L 6 SB 5089/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 6878/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 5089/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 08. November 2005 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. Oktober 2004 verurteilt, den Grad der Behinderung bei der Klägerin mit 50 festzustellen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Klägerin wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse nunmehr ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festzustellen ist.

Bei der am 14. August 1946 geborenen Klägerin stellte das frühere Versorgungsamt Stuttgart (VA) den GdB zuletzt mit 40 seit August 1986 fest (Teil-Abhilfebescheid vom 29. Juni 1987). Dieser Beurteilung liegen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde: - seelische Erkrankung (Teil-GdB 20 bis 30), - Verlust der Gebärmutter (Teil-GdB 10), - chronisches Wirbelsäulensyndrom bei Wirbelsäulenfehlhaltung mit Folgeerscheinungen (Teil-GdB 20).

Auf den im Juni 1989 gestellten Neufeststellungsantrag der Klägerin bezeichnete das VA die Behinderungen mit Bescheid vom 30. August 1989 bei einem GdB von weiterhin 40 wie folgt neu: - Verlust der Gebärmutter (Teil-GdB weiterhin10), - Verbiegung und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Reizerscheinungen (Teil-GdB weiterhin 20), - depressiver Verstimmungszustand (Teil-GdB (nunmehr noch 10 bis 20). Hinsichtlich des depressiven Verstimmungszustandes ging das VA von einer Besserung aus, allerdings ohne Auswirkungen auf den Gesamt-GdB.

Den weiteren im April 2000 gestellten Neufeststellungsantrag lehnte das VA mit Bescheid vom 30. Juni 2000 ab. Als weitere Funktionsbehinderung berücksichtigte es nunmehr zwar degenerative Kniegelenksveränderungen rechts, Knorpelschaden, arthroskopische Operation, die es mit einem Teil-GdB von 20 bewertete, Auswirkungen auf den Gesamt-GdB gingen hiervon jedoch nicht aus.

Am 24. November 2003 beantragte die Klägerin, den GdB mit 50 festzustellen, weil sich ihre Funktionsbeeinträchtigungen insoweit verschlimmert hätten, als sie aufgrund der Arthrose im Hüftbereich und im Kniegelenk ohne schmerzstillende Spritzen nicht mehr in der Lage sei, Treppen zu steigen, die Bandscheibenprobleme schlimmer geworden seien und zwischenzeitlich ein Fersensporn aufgetreten sei. Das VA holte bei der praktischen Ärztin Dr. T. und dem Facharzt für Orthopädie Dr. G. die Befundberichte vom 30. November 2003 und 23. Januar 2004 ein und veranlasste die versorgungsärztliche (vä) Stellungnahme des Dr. H. vom 13. März 2004, der den GdB bei folgenden Funktionsbeeinträchtigungen mit 40 weiterhin ausreichend bewertet sah: - Verlust der Gebärmutter (Teil-GdB 10) - Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Gebrauchseinschränkung des rechten Armes (Teil-GdB 20) - Depression (Teil-GdB 20) - Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Funktionsbehinderung des linken Hüftgelenks (Teil-GdB 20) - Stoffwechselstörung (Teil-GdB 10) - Chronische Magenschleimhautentzündung (Teil-GdB 10). Mit Bescheid vom 29. März 2004 lehnte das VA die Neufeststellung des GdB gestützt auf diese Stellungnahme mit der Begründung ab, es seien zwar weitere Funktionsbeeinträchtigungen hinzugekommen, Auswirkungen auf den Gesamt-GdB ergäben sich hierdurch jedoch nicht. Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, die Funktionsbehinderungen von Seiten der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten rechtfertigten jeweils eine Anhebung auf einen Teil-GdB von 30. Zusätzlich sei die Schmerzsymptomatik zu berücksichtigen; sie stehe deshalb in schmerztherapeutischer Behandlung. Das VA holte bei Dr. S., Praxis für Anästhesie und Spezielle Schmerztherapie, einen Befundbericht (ohne Datum) ein und hiernach die vä Stellungnahme des Dr. G. vom 07. Juli 2004, der die Funktionsbeeinträchtigung "Depression" um "funktionelle Organbeschwerden" ergänzte und darauf hinwies, dass die insoweit genannten Beeinträchtigungen alle Leiden überlagerten. Eine wesentliche Änderung ergebe sich dadurch nicht. Mit Widerspruchsbescheid vom 07. Oktober 2004 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Dagegen erhob die Klägerin am 15. Oktober 2004 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage, die sie, nachdem das SG ihre behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen gehört hatte, damit begründete, dass Dr. T. den GdB allein auf orthopädischem Fachgebiet bereits mit 50 eingeschätzt habe und zwischenzeitlich zusätzlich noch eine Polyarthrose sowie eine Fibromyalgie, die ihrerseits einen Teil-GdB von 20 rechtfertige, vorliege. Da sich die fortdauernde Cortisonbehandlung auf ihren psychischen Zustand auswirke, sei der diesbezügliche Einzel-GdB im Übrigen auf 30 zu erhöhen. Insgesamt betrage der Gesamt-GdB damit mindestens 50. Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage seiner Verwaltungsakten und unter Aufrechterhaltung seines bisherigen Standpunktes entgegen. Das SG hörte Dr. G. unter dem 17. Dezember 2004, Dr. T. unter dem 15. Februar 2005 sowie Dr. M., Arzt für Allgemeinmedizin, unter dem 23. März 2005 schriftlich als sachverständige Zeugen. Mit Gerichtsbescheid vom 08. November 2005 wies es die Klage im Wesentlichen mit der Begründung ab, eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X), die einen höheren GdB als 40 rechtfertige, sei nicht eingetreten. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des den Bevollmächtigten der Klägerin am 11. November 2005 gegen Empfangsbekenntnis zugestellten Gerichtsbescheids verwiesen.

Hiergegen richtet sich die am 28. November 2005 beim Landessozialgericht (LSG) eingelegte Berufung der Klägerin. Sie verweist auf ihre bisherigen Ausführungen und macht insbesondere geltend, das SG hätte sich aufgrund der Einschätzung ihrer behandelnden Ärztin Dr. T., die den GdB allein auf orthopädischem Gebiet schon mit 50 eingeschätzt habe, veranlasst sehen müssen, ein orthopädisches Gutachten von Amts wegen einzuholen, zumal auch Dr. S. bei ihr erhebliche gesundheitliche Einschränkungen sehe. Dr. S. hätte daher auch als sachverständige Zeugin gehört werden müssen. Zudem hätte auch auf neurologischem bzw. schmerztherapeutischem Fachgebiet ein Gutachten eingeholt werden müssen. Die Klägerin hat den Arztbrief des Chirurgen Dr. E. vom 14. Dezember 2005 vorgelegt und auf die am 13. Dezember 2005 durchgeführte Bandscheibenoperation hingewiesen. Diese habe ihr nur vorübergehend Linderung verschaffen können. Die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule unter Einschluss der Gebrauchseinschränkung des linken Armes sei mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 08. November 2005 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. Oktober 2004 zu verurteilen, den GdB mit 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für richtig. Er hat die vä Stellungnahmen des Dr. G. vom 24. Oktober 2006 und des Dr. W. vom 16. Februar 2007 vorgelegt

Der Senat hat Dr. S. unter dem 26. März 2006 sowie Dr. Erlewein unter dem 10. August 2006 und 29. Mai 207 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist statthaft und zulässig; sie ist auch begründet.

Das SG hätte die Klage nicht abweisen dürfen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 29. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07. Oktober 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass in den Verhältnissen, wie sie der letzten Feststellung zugrunde gelegen haben, keine Änderung eingetreten ist, die so wesentlich war, dass sie eine Höherbewertung des GdB gerechtfertigt hätte.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin geltend gemachte Neufeststellung ist § 48 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Als wesentlich in diesem Sinne ist eine Änderung dann anzusehen, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. In diesem Fall ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, ist durch einen Vergleich des Zustandes zu ermitteln, wie er bei der letzten bindenden Feststellung einerseits und im Zeitpunkt der begehrten Neufeststellung andererseits vorgelegen hat.

Vorliegend ist demnach zu prüfen, ob im Gesundheitszustand der Klägerin, wie er dem Teil-Abhilfebescheid vom 29. Juni 1987, mit dem erstmals ein GdB von 40 festgestellt wurde, zugrunde gelegen hat, eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten ist, die es erfordert, anstelle des bisherigen GdB von 40 nunmehr einen solchen von 50 festzustellen. Dies war vorliegend zu bejahen.

An Funktionsbeeinträchtigungen lagen bei der Klägerin zu dem maßgeblichen Vergleichszeitpunkt neben einem Verlust der Gebärmutter, der mit einem Teil-GdB von 10 Berücksichtigung fand, einerseits eine seelische Störung und andererseits ein chronisches Wirbelsäulensyndrom vor, wobei diese Gesundheitsstörungen mit einem Teil-GdB von 20 bis 30 bzw. 20 bewertet wurden und insgesamt mit einem GdB von 40. Ausgehend von dem damit bestandskräftig festgestellten GdB von 40 war im Hinblick auf den neuerlichen, dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegenden Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 24. November 2003 zu prüfen, ob bei der Klägerin zwischenzeitlich weitere Funktionsbeeinträchtigungen hinzugekommen sind, die das Ausmaß der bei ihr bestehenden Gesamtbehinderung größer erscheinen lassen. Hiervon ist nach Auswertung der aktenkundigen medizinischen Unterlagen unter Berücksichtigung der eigenen, jeweils auf vä Stellungnahmen beruhenden Einschätzungen des Beklagten nach Überzeugung des Senats auszugehen. So ist der Beklagte nach Durchführung medizinischer Ermittlungen sowohl anlässlich des Neufeststellungsantrags der Klägerin vom 19. April 2000 als auch anlässlich des entsprechenden Antrags vom 24. November 2003 selbst davon ausgegangen, dass zu den bereits berücksichtigten Funktionsbeeinträchtigungen weitere Behinderungen hinzugekommen sind. Dabei handelt es sich zunächst um degenerative Kniegelenksveränderungen rechts bei Knorpelschaden und arthroskopischer Operation, die nach vä Stellungnahme des Dr. S. vom 23. Juni 2000 eine Bewertung mit einem Teil-GdB von 20 gerechtfertigt haben. Nach der weiteren vä Stellungnahme des Dr. H. vom 13. März 2004 ist hinsichtlich der unteren Extremitäten dann eine weitere Zunahme der Beeinträchtigungen dadurch eingetreten, dass nunmehr eine Funktionsbehinderung auch hinsichtlich des linken Kniegelenks und zusätzlich eine Funktionsbehinderung des Hüftgelenks links zu verzeichnen war, dies allerdings ohne Auswirkungen auf den diesbezüglich bereits berücksichtigten Teil-GdB von 20. Als weitere Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigte Dr. H. eine Gebrauchseinschränkung des rechten Armes, die er im Rahmen der Wirbelsäulenbeschwerden ohne Erhöhung des entsprechenden Teil-GdB mitbewertete, sowie im Übrigen eine Stoffwechselstörung und eine chronische Magenschleimhautentzündung, für die er jeweils einen Teil-GdB von 10 zugrunde legte. Berücksichtigt man weiter, dass Dr. G. es im Rahmen seiner vä Stellungnahme vom 07. Juli 2004 zusätzlich auch noch für angezeigt erachtete, die bereits bewertete Depression noch um "funktionelle Organbeschwerden" zu ergänzen, wenn auch ohne Auswirkungen auf den insoweit zugrunde gelegten Teil-GdB, wird deutlich, dass der Gesundheitszustand der Klägerin, wie er noch dem Teil-Abhilfebescheid vom 29. Juni 1987 zugrunde gelegen hat, eine Änderung erfahren hat, die ausgehend von dem bereits festgestellten GdB von 40 nicht als unwesentlich und damit für die Bemessung des Gesamt-GdB als unbeachtlich angesehen werden kann. Schließlich bestehen die schon seinerzeit berücksichtigten Gesundheitsstörungen auch weiterhin fort, ohne dass insoweit von einer beachtlichen Besserung ausgegangen werden könnte. Damit kann in die Gesamtbewertung auch nicht einfließen, dass eine einerseits zu verzeichnende Verschlimmerung andererseits durch eine eingetretene Besserung kompensiert wird. Gerade die im Bereich der unteren Extremitäten aufgetretenen zusätzlichen Funktionseinschränkungen verstärken aber nach Auffassung des Senats das Gesamtausmaß der Beeinträchtigungen der Klägerin im Vergleich zu dem noch im Jahr 1989 bestehenden Zustand so wesentlich, dass eine Anhebung des Gesamt-GdB auf den geltend gemachten GdB von 50 gerechtfertigt ist. Insoweit ist nämlich ein weiteres Organsystem betroffen, wodurch die Klägerin neben den Beeinträchtigungen von Seiten der Wirbelsäule und der ebenfalls hinzugetretenen Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes nunmehr auch in ihrer Fortbewegungsfähigkeit eingeschränkt ist. Dem Antrag der Klägerin auf Feststellung eines GdB von 50 war daher zu entsprechen, ohne dass es im Sinne ihres Vorbringens noch darauf ankam, ob bereits die orthopädischen Gesundheitsstörungen als solche die Bewertung mit einem GdB von 50 rechtfertigen.

Soweit die mit der Bewertung der Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin befassten Ärzte des Beklagten sich zuletzt sinngemäß dahingehend geäußert haben, dass der GdB auch unter Berücksichtigung der weiteren, bisher nicht bewerteten Gesundheitsstörungen mit 40 angemessen bewertet sei, haben sie nicht hinreichend beachtet, dass vorliegend nicht die erstmalige Feststellung des GdB im Streit steht, sondern dessen Neufeststellung. Im Rahmen dieses Verfahrens ist ausgehend von der früheren bindenden Feststellung zu prüfen, ob sich durch das Hinzutreten weiterer Funktionsbeeinträchtigungen die Gesamtauswirkungen der Behinderungen wesentlich nachteiliger darstellen. Eine möglicherweise ursprünglich zu großzügige Einstufung kann demgegenüber nicht dadurch korrigiert werden, dass der bisherige GdB trotz Hinzutretens weiterer, sich auf die Gesamtbehinderung auswirkender Gesundheitsstörungen mit der Begründung beibehalten bleibt, die Behinderungen seien ausreichend bewertet.

Nach alledem war der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 08. November 2005 aufzuheben und der Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für eine Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung.
Rechtskraft
Aus
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