über den 6. September 1996 hinaus nicht mehr festzustellen sind.

Zutreffend hat das Sozialgericht dargelegt, dass auf diesen Rechtsstreit noch die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) Anwendung finden, da ein Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des Siebten Sozialgesetzbuchs, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) am 1. Januar 1997 im Streit ist (§ 212 SGB VII; Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz). Ebenfalls zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Leistungsgewährung wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls nach §§ 547, 548 RVO neben dem inneren Zusammenhang zwischen dem versicherten Tätigkeitsbereich und dem unfallbringenden Verhalten eine durch das Unfallereignis verursachte gesundheitliche Schädigung voraussetzt. Dabei muss das Unfallereignis gegenüber anderen Mitursachen zumindest als rechtlich wesentliche Teilursache zu werten sein. Während die einzelnen Glieder der Kausalkette (versicherte Tätigkeit, Unfallereignis, Gesundheitsschaden) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen müssen, genügt für den – doppelten – Ursachenzusammenhang eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, d.h. es müssen mehr Gesichtspunkte dafür als dagegen sprechen; die bloße Möglichkeit reicht nicht aus. Zu Recht gelangt das Sozialgericht unter Berücksichtigung dieser Grundsätze zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin in dem streitigen Zeitraum ab 6. September 1996 weder auf orthopädisch-chirurgischem noch auf neurologischem Fachgebiet im Zusammenhang mit dem Unfallereignis stehende Gesundheitsstörungen mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen sind. Unter Berücksichtigung aller in den Akten enthaltenen ärztlichen Unterlagen waren die multiplen Prellungen, die sich die Klägerin bei dem Ereignis am 23. Juli 1996 unstreitig zugezogen hatte, am 6. September 1996 bereits folgenlos ausgeheilt. Weder der erstbehandelnde Chirurg Dr. K. in seinem Nachschaubericht vom 22. August 1996 noch die die Klägerin hausärztlich behandelnden Dres. P. in ihrem Befundbericht vom 6. Mai 1999 beschreiben über den 6. September 1996 hinaus bestehende derartige Gesundheitsstörungen oder auch nur auf solche zurückzuführende Beschwerden. Ebenfalls liegt zur Überzeugung des Senats über den 6. September 1996 hinaus bei der Klägerin keine Gesundheitsstörung auf neurologischem Fachgebiet vor. Bei der gründlichen Untersuchung im AK E. am 22. August 1996 und während des stationären Aufenthaltes vom 26. August bis 6. September 1996 konnte ebenso wenig ein pathologischer Befund erhoben werden wie bei der gutachterlichen Untersuchung durch die Neurologin Dr. I. am 17. Dezember 1996. Die von der Klägerin erstmals während des stationären Aufenthaltes geklagte Halbseitenlähmung rechts konnte von den behandelnden Ärzten trotz umfangreicher Diagnostik nicht objektiviert werden und wurde deshalb von ihnen als psychisch bedingt angesehen. Diese Einschätzung wurde nachfolgend von allen auf nervenärztlichem Fachgebiet tätig gewordenen Sachverständigen bestätigt, so dass der Senat keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit hat. Der von der Klägerin erstmals am 8. August 1996 – neben einer nach ihren eigenen Angaben nur vorübergehend bestehenden Gesichtsfeldeinschränkung – geklagte Hörverlust konnte anlässlich einer prästationären Untersuchung am 19. September 1996 im Marienkrankenhaus nicht nur nicht bestätigt, sondern ausgeschlossen werden.

Gleichermaßen zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird (§ 153 Abs. 2 SGG) hat das Sozialgericht den Ergebnissen der Begutachtungen durch die Nervenärzte Dr. F. und H. folgend dargelegt, dass die bei der Klägerin bestehende psychische Gesundheitsstörung entgegen der Auffassung des Sachverständigen Dr. L. nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit (teil-)ursächlich auf das Unfallereignis vom 23. Juli 1996 zurückzuführen ist. Diese Einschätzung ist während des Berufungsverfahrens durch den Sachverständigen Dr. L1. aufgrund des Ergebnisses seiner zweimaligen Untersuchung der Klägerin in vollem Umfang bestätigt worden. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass es sich nach den insoweit übereinstimmenden Feststellungen aller Sachverständigen einschließlich Dr. L. bei der psychischen Erkrankung der Klägerin nicht um eine typischerweise nach einem seelisch traumatisierenden Ereignis auftretende Gesundheitsstörung wie eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Anpassungsstörung handelt. Zutreffend weist Dr. L. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23. Dezember 2004 darauf hin, dass derartige Gesundheitsstörungen ein charakteristisches klinisches Bild aufweisen, wie es bei der Klägerin zweifelsfrei nicht vorliegt. Mit dieser Einschätzung steht er in Einklang mit allen anderen tätig gewordenen Sachverständigen, die jeweils darauf hingewiesen haben, dass sich die für eine posttraumatische Belastungsstörung und/oder Anpassungsstörung typischen Symptome bei der Klägerin gerade nicht feststellen lassen. Dementsprechend besteht auch dahingehend Einigkeit zwischen den Sachverständigen, dass die bei der Klägerin vorliegende Erkrankung diagnostisch als dissoziative Störung im Sinne einer Konversionsstörung einzuordnen ist. Zutreffend hat bereits Dr. F. in seinem während des Verwaltungsverfahrens erstellten Gutachten vom 15. Mai 1998 darauf verwiesen, dass derartige Störungen nach einem tiefenpsychologischen Verstehenskonzept nicht Folgen akuter Angst oder Belastungen sind, sondern tiefgreifenden seelischen Konflikten entspringen. Legt man diese Erkenntnis der Beurteilung zu Grunde, würde es schon an der generellen Eignung eines wie auch immer gearteten Traumas fehlen, die bei der Klägerin bestehende Gesundheitsstörung zu verursachen. Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben. Selbst wenn man mit Dr. L. davon ausgeht, dass eine derartige dissoziative Störung auch durch das Zusammentreffen eines äußeren, in einem spezifischen Bedeutungskontext und in individueller Weise erlebten Unfallereignisses mit einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur entstehen kann, weil es wegen des überwältigenden Erlebens des Unfallereignisses, bei dem sich meist das Erleben von Ohnmacht und maximaler Angst mit vor- und unbewussten Bedeutungs- und Erlebenskonfigurationen verbindet, zu einer Dekompensation und zur Dissoziation der psychischen Regulation kommt, lässt sich im konkreten Fall eine wesentliche (Mit-)Verursachung der Erkrankung durch das Ereignis vom 23. Juli 1996 nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen. Entgegen der Auffassung von Dr. L. ist es nämlich nicht ausreichend für die Annahme der Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhanges, dass die Klägerin bis zum Zeitpunkt des Unfalls keine psychischen Krankheitszeichen aufwies und die neurotische Fehlentwicklung im eigentlichen Sinne erst nach dem Unfall eingesetzt hat. Auch wenn dem Sachverständigen dahingehend zuzustimmen ist, dass der Mensch in der gesetzlichen Unfallversicherung als derjenige versichert ist, der er eben ist, d.h. mit all seinen individuellen persönlichen und charakterlichen Besonderheiten, reicht allein das Vorliegen des zeitlichen Zusammenhanges nicht aus, ein Überwiegen der unfallgebundenen Umstände und Faktoren bei der Ausbildung der Erkrankung anzunehmen. Überdies hat bereits das Sozialgericht in seiner angefochtenen Entscheidung zutreffend darauf hingewiesen, dass sich im Falle der Klägerin ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang gerade nicht feststellen lässt. Entgegen der Annahme Dr. L. lag bei ihr unmittelbar nach dem Ereignis eine psychische Symptomatik nicht vor. Eine solche ist mit der von ihr angegebenen Taubheit rechts – die tatsächlich nicht vorlag und von ihr im Übrigen auch schon einmal im Jahre 1983 zu Unrecht geltend gemacht wurde – erst zwei Wochen nach dem Ereignis aufgetreten. Die vorübergehend geklagte Gesichtsfeldeinschränkung begann noch etwas später und die bis heute im Vordergrund stehende funktionelle Halbseitenstörung erst während des stationären Aufenthaltes im AK E. ab 26. August 1996 und damit mehr als vier Wochen nach dem Unfallereignis. Die Annahme eines unmittelbaren zeitlichen Zusammenhanges, von der Dr. L. bei seiner Einschätzung ausgeht, lässt sich somit nicht mit den in den Akten befindlichen Unterlagen in Einklang bringen und beruht ersichtlich allein auf den Angaben der Klägerin gegenüber diesem Sachverständigen. Unabhängig davon fehlt es an der auch von Dr. L. als unabdingbare Voraussetzung für den von ihm angenommenen Unfallzusammenhang angesehenen überwältigenden Schwere des Unfallereignisses. Unter objektiven Gesichtspunkten handelte es sich bei dem Ereignis vom 23. Juli 1996 sowohl hinsichtlich des Herganges als auch der dadurch erlittenen körperlichen Folgen in Form der Prellungen um einen Bagatellunfall. Allerdings ist Dr. L. darin zuzustimmen, dass es für die Frage des Ursachenzusammenhanges überwiegend auf die subjektiv empfundene Beeinträchtigung des Ereignisses ankommt. Jedoch lassen sich Anhaltspunkte für eine subjektiv besonders schwer empfundene Beeinträchtigung durch den Unfall bei der Klägerin ebenfalls nicht feststellen. Zutreffend weist Dr. L1. in seinem Gutachten vom 17. August 2006 darauf hin, dass die Klägerin bei ihrer Schilderung des Unfallherganges noch heute den Ekel in den Vordergrund stellt, den sie empfunden hat, als das Gesicht des Heimbewohners direkt auf ihrem Gesicht lag. Allerdings geht aus ihrer eigenen Beschreibung keine über das Erschrecken und den Ekel – beides zunächst normale psychosomatische Vorgänge – hinausgehende Traumatisierung hervor. Insbesondere lässt sich aus ihrer Darstellung des Unfallherganges keine auch nur subjektiv empfundene oder in der Phantasie erlebte genitale Verletzung ableiten, wie sie von Dr. L. unterstellt wird. Dementsprechend lässt sich auch die von Dr. L. angenommene Reinszenierung einer im unbewussten Erleben vertrauten frühkindlichen sexuellen Traumatisierung nicht unterstellen, zumal es trotz der zahlreichen nervenärztlichen Untersuchungen im Gesamtverlauf des Verfahrens keinen einzigen Anhaltspunkt dafür gibt, dass die Klägerin in ihrer Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht worden wäre. Zu Recht haben sowohl das Sozialgericht als auch Dr. L1. darauf hingewiesen, dass es sich insoweit um eine nicht begründete Hypothese des Sachverständigen Dr. L. handelt, die nicht überzeugen kann. Die Feststellung der Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges kann sich aber niemals allein auf einen hypothetisch denkbaren, jedoch in keiner Weise belegbaren Geschehensablauf stützen. Unabhängig davon lässt sich eine schwere seelische Beeindruckung der Klägerin durch das Unfallereignis auch nicht mit ihrem privaten und beruflichen Werdegang in Einklang bringen. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass sie schon in der Türkei den Beruf einer Krankenpflegehelferin erlernt und bis zu ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland mehr als zehn Jahre ausgeübt hatte. In Deutschland war sie vor dem Unfall wiederum bereits seit etwa zehn Jahren als Kranken- und Altenpflegehelferin tätig. Zu Recht verweist Dr. L1. darauf, dass diese Tätigkeit täglich den Umgang mit alten und auch die Pflege nackter Menschen beinhaltet. Angesichts der Gesamtdauer ihrer beruflichen Tätigkeit im pflegerischen Bereich muss deshalb davon ausgegangen werden, dass sich bei der Klägerin bis zum Unfallzeitpunkt durchaus ein Gewöhnungseffekt eingestellt hatte und naturgemäß bestehende Hemmungen abgemildert waren. Ansonsten wäre ihr kaum die Ausübung einer solchen Tätigkeit über einen derart langen Zeitraum möglich gewesen. Hinsichtlich des privaten Werdeganges ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin zwar aus einem islamisch geprägten Land stammt, aber in der Umgebung von Istanbul, einer modernen Großstadt, aufgewachsen ist und eine für ein Mädchen in der damaligen Zeit nicht selbstverständliche Schulbildung von zehn Jahren genossen hat. Zumindest seit ihrer Umsiedlung nach Deutschland hat sie nach ihren eigenen Angaben ein modernes, eigen- ständiges Leben geführt. Im Zusammenhang mit der Umsiedlung ist es einerseits zu der von ihr betriebenen Scheidung von ihrem türkischen Ehemann und danach zu einem bis heute andauernden Zusammenleben mit einem anderen Mann – ohne mit diesem verheiratet zu sein – gekommen. Zutreffend führt Dr. L1. aus, dass bei der Klägerin eine besonders starke Religiosität, einhergehend mit einer strikten Einhaltung von Grenzen zwischen Mann und Frau in zwischenmenschlichen Beziehungen, gerade nicht festzustellen ist. Entgegen den Ausführungen ihrer im Termin am 15. Mai 2007 als Beistand aufgetreten Tochter ist der Migrationshintergrund der Klägerin daher nicht so bedeutend, als dass er als Grund für eine subjektiv als besonders gravierend empfundene Schwere des Unfallereignisses dienen könnte. Unter Berücksichtigung aller Umstände bleibt es letztlich zwar möglich, dass das Unfallereignis vom 23. Juli 1996 wesentlich (teil-)ursächlich zu der bis heute bei der Klägerin bestehenden psychischen Erkrankung geführt hat. Es sind jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich, die diese Möglichkeit zu der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit in der Weise, dass mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht, werden lassen könnten.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Regelung des § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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