L 2 J 334/85

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 J 334/85
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Januar 1985 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. Mai 1979 den auf Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit gerichteten Rentenantrag des Klägers vom 20. Juli 1978 ab. Dagegen erhob der Kläger am 28. Juni 1979 Widerspruch. Im August 1979 erteilte er auf einer Postkarte sein Einverständnis, daß bei Nichtstattgabe des Widerspruchs dieser an das Sozialgericht Frankfurt am Main weitergeleitet werden könne (§ 85 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG–). Durch Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 1979, der am 9. Oktober 1979 zur Post gegeben worden war, wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.

Am 11. Dezember 1980 ging beim Sozialgericht Frankfurt ein Schreiben des Klägers vom 10. Dezember 1980 ein, in dem er anfragte, ob die Widerspruchstelle der Beklagten zwischenzeitlich die Unterlagen dem Gericht vorgelegt habe. Im August 1979 habe er sein Einverständnis erklärt, daß bei Nichtstattgabe des Widerspruchs dieser dem zuständigen Sozialgericht als Klage zugeleitet werde.

Dieses Schreiben wurde auf richterliche Verfügung vom 15. Dezember 1980 der Beklagten urschriftlich übersandt.

Mit beim Sozialgericht Frankfurt am 21. Dezember 1981 eingegangenem weiteren Schreiben vom 15. Dezember 1981 erinnerte der Kläger an seine Anfrage vom Dezember 1980. Auf Rückfrage gab er an, die Beklagte habe irrtümlich seine Einverständniserklärung nicht weitergeleitet, ein Verschulden seinerseits liege nicht vor. Nach weiterem Schriftwechsel mit dem Sozialgericht bat er mit Schriftsatz vom 24. Januar 1983 um Überprüfung und Entscheidung. Dieses Schreiben wurde vom Sozialgericht als Klage behandelt. In der mündlichen Verhandlung am 4. Juni 1984 wurde dem Kläger auf seinen Antrag durch Beschluß wegen der Versäumung der Klagefrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt. In der schriftlichen Begründung wurde ausgeführt, nach Meinung der Kammer habe der Kläger in keiner Weise schuldhaft gehandelt, als er nach Zustellung des Widerspruchsbescheides die diesem beigegebene "Rechtsbehelfsbelehrung” ignorierte. Zwar liege zwischen dem Ablauf der Klagefrist (12. November 1979) und dem Eingang des Schreibens vom 11. Dezember 1980 mehr als ein Jahr. Die Kammer habe aber die Vorschrift des § 67 Abs. 3 SGG nicht angewandt, nach der ein Wiedereinsetzungsantrag nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist unzulässig sei. In der beigefügten Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses heißt es, diese Entscheidung sei gemäß § 67 Abs. 4 Satz 2 SGG unanfechtbar. Gegen diesen Beschluß könnte die Beschwerde zulässig sein; der Beschluß könne auch auf Gegenvorstellung wieder aufgehoben werden.

Die Beklagte erhob gegen den ihr am 17. Juli 1984 zugestellten Beschluß mit Schriftsatz vom 8. August 1984 Beschwerde, die auch als Gegenvorstellung gelten sollte. Der angefochtene Beschluß verstoße derart eindeutig gegen zwingende gesetzliche Vorschriften, daß es außerordentlich unbillig wäre, wenn er aufrechterhalten bliebe.

In der mündlichen Verhandlung am 7. Januar 1985 hob das Sozialgericht Frankfurt am Main den Beschluß vom 4. Juni 1984 auf und wies die Klage ab. Der Wiedereinsetzungsbeschluß sei auf die Beschwerde der Beklagten aufzuheben, weil er wegen Nichtanwendung des § 67 Abs. 3 SGG offensichtlich rechtswidrig sei. Der Kläger sei an einer rechtzeitigen Antragstellung nicht durch höhere Gewalt gehindert gewesen. Hinsichtlich des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 1979 sei die Klagefrist offensichtlich und eindeutig verstrichen gewesen, als das Schreiben des Klägers am 11. Dezember 1980 beim Sozialgericht eingetroffen sei. Der Kläger habe auch schuldhaft im Sinne von § 67 Abs. 1 SGG gehandelt, wenn er trotz Kenntnis der Rechtsmittelbelehrung des Widerspruchsbescheides sich nicht weiter erkundigt habe. Die von ihm erwähnte Zustimmungserklärung für die Beklagte stelle nur eine Möglichkeit, nicht aber die Pflicht zur Vorlage des Widerspruchsschreibens an das Sozialgericht dar. Aus der Erteilung des Widerspruchsbescheides habe der Kläger ersehen müssen, daß die Beklagte den Weg der Vorlage an das Sozialgericht nicht gewählt habe. Da der ablehnende Bescheid und der Widerspruchsbescheid bindend geworden seien, könne eine Überprüfung in der Sache nicht erfolgen.

Gegen das ihm am 5. März 1985 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28. März 1985 Berufung eingelegt. Er wirft der Beklagten vor, diese habe bewußt die von ihm unterzeichnete Einverständniserklärung nicht an das Sozialgericht weitergeleitet.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Januar 1985 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Mai 1979 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 1979 zu verurteilen, ihm Versichertenrente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit ab 1. August 1978 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Gründe der angefochtenen Entscheidung für überzeugend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes und des Vorbringens der Parteien im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakte, die vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist auch insoweit begründet, als sie zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht führt.

Nach § 159 Abs. 1 Ziff. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 150 Nr. 2 SGG). Zu den wesentlichen Verfahrensmängeln rechnen auch Mängel der Entscheidung selbst, und das gilt insbesondere bei Erlaß eines Prozeßurteils statt eines Sachurteils (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit Erläuterungen, 2. Aufl., § 150 Anm. 15).

Das angefochtene Urteil beruht auf einem solchen Verfahrensmangel. Das Sozialgericht durfte die dem Kläger durch Beschluß in der mündlichen Verhandlung vom 4. Juni 1984 gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der versäumten Klagefrist in dem folgenden Verhandlungstermin am 17. Januar 1985 nicht wiederaufheben, um dann die Klage wegen offensichtlich verstrichener Klagefrist abzuweisen. Es war vielmehr an seinen unanfechtbaren Beschluß vom 4. Juni 1984 gebunden, auch wenn dabei offenkundig gegen die Vorschrift des § 67 Abs. 3 SGG verstoßen wurde.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht konnte das Sozialgericht über den vom Kläger gestellten Wiedereinsetzungsantrag entweder durch gesonderten Beschluß entscheiden oder indem es das Verfahren über den Wiedereinsetzungsantrag mit dem Verfahren über die nachgeholte Handlung verband (Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit § 67 Anm. 8 m.w.N.). Vorliegend hat das Sozialgericht in der mündlichen Verhandlung am 4. Juni 1984 durch Beschluß entschieden und dem Kläger Wiedereinsetzung hinsichtlich der versäumten Klagefrist bewilligt. Diese Entscheidung ist gemäß § 67 Abs. 4 Satz 2 SGG unanfechtbar und bestimmt den weiteren Verfahrensgang. Gegen einen die Wiedereinsetzung bewilligenden Beschluß ist kein Rechtsmittel gegeben. Die Wiedereinsetzung ist auch für die übergeordnete Instanz bindend und nicht nachprüfbar (Meyer-Ladewig, a.a.O. § 67 Anm. 19). Insbesondere kann wegen § 67 Abs. 4 Satz 2 SGG ein Rechtsbehelf nicht damit begründet werden, daß die Wiedereinsetzung unzulässigerweise bewilligt worden sei (Peters-Sautter-Wolff a.a.O. § 67 Anm. 8). Daraus, daß § 67 Abs. 4 Satz 2 SGG eine Nachprüfung der Entscheidung verbietet, die die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt, folgt zwangsläufig, daß sich das weitere Verfahren nach dieser Entscheidung richten muß (vgl. BSGE 13, 61/62). Die Bindung des späteren Richters durch ausdrückliche gesetzliche Anordnung ist Indiz für die materielle Rechtskraft des Wiedereinsetzungsbeschlusses (vgl. Stein/Jonas, 19. Aufl., § 322 V 6 ZPO). Das Sozialgericht durfte deswegen auch seine Entscheidung vom 4. Juni 1984 nicht auf die Beschwerde der Beklagten hin aufheben. Der Beschluß war kraft Gesetzes unanfechtbar und deswegen auch nicht beschwerdefähig.

Auch auf die Gegenvorstellung hin hätte es den Beschluß nicht aufheben dürfen. Bei der Gegenvorstellung handelt es sich um einen gesetzlich nicht geregelten formlosen Rechtsbehelf, durch den das Gericht, das entschieden hat, veranlaßt werden soll, seine Entscheidung aus übersehenen oder neuen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen zu ändern (vgl. Thomas-Putzo, Komm. zur Zivilprozeßordnung, Vorbemerkung zu § 567 Ziff. 2 m.w.N.; Rosenberg-Schwab, Komm. zur ZPO, 19. Aufl. § 148 II Ziff. 5; Grunsky in Stein/Jonas, Komm. zur ZPO, 19. Aufl. § 567 IV Ziff. 5; Meyer-Ladewig, a.a.O. vor § 143 Anm. 16 m.w.N.). Eine Gegenvorstellung kann gegen einen Beschluß in Betracht kommen, der mit der Beschwerde nicht angefochten werden kann (vgl. BVerfG Beschluß vom 9. Juli 1980 – 2 BvR 701/80 in NJW 80, 2698). Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß dies nur der Ausnahmefall sein kann, weil sonst das Rechtsmittelgefüge und die Rechtssicherheit entwertet werden. Eine Gegenvorstellung soll zur Beseitigung anders nicht zu beseitigendes prozessuales Unrechts dienen (vgl. OLG-Düsseldorf in DRiZ 1980 S. 110).

Auch auf Gegenvorstellung der Beklagten durfte das Sozialgericht seine Entscheidung vorliegend nicht ändern, denn übersehene oder neue tatsächliche oder rechtliche Gründe lagen dazu nicht vor. Dies bestätigt der Vergleich der schriftlichen Gründe der beiden Entscheidungen. Bei der dem Kläger gewährten Wiedereinsetzung handelt es sich auch nicht um eine Entscheidung ohne prozessuale Wirkung, die deshalb von vornherein prozessual unbeachtlich und damit rücknehmbar ist. Durch die Gewährung der Wiedereinsetzung hat der Kläger eine rechtswirksam veränderte prozessuale Stellung erhalten, in die hier nachträglich nicht mehr zu seinen Ungunsten eingegriffen werden darf. Diese Stellung hat er auch nicht durch unlautere Mittel erworben. Zwar wiegt der Rechtsverstoß durch das Sozialgericht bei Bewilligung der Wiedereinsetzung mit Beschluß vom 4. Juni 1984 schwer, denn die Vorschrift des § 67 Abs. 3 SGG wurde übergangen. Gleichwohl durfte der Beschluß nicht auf Gegenvorstellung hin aufgehoben werden, die ausnahmsweise nur dann zum Zuge kommt, wenn etwa Verfassungsgrundsätze durch eine unabänderliche Entscheidung verletzt werden (vgl. BVfG in NJW 1980, 2690 und NJW 1983, 1900). Die von der Beklagten geltend gemachte mit der Wiedereinsetzung hinsichtlich der versäumten Klagefrist verbundene Härte hat keinen solchen Rang und ist hinzunehmen. Dies erscheint noch erträglich, weil dem Kläger dadurch nur der Weg zur Entscheidung in der Sache eröffnet wurde und kann eher hingenommen werden, als eine unrichtige Entscheidung, die diesen Weg verschließt (vgl. auch Zeihe, Kommentar zum SGG, § 67 Anm. 34 a).

Folglich war das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Januar 1985 aufzuheben, da das Gericht weiterhin an seinen Beschluß vom 4. Juni 1984 gebunden war und in der Sache hätte entscheiden müssen. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG Gebrauch gemacht, damit dem Kläger nicht eine Tatsacheninstanz verloren geht und dem Sozialgericht Gelegenheit gegeben ist, die für eine Sachentscheidung über die begehrte Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente notwendigen Feststellung zu treffen bzw. zu ermitteln.

Das Sozialgericht wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.

Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision beruht auf § 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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