Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 R 641/05
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtung von Beschäftigungszeiten im Ghetto Nagyvárad.
Die am 1933 in Marghita (Rumänien) geborene Klägerin ist Jüdin. Sie wuchs in Oradea (Rumänien) auf. Durch den Zweiten Wiener Schiedsspruch fiel Oradea (ungarisch: Nagyvárad) am 30. August 1940 an Ungarn, das am 19. März 1944 von deutschen Truppen besetzt wurde. 1950 wanderte die Klägerin in die USA aus, wo sie noch heute lebt.
Im Jahre 1958 beantragte sie beim Bezirksamt für Wiedergutmachung in Trier Entschädigungsleistungen. Sie gab an, dass sie bis zum Alter von 10 Jahren die Schule in Oradea besucht habe. Dann sei sie auf Anraten ihres Vaters nach Budapest gegangen und habe dort bei Verwandten gelebt. Mit eidesstattlicher Versicherung vom 26. Juli 1961 erklärte sie, dass sie bei Einmarsch der deutschen Truppen im März 1944 bereits in Budapest gelebt habe. Seit Mai 1944 habe sie in Budapest im Ghetto leben müssen. Dort sei sie am 18. Januar 1945 befreit worden. Die Zeuginnen R und H bestätigten den Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Budapest ab Mitte Mai 1944. Das Bezirksamt gewährte ihr darauf hin eine Entschädigung in Höhe von DM 1.350,00.
Im Verfahren um die von der Klägerin außerdem beantragte Beschädigtenrente erklärte sie am 8. September 1971 gegenüber dem Arzt H , dass sie entweder Ende 1943 oder Anfang 1944 mit einer Schwester nach Budapest geschickt worden sei. Dort sei sie im Januar 1945 von den Russen befreit worden. Eine Rentengewährung lehnte das Bezirksamt ab. Das Landgericht Trier wies die dagegen gerichtete Klage der Klägerin mit Urteil vom 11. Juni 1975 ab. Das OLG Koblenz wies die dagegen gerichtete Berufung mit Urteil vom 24. Februar 1977 zurück. Auf den Inhalt der Urteile wird ergänzend Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 25. November 1974 widerrief das Bezirksamt den der Entschädigung zugrunde liegenden Bescheid und forderte die Entschädigung zurück. Die Klägerin habe mit einem falschen Verfolgungsweg die Behörde irregeführt und sie veranlasst, ihr eine Entschädigung zu zahlen. In der Entschädigungssache des Vaters der Klägerin sei vom Internationalen Suchdienst eine von ihrem Vater unterschriebene Unterlage vom 19. Februar 1949 vorgelegt worden, nach der der Vater sich mit seiner Familie bis 1944 in Oredea und von 1944 bis 1945 in Bukarest befunden habe. Es sei auch völlig unwahrscheinlich, dass sich die Familie nach Budapest begeben habe, da dort die Judenverfolgung, soweit sie Ungarn betrifft, erst den Höhepunkt erreicht hatte. Dieser spätere Vortrag der Klägerin, ihrer Geschwister und ihres Vaters könne alleine dem Zweck gedient haben, eine Entschädigung zu erlangen. Das Landgericht Trier wies die dagegen gerichtete Klage der Klägerin mit Urteil vom 11. Januar 1978 ab. Auf den Inhalt des Urteils wird ergänzend Bezug genommen.
Am 30. Juni 2003 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente. Sie habe sich 1944 im Ghetto Nagyvarad aufgehalten und dort gegen Entgelt gearbeitet.
Die Beklagte zog die Entschädigungsakte der Abt. Wiedergutmachung der Bezirksregierung in Düsseldorf bei. Die Claims Conference teilte ihr mit Schreiben vom 7. August 2003 mit, dass die Klägerin dort nicht registriert sei. Mit Bescheid vom 1. Dezember 2004 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Ein Rentenanspruch bestehe nicht, da die Klägerin keine in der Rentenversicherung anrechenbaren Zeiten zurückgelegt habe. Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto könnten nicht anerkannt werden, weil diese nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden seien. Aufgrund der widersprüchlichen Angaben im Entschädigungsverfahren und im jetzigen Rentenverfahren erscheine die Aufnahme einer entgeltlichen Beschäftigung aus freiem Willensentschluss im Ghetto Nagyvarad nicht glaubhaft.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 16. Dezember 2004 Widerspruch. Im Ghetto habe sie aus eigenem Willensentschluss eine Tätigkeit aufgenommen, um ihr Überleben zu sichern. Dafür habe sie Entgelt in Form von Sachbezügen erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2005 als unbegründet zurück. Im Wesentlichen wiederholte sie die Begründung des Ausgangsbescheides.
Dagegen hat die Klägerin am 1. November 2005 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. 1934 sei sie mit ihrer Familie nach Nagyvárad gezogen. Im April 1944 sei in der Stadt ein Ghetto errichtet worden. Die Wohnung ihrer Familie habe in diesem Ghetto gelegen. Im Ghetto habe sie für die Organisation Isido hittkösseg gearbeitet und dafür Verpflegung und einmal wöchentlich Lebensmittelkarten bekommen.
Die Klägerin beantragt nach Aktenlage sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2005 zu verurteilen, ihr unter Berücksichtigung einer Beschäftigungszeit im Ghetto Nagyvárad von April bis Mai 1944 Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide. Das Urteil des Landgerichtes Trier vom 11. Januar 1978 sei eindeutig. Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) in Nagyvárad seien daher nicht glaubhaft.
In der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 ist die Klägerin trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen. Das Gericht hat die Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg und die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer kann trotz des Ausbleibens der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 durch Urteil entscheiden, weil die Klägerin, deren persönliches Erscheinen nicht angeordnet worden war, in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens entschieden werden kann (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte einen Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, denn die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit fünf Jahre. Darauf werden nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet. Die Klägerin hat jedoch weder Beitrags- noch Ersatzzeiten zur deutschen Rentenversicherung zurückgelegt.
Als Beitragszeit kommt lediglich die Zeit der behaupteten Beschäftigung in Nagyvárad von April bis Mai 1944 in Betracht. Eine Eingliederung der Klägerin in das System der deutschen Rentenversicherung durch Tatbestände des Fremdrentengesetzes (FRG) kann schon ohne weitere Prüfung aufgrund ihres Lebensalters im streitigen Zeitraum verneint werden. Danach steht erst eine nach Vollendung des 17. Lebensjahres verrichtete Beschäftigung einer Beitragszeit in der Bundesrepublik Deutschland gleich (vgl. § 16 FRG). Im Übrigen ist die Klägerin keine Vertriebene im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes und gehört auch sonst nicht zum Personenkreis nach § 1 FRG.
Die behauptete Beschäftigungszeit ist auch keine fiktive Beitragszeit nach § 2 ZRBG. Danach gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge ohne weitere Einschränkung als gezahlt. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Denn bereits der Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Nagyvárad ist nicht glaubhaft gemacht. Die Glaubhaftmachung einer Tatsache bedeutet mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die gute Möglichkeit, dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat wie behauptet wird (LSG Nordrhein-Westfalen 28. Juni 2004 – L 3 RJ 22/03). Die Kammer sieht es in diesem Sinne nicht als glaubhaft an, dass sich die Klägerin im April und Mai 1944 im Ghetto Nagyvárad befunden hat. Auch wenn die Klägerin im jetzigen Klageverfahren ihren Aufenthalt im Ghetto und insbesondere ihre Arbeit für die Organisation Isido hittkösseg detailliert beschreibt, so ergibt sich daraus angesichts der im krassen Widerspruch dazu stehenden bisherigen Angaben der Klägerin weder die gute Möglichkeit eines Aufenthaltes der Klägerin im Ghetto Nagyvárad noch ist dieser überwiegend wahrscheinlich. Denn zeitnah im Entschädigungs-verfahren gab die Klägerin 1961 im Wege einer eidesstattlichen Versicherung an, dass sie bei Einmarsch der deutschen Truppen im März 1944 bereits in Budapest gelebt habe. Gegenüber dem Arzt H erklärte sie am 8. September 1971, dass sie entweder Ende 1943 oder Anfang 1944 mit einer Schwester nach Budapest geschickt worden sei. Dort sei sie im Januar 1945 von den Russen befreit worden. Wiederum dazu im Widerspruch steht die Aussage ihres Vaters vom 19. Februar 1949, die in dessen Entschädigungs-verfahren vorgelegt wurde, dass er mit seiner Familie 1944 nach Bukarest gegangen sei. Das OLG Koblenz hielt diese Version in seinem Urteil vom 24. Februar 1977 für wahrscheinlicher, weil in Bukarest weder ein Judenstern getragen werden musste noch ein Ghetto bestand, während die Lage der Juden in Budapest sehr schlecht war. Die Erklärungen der Klägerin bieten daher insgesamt betrachtet keine ausreichende Tatsachengrundlage, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie sich im streitigen Zeitraum im Ghetto Nagyvárad aufhielt. Vielmehr besteht ebenso eine gute Möglichkeit, dass sie sich in dieser Zeit in Budapest oder Bukarest aufhielt.
Hat die Klägerin keine in der deutschen Rentenversicherung anrechenbare Beitragszeit zurückgelegt, so kommt auch die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht in Betracht. Nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ist Voraussetzung für eine Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung, dass der Verfolgte bereits als Versicherter gilt, das heißt mindestens einen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Aufl., § 250 Rdnr. 6). Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
gez. Sonnhoff Richterin am Sozialgericht
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtung von Beschäftigungszeiten im Ghetto Nagyvárad.
Die am 1933 in Marghita (Rumänien) geborene Klägerin ist Jüdin. Sie wuchs in Oradea (Rumänien) auf. Durch den Zweiten Wiener Schiedsspruch fiel Oradea (ungarisch: Nagyvárad) am 30. August 1940 an Ungarn, das am 19. März 1944 von deutschen Truppen besetzt wurde. 1950 wanderte die Klägerin in die USA aus, wo sie noch heute lebt.
Im Jahre 1958 beantragte sie beim Bezirksamt für Wiedergutmachung in Trier Entschädigungsleistungen. Sie gab an, dass sie bis zum Alter von 10 Jahren die Schule in Oradea besucht habe. Dann sei sie auf Anraten ihres Vaters nach Budapest gegangen und habe dort bei Verwandten gelebt. Mit eidesstattlicher Versicherung vom 26. Juli 1961 erklärte sie, dass sie bei Einmarsch der deutschen Truppen im März 1944 bereits in Budapest gelebt habe. Seit Mai 1944 habe sie in Budapest im Ghetto leben müssen. Dort sei sie am 18. Januar 1945 befreit worden. Die Zeuginnen R und H bestätigten den Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Budapest ab Mitte Mai 1944. Das Bezirksamt gewährte ihr darauf hin eine Entschädigung in Höhe von DM 1.350,00.
Im Verfahren um die von der Klägerin außerdem beantragte Beschädigtenrente erklärte sie am 8. September 1971 gegenüber dem Arzt H , dass sie entweder Ende 1943 oder Anfang 1944 mit einer Schwester nach Budapest geschickt worden sei. Dort sei sie im Januar 1945 von den Russen befreit worden. Eine Rentengewährung lehnte das Bezirksamt ab. Das Landgericht Trier wies die dagegen gerichtete Klage der Klägerin mit Urteil vom 11. Juni 1975 ab. Das OLG Koblenz wies die dagegen gerichtete Berufung mit Urteil vom 24. Februar 1977 zurück. Auf den Inhalt der Urteile wird ergänzend Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 25. November 1974 widerrief das Bezirksamt den der Entschädigung zugrunde liegenden Bescheid und forderte die Entschädigung zurück. Die Klägerin habe mit einem falschen Verfolgungsweg die Behörde irregeführt und sie veranlasst, ihr eine Entschädigung zu zahlen. In der Entschädigungssache des Vaters der Klägerin sei vom Internationalen Suchdienst eine von ihrem Vater unterschriebene Unterlage vom 19. Februar 1949 vorgelegt worden, nach der der Vater sich mit seiner Familie bis 1944 in Oredea und von 1944 bis 1945 in Bukarest befunden habe. Es sei auch völlig unwahrscheinlich, dass sich die Familie nach Budapest begeben habe, da dort die Judenverfolgung, soweit sie Ungarn betrifft, erst den Höhepunkt erreicht hatte. Dieser spätere Vortrag der Klägerin, ihrer Geschwister und ihres Vaters könne alleine dem Zweck gedient haben, eine Entschädigung zu erlangen. Das Landgericht Trier wies die dagegen gerichtete Klage der Klägerin mit Urteil vom 11. Januar 1978 ab. Auf den Inhalt des Urteils wird ergänzend Bezug genommen.
Am 30. Juni 2003 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente. Sie habe sich 1944 im Ghetto Nagyvarad aufgehalten und dort gegen Entgelt gearbeitet.
Die Beklagte zog die Entschädigungsakte der Abt. Wiedergutmachung der Bezirksregierung in Düsseldorf bei. Die Claims Conference teilte ihr mit Schreiben vom 7. August 2003 mit, dass die Klägerin dort nicht registriert sei. Mit Bescheid vom 1. Dezember 2004 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Ein Rentenanspruch bestehe nicht, da die Klägerin keine in der Rentenversicherung anrechenbaren Zeiten zurückgelegt habe. Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto könnten nicht anerkannt werden, weil diese nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden seien. Aufgrund der widersprüchlichen Angaben im Entschädigungsverfahren und im jetzigen Rentenverfahren erscheine die Aufnahme einer entgeltlichen Beschäftigung aus freiem Willensentschluss im Ghetto Nagyvarad nicht glaubhaft.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 16. Dezember 2004 Widerspruch. Im Ghetto habe sie aus eigenem Willensentschluss eine Tätigkeit aufgenommen, um ihr Überleben zu sichern. Dafür habe sie Entgelt in Form von Sachbezügen erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 2005 als unbegründet zurück. Im Wesentlichen wiederholte sie die Begründung des Ausgangsbescheides.
Dagegen hat die Klägerin am 1. November 2005 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. 1934 sei sie mit ihrer Familie nach Nagyvárad gezogen. Im April 1944 sei in der Stadt ein Ghetto errichtet worden. Die Wohnung ihrer Familie habe in diesem Ghetto gelegen. Im Ghetto habe sie für die Organisation Isido hittkösseg gearbeitet und dafür Verpflegung und einmal wöchentlich Lebensmittelkarten bekommen.
Die Klägerin beantragt nach Aktenlage sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2005 zu verurteilen, ihr unter Berücksichtigung einer Beschäftigungszeit im Ghetto Nagyvárad von April bis Mai 1944 Regelaltersrente ab 1. Juli 1997 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide. Das Urteil des Landgerichtes Trier vom 11. Januar 1978 sei eindeutig. Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG) in Nagyvárad seien daher nicht glaubhaft.
In der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 ist die Klägerin trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen. Das Gericht hat die Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg und die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer kann trotz des Ausbleibens der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2007 durch Urteil entscheiden, weil die Klägerin, deren persönliches Erscheinen nicht angeordnet worden war, in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle ihres Ausbleibens entschieden werden kann (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte einen Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, denn die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit fünf Jahre. Darauf werden nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet. Die Klägerin hat jedoch weder Beitrags- noch Ersatzzeiten zur deutschen Rentenversicherung zurückgelegt.
Als Beitragszeit kommt lediglich die Zeit der behaupteten Beschäftigung in Nagyvárad von April bis Mai 1944 in Betracht. Eine Eingliederung der Klägerin in das System der deutschen Rentenversicherung durch Tatbestände des Fremdrentengesetzes (FRG) kann schon ohne weitere Prüfung aufgrund ihres Lebensalters im streitigen Zeitraum verneint werden. Danach steht erst eine nach Vollendung des 17. Lebensjahres verrichtete Beschäftigung einer Beitragszeit in der Bundesrepublik Deutschland gleich (vgl. § 16 FRG). Im Übrigen ist die Klägerin keine Vertriebene im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes und gehört auch sonst nicht zum Personenkreis nach § 1 FRG.
Die behauptete Beschäftigungszeit ist auch keine fiktive Beitragszeit nach § 2 ZRBG. Danach gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge ohne weitere Einschränkung als gezahlt. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Denn bereits der Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Nagyvárad ist nicht glaubhaft gemacht. Die Glaubhaftmachung einer Tatsache bedeutet mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die gute Möglichkeit, dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat wie behauptet wird (LSG Nordrhein-Westfalen 28. Juni 2004 – L 3 RJ 22/03). Die Kammer sieht es in diesem Sinne nicht als glaubhaft an, dass sich die Klägerin im April und Mai 1944 im Ghetto Nagyvárad befunden hat. Auch wenn die Klägerin im jetzigen Klageverfahren ihren Aufenthalt im Ghetto und insbesondere ihre Arbeit für die Organisation Isido hittkösseg detailliert beschreibt, so ergibt sich daraus angesichts der im krassen Widerspruch dazu stehenden bisherigen Angaben der Klägerin weder die gute Möglichkeit eines Aufenthaltes der Klägerin im Ghetto Nagyvárad noch ist dieser überwiegend wahrscheinlich. Denn zeitnah im Entschädigungs-verfahren gab die Klägerin 1961 im Wege einer eidesstattlichen Versicherung an, dass sie bei Einmarsch der deutschen Truppen im März 1944 bereits in Budapest gelebt habe. Gegenüber dem Arzt H erklärte sie am 8. September 1971, dass sie entweder Ende 1943 oder Anfang 1944 mit einer Schwester nach Budapest geschickt worden sei. Dort sei sie im Januar 1945 von den Russen befreit worden. Wiederum dazu im Widerspruch steht die Aussage ihres Vaters vom 19. Februar 1949, die in dessen Entschädigungs-verfahren vorgelegt wurde, dass er mit seiner Familie 1944 nach Bukarest gegangen sei. Das OLG Koblenz hielt diese Version in seinem Urteil vom 24. Februar 1977 für wahrscheinlicher, weil in Bukarest weder ein Judenstern getragen werden musste noch ein Ghetto bestand, während die Lage der Juden in Budapest sehr schlecht war. Die Erklärungen der Klägerin bieten daher insgesamt betrachtet keine ausreichende Tatsachengrundlage, die es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie sich im streitigen Zeitraum im Ghetto Nagyvárad aufhielt. Vielmehr besteht ebenso eine gute Möglichkeit, dass sie sich in dieser Zeit in Budapest oder Bukarest aufhielt.
Hat die Klägerin keine in der deutschen Rentenversicherung anrechenbare Beitragszeit zurückgelegt, so kommt auch die Anerkennung einer Ersatzzeit nicht in Betracht. Nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI ist Voraussetzung für eine Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung, dass der Verfolgte bereits als Versicherter gilt, das heißt mindestens einen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat (vgl. Kreikebohm, Kommentar zum SGB VI, 2. Aufl., § 250 Rdnr. 6). Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
gez. Sonnhoff Richterin am Sozialgericht
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