S 14 R 821/05

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 R 821/05
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtung von Beschäftigungszeiten im Ghetto Topolya.

Die am 1922 in S (ehemalige Tschechoslowakei) geborene Klägerin ist Jüdin. Im Oktober 1943 wurde sie in Budapest verhaftet und nach Topolya (damals zu Ungarn gehörig) verbracht, wo sie auch arbeitete. Ab Mai 1944 wurde sie in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert und am 5. Mai 1945 in Theresienstadt befreit. 1948 ist sie nach Israel und 1957 in die USA ausgewandert, wo sie noch heute lebt. 1958 erhielt die Klägerin eine Entschädigungsleistung vom Bayerischen Landesentschädigungsamt in Höhe von DM 1.950,00 DM.

Am 30. Juni 2003 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente. Im Ghetto Topolya in Ungarn habe sie von Oktober 1943 bis zum 8. Mai 1944 in der Kleidungsindustrie gearbeitet. Sie habe Spinn- und Webarbeiten ausgeführt. Dafür habe sie Nahrung und Unterkunft erhalten.

Mit Bescheid vom 16. Juli 2004 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Ein Rentenanspruch bestehe nicht, da die Klägerin keine in der Rentenversicherung anrechenbaren Zeiten zurückgelegt habe. Die Zeit von Oktober 1943 bis August 1944 könne nicht anerkannt werden, weil der angegebene Beschäftigungsort nicht als Ghetto ausgewiesen sei.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 2. September 2004 Widerspruch. Eine Begründung erfolgte nicht. Die Beklagte zog die Akte des Landesentschädigungsamtes München bei. In den Entschädigungsakten ist von einem Ghettoaufenthalt nicht die Rede. Der Aufenthalt in Topolya wird dort als "Gefängnis" bzw. "Internierungslager" und "Konzentrationslager" bezeichnet. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2005 als unbegründet zurück. Bei der geltend gemachten Zeit habe es sich um einen Aufenthalt in einem Zwangsarbeits- bzw. Konzentrationslager gehandelt.

Dagegen hat die Klägerin am 25. November 2005 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Die Klägerin habe für ihre Arbeit im Ghetto Lebensmittel bekommen, was viel mehr bedeutet habe als Geld. Eine Scheibe Brot als Tageslohn sei keine Ausnahme gewesen. Die Klägerin beantragt nach Aktenlage,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2005 zu verurteilen, ihr unter Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten im Ghetto Topolya von Oktober 1943 bis Mai 1944 Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide. Im Übrigen sei Ungarn erst am 19. März 1944 vom Deutschen Reich besetzt worden, so dass für Zeiten davor eine Berücksichtigung nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) ohnehin ausscheide.

Das Gericht hat die Akte des Landesentschädigungsamtes München beigezogen und in Auszügen in Kopie zur Prozessakte genommen. Es hat die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der Entscheidungsfindung gemacht. Die Beteiligten sind zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gem. § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vor der Entscheidung gehört worden.

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten 16. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte einen Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, denn die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit fünf Jahre. Darauf werden nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet. Die Klägerin hat jedoch weder Beitrags- noch Ersatzzeiten zur deutschen Rentenversicherung zurückgelegt.

Als Beitragszeit kommt lediglich die Zeit der behaupteten Beschäftigung in Topolya von Oktober 1943 bis Mai 1944 im Sinne einer fiktiven Beitragszeit nach § 2 ZRBG in Betracht. Nach dieser Vorschrift gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge ohne weitere Einschränkung als gezahlt. Das ZRBG findet aber für die Zeit bis zum 18. März 1944 keine Anwendung, weil die behauptete Beschäftigung nicht in einem Gebiet erfolgte, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Daran fehlt es hier. Denn Topolya lag bis zum 18. März 1944 nicht in einem Gebiet, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZBRG), sondern gehörte zu Ungarn. Topolya lag in einem Teil des ehemaligen Jugoslawien, der nach dem deutschen Einmarsch in Jugoslawien am 11. April 1941, an dem sich Ungarn beteiligt hatte, an Ungarn fiel. Die deutsche Besetzung Ungarns erfolgte erst am 19. März 1944.

Im Übrigen, also für die geltend gemachte Beschäftigungszeit vom 19. März bis Ende Mai 1944, ist der zwangsweise Aufenthalt in einem Ghetto nicht glaubhaft gemacht. Denn die Erklärungen der Klägerin bieten keine ausreichende Tatsachengrundlage, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lässt, dass die Klägerin sich in dieser Zeit in einem Ghetto aufhielt. Historische Belege für die Existenz eines Ghettos in Topolya sind weder von der Klägerin beigebracht worden, noch sind solche ersichtlich. Ein solches Ghetto ist weder in der ARC-Ghetto-List (www.deathcamps.org) noch unter www.keom.de verzeichnet. Nach dem Eintrag in der Datenbank www.keom.de bestand in Topolya (Topola) seit 1941 ein Polizeihaftlager unter ungarischer Führung. In den Entschädigungsakten wurde der Aufenthalt der Klägerin in Topolya ausdrücklich als Aufenthalt in einem Gefängnis bzw. Konzentrations- und Internierungslager bezeichnet. Der Aufenthalt in einem Ghetto ist unter diesen Gegebenheiten nicht wahrscheinlich und damit nicht glaubhaft gemacht.

Hat die Klägerin keine in der deutschen Rentenversicherung anrechenbare Beitragszeit zurückgelegt, so kommt auch die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht in Betracht. Nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ist Voraussetzung für eine Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung, dass der Verfolgte bereits als Versicherter gilt, das heißt mindestens einen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Aufl., § 250 Rdnr. 6). Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

gez. Sonnhoff Richterin am Sozialgericht
Rechtskraft
Aus
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