S 21 R 66/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 21 R 66/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 14 R 293/07
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Rente des Klägers wegen Erwerbsminderung (EWM) mit dem Zugangsfaktor 1,00 zu berechnen ist.

Der 1956 geborene Kläger bezieht von der Beklagten seit dem 01.03.2004 Rente wegen voller EWM auf Zeit bis 31.08.2008 in Höhe von 1.132,54 EUR. Die erstmalige Rentenzubilligung erfolgte mit Bescheid vom 07.04.2004. Im Versicherungsverlauf erkannte die Beklagte 154 Monate an Zurechnungszeit vom 19.08.2003 bis 11.06.2016 an und verminderte den Zugangsfaktor 1,00 für die Rente wegen EWM um 0,003 für jeden Kalendermonat nach dem 30.06.2016 bis zum Ablauf der Vollendung des 63. Lebensjahres. Sie errechnete damit für 36 Kalendermonate eine Verminderung von 0,108, so dass sie die sich aus dem Versicherungsverlauf ergebenden persönlichen Entgeltpunkte (EP) von 53,3663 mit 0,892 multiplizierte und der Rentenberechnung 47,6027 EP zugrundelegte. Ein - die EP und Zurechnungszeit betreffender - inhaltsgleicher Bescheid erging unter dem 22.09.2006 bei Verlängerung der Zeitrente bis 31.08.2008.

Mit Schreiben vom 09.06.2006 beantragte der Kläger die Übreprüfung der Rentenberechnung unter Hinweis auf ein Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R. Mit Schreiben vom 29.09.2006 teilte die Beklagte dem Kläger mit, das Urteil des 4. Senats des BSG werde noch ausgewertet. Unter dem 15.12.2006 teilte sie mit, dem Urteil werde nicht gefolgt, da dieses in Widerspruch zum Gesetzeswortlaut und den Intentionen des Gesetzgebers stehe. Es würden Musterprozesse geführt. Die Beklagte bat um Mitteilung, ob der Überprüfungsantrag ruhen könne, was der Kläger verneinte, da das BSG-Urteil eindeutig sei.

Mit Bescheid vom 12.01.2007 lehnte die Beklagte die Rücknahme ihres bestandskräftigen Bescheides vom 07.04.2004 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Entscheidung des 4. Senats des BSG entspreche nicht der geltenden Rechtslage, zumal zeitgleich mit der Verminderung des Zugangsfaktors durch § 77 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) eine Anhebung der Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI erfolgt sei, um die Härten der Rentenminderung zu mildern. Besonders deutlich werde der Zusammenhang durch die §§ 253 a, 264 c SGB VI in Verbindung mit der Anlage 23 zum SGB VI, da sich nur in dem Umfang, in dem eine stufenweise zu berücksichtigende zusätzliche Anrechnungszeit zur Anwendung komme, auch der Zugangsfaktor vermindere. Den bei ihr am 16.01.2007 eingegangenen Widerspruch, der damit begründet wurde, das BSG halte die Rentenminderung für verfassungswidrig, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.02.2007 aus den Gründen des Ausgangsbescheides zurück.

Am 05.03.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 12.01.2007 und des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2007 zu verpflichten, ihren bestandskräftigen Rentenbescheid vom 07.04.2004 teilweise zurückzunehmen und sie zu verurteilen, seine Rente wegen voller EWM ab 01.03.2004 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,00 zu berechnen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat den Beteiligten neutralisierte Ablichungen einer Entscheidung des Sozialgerichts (SG) Aachen vom 09.02.2007 - S 8 R 96/06 -, des SG Lübeck vom 26.04.2007 - S 14 R 191/07-, der 21. Kammer des SG Duisburg vom 14.05.2007 - S 21 (3) R 96/06 und vom 06.08.2007 - S 21 (29) R 90/07 - zugeleitet.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, betreffend den Kläger, Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage, mit der der Kläger die Neuberechnung seiner bestandskräftig festgestellten Rente wegen EWM auf Zeit unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,00 begehrt, ist als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zulässig nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG.

Die zulässige Klage ist aber nicht begründet, da die angefochtenen Bescheide nicht rechtswidrig sind. Folglich wird der Kläger durch sie auch nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Denn die Beklagte hat der Rentenberechnung zu Recht einen verminderten Zugangsfaktor zugrundegelegt.

Nach § 44 Abs. 1 X. Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, sofern deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Die Neufassung des § 100 Abs. 4 SGB VI, wonach ein unanfechtbarer rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen ist, sofern eine ständige Rechtsprechung das Recht anders auslegt als der Rentenversicherungsträger, ist bereits vom Wortlaut her nicht einschlägig. Denn bisher liegt nur ein BSG-Urteil vor, nämlich das des 4. Senats, während bei den übrigen BSG-Senaten noch Revisionen anhängig sind, so dass von einer "ständigen Rechtsprechung" nicht die Rede sein kann.

Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X liegen hier nicht vor. Denn die Beklagte hat zu Recht die Rente der Klägerin wegen teilweiser EWM mit einem verminderten Zugangsfaktor berechnet.

Nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VI. Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist der Zugangsfaktor bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme 0,003 niedriger als 1,00. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend, § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Die Rentenbezugszeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres gilt insoweit nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme, § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Vorschriften, die das Gericht in Übereinstimmung mit Ruland

- Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 2007, S. 2086 ff -

für eindeutig hält, hat die Beklagte zu Recht den Zugangsfaktor bei der Berechnung der EWM-Rente des Klägers um 0,108 auf 0,892 vermindert und diesen Zugangsfaktor mit den persönlichen EP des Klägers von 53,3663 multipliziert.

- So auch: SG Aachen, Urteil vom 09.02.2007, Az: S 8 R 96/06; Ruland a.a.O -

Die entgegenstehende Auffassung des 4. Senats des BSG,

Vgl. Urteil vom 16.05.2006 - Az: B 4 RA 22/05 R -

und des SG Lübeck

Vgl. Urteil vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 -

wonach aus § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI folge, dass Bezugszeiten einer Rente wegen EWM vor Vollendung des 60. Lebensjahres keine vorzeitigen Bezugszeiten seien, weshalb bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor 1,00 für die Rente gelte, hält das Gericht nicht für überzeugend. Denn diese Auffassung widerspricht zum einen dem Willen des Gesetzgebers, der die Rentenhöhe der Rentenbezieher aller Altersgrupppen, wenngleich in unterschiedlich starker Weise, herabsetzen wollte, soweit es nicht um die Regelaltersrente ab Vollendung des 65. Lebensjahres geht.

Vgl. Ruland, a.a.O. -

Darüber hinaus vermag das Gericht keinen sachlich einleuchtenden Grund dafür zu erkennen, dass Bezieher einer Rente wegen EWM, die nicht notwendig mit Vollendung des 60. Lebensjahres überhaupt einen Altersgeldanspruch haben, in einer Phase höheren Lebensalters eine Rentenminderung hinnehmen müssten. Zum anderen ist die Verlängerung der Zurechnungszeit gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI in der seit dem 01.01.2001 gültigen Fassung (n.F.) ausdrücklich deswegen erfolgt, um die Auswirkungen der Verminderung des Zugangsfaktors für eine Rente wegen EWM bei jüngeren Versicherten abzumildern, wie das Sozialgericht Aachen

vgl. Urteil vom 09.02.2007 - Az: S 8 R 96/06 und Ruland, a.a.O. -

zutreffend ausgeführt haben.

Die Ausführungen des SG Lübeck,

Vgl. Urteil vom 26.04.2007 - Az: S 14 R 191/07 -

wonach ältere Rentner einen "geringeren Bedarf" haben sollen, vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen. Zwar hat die Gruppe der über 60-jährigen im Regelfall keine Unterhaltspflichten mehr gegenüber Kindern, jedoch gegenüber den Eltern, die bei der typischen Generationsfolge von gut 20 Jahren mit über 80 Jahren häufig pflegebedürftig sind, ganz abgesehen von dem Umstand, dass die Gruppe der über 60-jährigen vielfach durch Kosten von Haushaltshilfen belastet wird, da zu diesem Zeitpunkt im Regelfall auch der Ehepartner nicht mehr so voll leistungsfähig ist, wie dies bei Frührentnern regelmäßig noch der Fall ist.

Bei dieser Sachlage führt die Auffassung des 4. Senats des BSG und des SG Lübeck, wonach jüngere Versicherte durch die verlängerte Zurechnungszeit eine höhere Rente als vor 2001 erhalten sollen, während nur über 60-jährige Rentner deutliche Abschläge hinnehmen müssten, zu einer willkürlichen Ungleichbehandlung dieser Rentnergruppe, die mit Art. 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre, während die von der Beklagten vertretene Auffassung, die sich am Gesetzeswortlaut orientiert, eine angemessene Belastung aller Rentnergruppen nach sich zieht.

Darüber hinaus ist diese Rechtsauffassung auch europarechtswidrig. Denn sie führt zu einer unzulässigen Altersdiskriminierung. Hierbei kann offenbleiben, ob die Richtlinie 2000/78/EG (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) Anwendung findet. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Urteil vom 22.11.2005 ausgeführt, dass das Verbot der Diskriminierung wegen Alters ein sog. "allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts" ist.

Vgl. EuGH, Urteil v. 22.11.2005 in Rs. Mangold/Helm, Az: C 144/04, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2006, S. 16 (20) -

Die Regelung über die Verminderung des Zugangsfaktors bei EWM-Rentnern nach § 77 Abs. 2 SGB VI verstößt auch nicht gegen höherrangiges Recht, nämlich Art. 14 GG, wie das Sozialgericht Aachen zutreffend und umfassend ausgeführt hat.

Vgl. a.a.O., S 8 ff -

Das Gericht schließt sich dieser Auffassung nach eigener Prüfung voll an und verweist in Bezug auf die teilweise diskutierten - thematisch nicht einschlägigen - verfassungsrechtlichen Argumentationen auf das Urteil der 21. Kammer vom 06.08.2007

S 21 (29) R 90/07, S. 5 - 7 -.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Das Gericht hat die Sprungrevision hier nach § 161 Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und von einer Entscheidung des BSG abweicht. Die Rentenkammern des SG Duisburg werden zudem derzeit mit Klagen, die den Zugangsfaktor betreffen, zahlenmäßig so massiv belastet, dass eine alsbaldige Klärung der umstrittenen Rechtsfrage durch das BSG unter Umgehung der 2. Instanz geboten erscheint, zumal die Arbeitsverdichtung bei den erstinstanzlichen Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in NRW durch die neuen Rechtsgebiete auf allen Rechtsgebieten inzwischen so erheblich ist, dass alle Klagen nicht mehr durchgängig in angemessener Frist erledigt werden können.
Rechtskraft
Aus
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