L 18 AS 1357/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 23 AS 490/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1357/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 25. Januar 2007 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) II für die Zeit ab 2. Februar 2005.

Die 1969 geborene Klägerin lebt gemeinsam mit ihrem 1991 geborenen Sohn R auf dem an der H, W, gelegenen Hausgrundstück, das im Eigentum des dort - wie die Klägerin - seit 1990 wohnenden L H (im Folgenden: H.), des Vaters von R, steht.

Am 2. Februar 2005 stellte die Klägerin einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Sie gab an, ledig und allein erziehende Mutter zu sein. Sie legte einen zwischen H. (als Vermieter) und ihr als Mieterin geschlossenen Mietvertrag vom 31. Januar 2005 über ein ab 1. Januar 2005 bestehendes Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit über die aus vier Zimmern nebst Küche, Bad, WC, Flur und Diele bestehende und von drei Personen bewohnte Wohnung in der H, W, vor (Nettokaltmiete = 200,- EUR zuzüglich Betriebs- und Heizungskostenpauschale i. H. v. 75,- EUR monatlich). Mit einer schriftlichen Erklärung vom 10. März 2005 teilte H. mit, dass die Klägerin vom 1. Januar 1990 bis 31. August 2004 mietfrei in dem Haus gewohnt habe und sich an allen anfallenden Kosten zu 50 % beteiligt habe. Seit 1. September 2004 seien von ihr monatliche Mietzahlungen i. H. v. 275,- EUR zu entrichten; der Sohn R wohne mietfrei. Eine von dem Beklagten hinsichtlich der Wohnverhältnisse und des Vorliegens einer eheähnlichen Gemeinschaft beabsichtigte Außenprüfung vor Ort lehnte die Klägerin am 11. Mai 2005 ab. Auf den von der Klägerin und von H. am 14. April 2005 unterzeichneten Vordruckbogen des Beklagten zur "Überprüfung des Vorliegens einer eheähnlichen Gemeinschaft" wird im Übrigen Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 11. Mai 2005 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mangels Bedürftigkeit der Klägerin ab. Im Widerspruchsverfahren trug diese ergänzend vor, dass H. keinerlei Zahlungen an sie leiste, sondern vielmehr Mietzahlungen fordere. Es bestehe keine gegenseitige Einstandspflicht. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. August 2005). Es sei vorliegend davon auszugehen, dass zwischen der Klägerin und H. eine eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe. Bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Klägerin seien daher Einkommen und Vermögen des H. zu berücksichtigen. Da hierzu Angaben nicht gemacht worden seien, sei die Bedürftigkeit nicht nachgewiesen. Der Sohn der Klägerin könne überdies seinen Bedarf aus eigenem Vermögen decken und zähle daher nicht zur Bedarfsgemeinschaft.

Das Sozialgericht (SG) Cottbus hat die auf Gewährung von Alg II für die Zeit ab 2. Februar 2005 i. H. v. monatlich 606,- EUR (Regelleistungen = 331,00 EUR, zuzüglich Kosten für Unterkunft und Heizung = 275,00 EUR) gerichtete Klage mit Urteil vom 25. Januar 2007 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von Alg II für die Zeit ab 2. Februar 2005 gemäß § 19 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Der Beklagte sei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) i. V. m. § 66 Abs. 1 SGB I zur "Leistungsverweigerung" bis zur Nachholung der für die Feststellung der Hilfebedürftigkeit notwendigen Mitwirkung der Klägerin berechtigt. Da nach den vorliegenden Indizien – Zusammenleben der Klägerin und des H. zumindest seit 1990, Versorgung des gemeinsamen Kindes R, gemeinschaftliche Nutzung fast aller Räume in der Wohnung – davon auszugehen sei, dass die Klägerin mit H. in einer eheähnlichen Gemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II gelebt habe und lebe, seien bei der Feststellung der Hilfebedürftigkeit der Klägerin auch Einkommen und Vermögen des H. zu berücksichtigen. Insoweit habe die Klägerin keine Angaben gemacht. Das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit sei daher nicht feststellbar. Der Sohn R zähle nicht zur Bedarfsgemeinschaft, weil er aufgrund seines Geldvermögens in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt ergänzend vor: Sie und H. bildeten keine gegenseitige Einstandsgemeinschaft, sondern eher eine Zweckgemeinschaft. Sie erhalte keinerlei Unterstützung von H. und sei daher nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 25. Januar 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 11. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2005 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab 2. Februar 2005 Arbeitslosengeld II i. H. v. monatlich 606,00 EUR zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung des SG für zutreffend.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die zum Verfahren eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Alg II–Akte des Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des SG-Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet. Das erstinstanzliche Urteil leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln. Das SG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht ausreichend geklärt und damit gegen die ihm obliegende Amtsermittlungspflicht verstoßen (vgl. §§ 103, 106 SGG).

Gegenstand des Verfahrens ist eine statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (nur) der Klägerin, nicht aber des mit ihr in einer Haushaltsgemeinschaft lebenden Sohnes R. Zwar sind für eine Übergangszeit (bis 30. Juni 2007) Klageanträge (maßgeblich: Antragszeitpunkt) wegen der besonderen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten und der daraus resultierenden Zweifel in Erweiterung der üblichen Auslegungskriterien danach zu beurteilen, in welcher Weise die an einer Bedarfsgemeinschaft beteiligten Personen die Klage hätten erheben müssen, um die für die Bedarfsgemeinschaft insgesamt gewünschten höheren Leistungen zu erhalten, es sei denn, einer solchen Auslegung wird durch die betroffenen Personen widersprochen bzw. eine Bedarfsgemeinschaft bestritten oder einzelne Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft sind offensichtlich vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 8/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 1). Vorliegend hat die erstinstanzlich rechtskundig vertretene Klägerin aber (nur) eigene Leistungsansprüche geltend gemacht, und zwar die Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II i. H. v. 331,- EUR monatlich, sowie Leistungen für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. H. v. 275,- EUR monatlich. Leistungen für den Sohn R, für den – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – Kosten für Unterkunft und Heizung ohnehin nicht anfallen, sind demgegenüber nicht geltend gemacht worden. Es kann daher dahinstehen, ob sich der Sohn der Klägerin Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts für die Zeit ab 2. Februar 2005 aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen konnte und beschaffen kann (vgl. § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) und deshalb bereits aus diesem Grunde nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehören konnte und kann, was indes im Hinblick auf sein Geldvermögen zu bejahen sein dürfte.

Das SG hat hinsichtlich der streitigen Leistungsansprüche der Klägerin für die Zeit ab 2. Februar 2005 den entscheidungserheblichen Sachverhalt, insbesondere die tatbestandliche Voraussetzung, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Klägerin hilfebedürftig im Sinne von § 9 SGB II ist, nicht hinreichend aufgeklärt. Es durfte von dieser Klärung nicht schon deshalb absehen, weil der Beklagte eine Versagungsentscheidung nach § 66 SGB I getroffen hätte. Denn ungeachtet dessen, dass eine derartige Versagungsentscheidung nur dann zulässig ist, wenn der Leistungsberechtigte zuvor auf die Folgen fehlender Mitwirkung schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist (vgl. dazu im Einzelnen: BSG, Urteil vom 26. August 1994 – 13 RJ 17/94 = SozR 3 – 1500 § 88 Nr. 2), hat der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 11. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2005 eine solche Versagungsentscheidung nach § 66 SGB I – worauf das erkennende Gericht bereits mit Beschluss vom 7. August 2006 ( - L 18 B 613/06 AS PKH -) hingewiesen hatte - auch gar nicht getroffen. Er hat vielmehr den Leistungsantrag der Klägerin in der Sache mangels Hilfebedürftigkeit (vgl. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II) abgelehnt und damit inhaltlich eine Verwaltungsentscheidung zu den Anspruchsvoraussetzungen der von der Klägerin geltend gemachten Leistungen verlautbart. Das SG hätte daher u.a. Feststellungen dazu treffen müssen, ob und gegebenenfalls im welchem Umfang die Klägerin in dem streitigen Zeitraum hilfebedürftig war und ist, und zwar für die Zeit vom 2. Februar 2005 bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Denn wenn sich die Klägerin – wie hier – gegen einen Bescheid wehrt, mit dem die Leistung ohne zeitliche Begrenzung abgelehnt worden ist, ist Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens – je nach Klageantrag – die gesamte bis zur Entscheidung verstrichene Zeit (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 14/06 R = SozR 4 – 4200 § 20 Nr. 1).

Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere nicht von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Das SG hat insoweit nicht ausreichend geklärt, ob zwischen der Klägerin und H. eine Bedarfsgemeinschaft besteht. Es ist lediglich aufgrund der vorliegenden Indizien zu der Beurteilung gelangt, dass die Klägerin und H. in dem streitigen Zeitraum eine Bedarfsgemeinschaft bildeten und bilden und daher bei der Feststellung der Hilfebedürftigkeit der Klägerin auch Einkommen und Vermögen des H. zu berücksichtigen sei. Unabhängig davon, dass das SG auch bei der von ihm angenommenen Bedarfsgemeinschaft bei der Beurteilung des erhobenen Anspruchs jeweils nachvollziehbar hätte entscheiden müssen, welcher Bedarf für die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft in den jeweiligen Bewilligungsmonaten zugrunde zu legen ist und welches zu berücksichtigende Einkommen bzw. Vermögen des H. jeweils in welcher Höhe zu berücksichtigen ist, hat es den entscheidungserheblichen Sachverhalt bereits im Hinblick auf das von ihm festgestellte Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft zwischen der Klägerin und H. nicht ausreichend ermittelt.

Es reicht hierfür nicht aus, lediglich im Hinblick auf das Vorliegen der gesetzlichen Vermutungstatbestände in § 7 Abs. 3a Nr. 1 und Nr. 2 SGB II in der mit Wirkung vom 1. August 2006 durch das Gesetz vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1706) eingeführten Fassung das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft und damit eine Bedarfsgemeinschaft zu bejahen. Denn der Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 Satz 1 SGG bleibt von der gesetzlichen Vermutungsregelung des § 7 Abs. 3a SGB II unberührt. Das SG hätte sich daher im vorliegenden Einzelfall sämtlicher ihm zur Verfügung stehender Ermittlungsmöglichkeiten bedienen müssen, um diese – entscheidungserhebliche – Rechtsfrage zu klären. Es hätte sich hierzu insbesondere zur Vernehmung des H. als Zeugen gedrängt sehen müssen (vgl. schon der Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 7. August 2006 – L 18 B 613/06 AS PKH –). Das SG wäre dabei gehalten gewesen, den H. als Zeugen zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen in dem in Rede stehenden Zeitraum zu hören, zumal die Klägerin selbst gegenüber dem Beklagten nicht verpflichtet war, hierüber Auskünfte zu erteilen. Sind nämlich Einkommen oder Vermögen eines Partners zu berücksichtigen, hat dieser Partner dem Beklagten auf Verlangen hierüber Auskunft zu erteilen, soweit es zur Durchführung der Aufgaben nach dem SGB II erforderlich ist (vgl. § 60 Abs. 4 Satz 1 SGB II). Die lediglich summarische Prüfung im Prozesskostenhilfe-Bewilligungsverfahren enthebt zudem das Prozessgericht nicht seiner Verpflichtung, im Hauptsacheverfahren die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlichen Tatsachen umfassend und vollständig zu ermitteln. Die Amtsermittlungspflicht des § 103 Satz 1 SGG ist dann verletzt, wenn sich das Tatsachengericht ausgehend von seiner Rechtsauffassung hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen (vgl. BSG SozR 4 – 1500 § 160 a Nr. 3 m. w. Nachw.). Dies war hier – wie dargelegt – der Fall.

Die aufgeführten Mängel des erstinstanzlichen Urteils stellen wesentliche Verfahrensmängel dar. Denn es ist davon auszugehen, dass Mängel bei der Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts regelmäßig auch Mängel bei den Erwägungen auf dem Wege zum Urteilsspruch gewesen sind. Die Sache war daher nach pflichtgemäßem Ermessen nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG an das SG zurückzuverweisen. Dabei ist insbesondere das Interesse der Klägerin an einer insoweit umfassenden Sachverhaltsaufklärung und einer vollständigen und auch hinreichend begründeten Prüfung der von ihr geltend gemachten Klageansprüche bereits durch das erstinstanzliche Gericht berücksichtigt worden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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