S 62 AS 2227/06

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
62
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 62 AS 2227/06
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 1.11.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2006 wird aufgehoben. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Absenkung seiner Leistungen um EUR 104,00 monatlich während der Zeit vom 1.12.2006 bis zum 28.2.2007.

Der Kläger bezieht laufend Arbeitslosengeld II nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) von der Beklagten. Grundlage der Leistungsgewährung im streitigen Zeitraum ist der Bewilligungsbescheid vom 24.10.2006, der einen Leistungsbetrag von EUR 658,79 monatlich aufweist.

Der Kläger nahm zum 20.9.2006 eine Beschäftigung als Aufsicht mit Reinigungstätigkeiten bei der Fa. C. P. auf. Bereits nach wenigen Tagen kündigte er die Tätigkeit fristlos.

Die Beklagte erließ nach Anhörung des Klägers den Bescheid vom 1.11.2006, mit dem sie das dem Kläger zustehende Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1.12.2006 bis zum 28.2.2007 um EUR 104,00 monatlich absenkte und den ursprünglichen Bewilligungsbescheid entsprechend abänderte. Sie stützte sich dabei auf § 31 Abs. 1 Ziff. 1 lit. c SGB II und führte zur Begründung aus, der Kläger habe trotz Belehrung über die Rechtsfolgen seine Arbeit aufgegeben, obwohl ihm eine Fortführung der Tätigkeit zumutbar gewesen sei.

Der Kläger hat hiergegen am 6.11.2006 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, er habe sich die Tätigkeit selbst gesucht; sie sei ihm nicht von der Beklagten vermittelt worden. Er sei nicht darüber informiert worden, dass er die Stelle nicht habe kündigen dürfen. Zudem schildert er verschiedene Schwierigkeiten bei der Arbeitsaufnahme, insbesondere habe er vom Arbeitgeber keine Schutzkleidung erhalten, so dass er die Baustelle zweimal nicht habe betreten dürfen; er habe sich "total ausgenutzt und verkohlt" gefühlt und daraufhin gekündigt.

Der Kläger hat zunächst sinngemäß beantragt,

den Bescheid vom 1.11.2006 aufzuheben.

Zugleich hat der Kläger unter dem Aktenzeichen S 62 AS 2226/06 ein Eilverfahren anhängig gemacht.

Mit Schreiben vom 9.11.2006 hat der Kläger Widerspruch gegen den angegriffenen Absenkungsbescheid eingelegt. Die Beklagte hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2006 zurück gewiesen. Sie stützt sich nun auf § 31 Abs. 4 Ziff. 3 lit. b SGB II und hat ausgeführt, der Kläger erfülle mit seiner Eigenkündigung einen Sperrzeittatbestand.

Der Kläger beantragt nunmehr,

den Bescheid vom 1.11.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Mit Beschluss vom 7.12.2006, auf den vollumfänglich Bezug genommen wird, hat das Gericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Absenkungsbescheid vom 1.11.2006 angeordnet. Nach Erhalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2006 hat das Gericht die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die einstweilige Anordnung nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens ins Leere gehen dürfte. Daraufhin hat die Beklagte ihre Beschwerde gegen den Eil-Beschluss vom 7.12.2006 mit Blick auf das noch anhängige Hauptsacheverfahren zurück genommen.

Die mündliche Verhandlung hat am 16.3.2007 stattgefunden. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Die Prozessakte in diesem Verfahren und im Verfahren S 62 AS 2226/06 ER sowie die beigezogene Leistungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe:

1. Die als Anfechtungsklage zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 1.11.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2006 ist rechtswidrig, so dass der Kläger durch ihn im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert ist. Der Bescheid ist daher aufzuheben.

a. Die Beklagte kann ihre Entscheidung nicht auf § 31 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 lit. c SGB II stützen. Nach dieser Vorschrift wird das Arbeitslosengeld II u.a. dann um 30% der Regelleistung abgesenkt, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, eine zumutbare Arbeit fortzuführen. Die erforderliche Rechtsfolgenbelehrung ist jedoch nicht erfolgt. Es ist weder in der Leistungsakte dokumentiert noch sonst ersichtlich, dass dem Kläger vor Abbruch seiner Tätigkeit hinreichend deutlich vor Augen geführt wurde, welche finanzielle Folge dies haben könne. Die zuständige Sachbearbeiterin der Beklagten hat im Gegenteil in einer Stellungnahme geschildert, dem Kläger sei nach seiner Kündigung mitgeteilt worden, dass nun eine Sanktion verhängt werden müsse, daraufhin habe dieser "geknickt [erzählt], dass er das nicht gewusst habe" (Stellungnahme vom 9.11.2006, unpaginiert in der Leistungsakte). Dieser Befund deckt sich mit der generellen Einschätzung, dass Hilfeempfänger bei einer selbst gesuchten Beschäftigung nur in wenigen Fällen über die Rechtsfolgen eines Arbeitsabbruchs belehrt worden sein dürften (so Sonnhoff, in: jurisPK, § 31 Rn. 72).

b. Ebenso wenig kann die Beklagte sich auf § 31 Abs. 4 Ziff. 3. lit. b SGB II stützen. Nach dieser Vorschrift wird das Arbeitslosengeld II um 30% der Regelleistung abgesenkt bei einem Hilfebedürftigen, der die im Arbeitsförderungsrecht genannten Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit erfüllt, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen. Damit wird Bezug genommen auf die Sperrzeittatbestände des § 144 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III). Hier kommt allein der Sperrzeittatbestand der Arbeitsaufgabe in Betracht, § 144 Abs. 1 S. 2 Ziff. 1 SGB III; der keine Rechtsfolgenbelehrung erfordert.

§ 31 Abs. 4 Ziff. 3. lit. b SGB II erfasst jedoch nur Konstellationen, in denen das vorwerfbare Verhalten – hier: die Kündigung – vor dem Bezug von Arbeitslosengeld II liegt. Wird hingegen eine Beschäftigung während des Arbeitslosengeld II-Bezugs aufgegeben, ist § 31 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 lit. c SGB II die speziellere und damit abschließende Vorschrift (so ausdrücklich Berlit, in: LPK-SGB II, 2004, § 31 Rn. 105; im Ergebnis wohl ebenso Rixen, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 31 Rn. 30f.; Volgolio, a.a.O. § 31 Rn. 66 ff.; a. A. Dauber, in: Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, Stand: 1/07, § 31 Rn. 16; Sonnhoff, a.a.O., § 31 Rn. 72; wohl auch SG Hamburg, Beschl. v. 27.2.2006 – S 55 AS 147/06 ER; Beschl. v. 11.1.2006 – S 53 AS 24/06 ER; offen gelassen SG Hamburg, Beschl. v. 8.9.2006 – S 56 AS 1727/06 ER). Das Gericht hat hierzu im Eilbeschluss vom 7.12.2006 ausgeführt:

§ 31 Abs. 4 Ziff. 3 lit. b SGB II nennt zwar ausdrücklich keinen Zeitpunkt, zu dem das sanktionsbewehrte Verhalten erfolgt sein muss. Der Zusammenhang mit § 31 Abs. 4 Ziff. 3 lit. a SGB II zeigt aber, dass Obliegenheitsverletzungen während des (tatsächlichen oder dem Grunde nach möglichen) Bezugs von Arbeitslosengeld aus der Arbeitslosenversicherung gemeint sind: Während Ziff. 3 lit. a die Konstellation erfasst, dass eine Sperrzeit nach dem SGB III verhängt worden ist, gilt Ziff. 3 lit. b für die Fälle, in denen der SGB III-Träger den Eintritt einer Sperrzeit nicht förmlich festgestellt hat, etwa weil der Betroffene schon mangels erfüllter Anwartschaftszeit kein Arbeitslosengeld beanspruchen kann. Hier hat der SGB II-Träger selbst zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für eine Sperrzeitverhängung vorliegen (BT-Drs. 15/1516, S. 116). Sinn und Zweck der Vorschrift ist sicherzustellen, dass ein nach dem SGB III Nichtberechtigter seinen Bedarf nicht über das SGB II deckt. Auf diese Weise wird die Wirkung des Sperrzeitrechts vor Umgehungen geschützt (Rixen, a.a.O., § 31 Rn. 30). Erfasst werden mithin nur Konstellationen, in denen eine Sperrzeit tatsächlich verhängt wurde (lit. a) oder hätte verhängt werden können (lit. b), die in den Bezugszeitraum von Arbeitslosengeld II nachwirkt (Valgolio, a.a.O., § 31 Rn. 66). Pflichtverletzungen während des Arbeitslosengeld II-Bezugs werden hingegen nur über § 31 Abs. 1 SGB II sanktioniert.

Die hier streitgegenständliche Kündigung durch den Antragsteller erfolgte während des Bezugs von Arbeitslosengeld II. Insbesondere war er durch die kurzzeitige Aufnahme der Beschäftigung nicht aus dem Arbeitslosengeld II-Bezug ausgeschieden, mit der Folge, dass § 31 Abs. 4 Ziff. 3 SGB II anwendbar wäre (zu einer solchen Konstellation SG Hamburg, Beschl. v. 8.9.2006 – S 56 AS 1727/06 ER). Das vom Antragsteller aus der nur wenige Tage dauernden Teilzeit-Beschäftigung erzielte Entgelt war zu gering, um seinen Bedarf vollständig zu decken.

Die Kammer hält an dieser Auffassung fest. § 31 Abs. 4 Ziff. 3 lit. b SGB II findet auf das Verhalten des Klägers somit keine Anwendung. c. Weitere Ermächtigungsgrundlagen kommen nicht in Betracht. Das Gericht lässt daher offen, ob es dem Kläger tatsächlich unzumutbar war, das Arbeitsverhältnis wegen der von ihm geschilderten Abstimmungsschwierigkeiten mit dem Arbeitgeber fortzusetzen, oder ob er nicht hätte zunächst ein (weiteres) Gespräch mit seinen Vorgesetzten suchen müssen und unter Anbietung seiner Arbeitskraft abwarten müssen, bis ihm ausreichende Schutzkleidung, insbesondere ein Helm, zur Verfügung gestellt worden wäre.

Der Vortrag des Klägers gibt lediglich zu folgender Anmerkung Anlass: Der Erfolg seiner Klage hängt nicht damit zusammen, dass er sich die Beschäftigung selbst gesucht hat. Sanktioniert wird das Auslassen einer konkreten Beschäftigungsmöglichkeit. Ob der Betroffene sich die Arbeit in eigener Initiative gesucht oder sie von der Arbeitsagentur angeboten bekommen hat, bleibt ohne Unterschied (vgl. nur Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 8/2006, K 31 Rn. 20 f.).

d. Der angegriffene Absenkungsbescheid ist zudem rechtswidrig, soweit er den Absenkungsbetrag auf EUR 104,00 statt auf EUR 103,50 monatlich festsetzt. Für eine solche Aufrundung, die anscheinend automatisch durch die von der Beklagten verwendete Software erfolgt, gibt es keine gesetzliche Grundlage.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf dem Rechtsgedanken des § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

3. Die Berufung bedarf nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 SGG der Zulassung, weil der Wert des Beschwerdegegenstands EUR 500,00 nicht übersteigt. Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache, § 144 Abs. 2 Ziff. 1 SGG, zugelassen. Die Frage, ob § 31 Abs. 4 Ziff. 3 lit. b SGB II Konstellationen erfasst, in denen eine Beschäftigung während des Arbeitslosengeld II-Bezugs aufgegeben wird, ist bisher nicht geklärt. Die Vorschrift wurde im Zuge der Reform des Grundsicherungsrechts zum 1.1.2005 neu geschaffen, die Literaturmeinungen und die erstinstanzlichen Entscheidungen sind uneinheitlich, eine obergerichtliche Rechtsprechung hat sich, soweit ersichtlich, noch nicht herausbilden können. Eine Klärung der Frage ist im allgemeinen Interesse, da vergleichbare Konstellationen häufig vorkommen dürften und der betroffene Personenkreis, insbesondere die SGB II-Träger, an einer einheitlichen Auslegung der Vorschrift interessiert sein dürften.
Rechtskraft
Aus
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