S 19 SO 40/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 40/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 2/07
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2006 verurteilt, für den Zeitraum vom 31.10.2005 bis zum 22.02.2006 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. Der Beklagte hat die Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für die Zeit vom 31.10.2005 bis zum 22.02.2006.

Der 1962 geborene Kläger befand sich vom 24.03.2004 bis zum 18.10.2005 in Haft in der Justizvollzugsanstalt X. Vom 18.10.2005 bis zum 21.03.2006 befand er sich wegen einer Betäubungsmittelabhängigkeit in der Fachklinik F. Am 18.10.2005 beantragte er Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bei der Beigeladenen. Den Antrag lehnte die Beigeladene mit Bescheid vom 24.10.2005 ab. Zur Begründung führte sie aus, dass sich der Kläger seit 24.03.2004 bis 18.10.2005 in Haft befunden habe. Bei der Inhaftierung in einer Justizvollzugsanstalt handele es sich jedoch um eine stationäre Einrichtung im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II. Die Zeit der nachfolgenden Behandlung in der F sei mit der Zeit der Inhaftierung zusammenzurechnen und überschreite insgesamt eine Zeit von 26 Wochen. Dies schließe einen Leistungsbezug nach dem SGB II aus. Einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, die Beigeladene zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II zu verpflichten, lehnte das Sozialgericht Aachen (Az.: S 15 AS 28/08 ER) mit Beschluss vom 06.02.2006 ab.

Beim Beklagten beantragte der Kläger erstmals am 31.10.2005 ein Taschengeld als Leistung nach dem SGB XII. Mit Bescheid vom 07.11.2005 lehnte der Beklagte den Antrag ab, weil die Justizvollzugsanstalt keine stationäre Einrichtung sei und sich damit der Kläger insgesamt nicht länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung befinde bzw. befinden werde. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 09.02.2006 zurück.

Mit Schreiben vom 21.02.2006 (Eingang beim Beklagten am 23.02.2006) beantragte der Kläger erneut Leistungen beim Beklagten. Mit Schreiben vom 08.03.2006 bewilligte der Beklagte dem Kläger einen Barbetrag in Höhe von 79,98 EUR (Barbetrag in Höhe von 26 % des Eckregelsatzes von 89,70 EUR im Monat) für die Zeit vom 23.02.2006 bis zum 21.03.2006 an.

Zur Begründung seiner am 09.03.2006 erhobenen Klage macht der Kläger geltend, dass er mit der Entscheidung des Beklagten nicht einverstanden sei.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2006 zu verurteilen, für die Zeit vom 31.10.2005 bis zum 22.02.2006 Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, dass er trotz der Rechtsprechung des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen und der zwischenzeitlich erfolgten Änderungen von § 7 Abs. 4 SGB II davon ausgehe, dass es sich in der Zeit vor dem 01.08.2006 bei einem Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt nicht um einen stationären Aufenthalt im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II gehandelt habe.

Die Beigeladene schließt sich dem Antrag des Klägers an.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte aus dem Vorprozess S 15 AS 28/06 ER und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch die angefochteten Bescheide im Sinne von § 54 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz beschwert. Die Bescheide sind rechtswidrig.

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung eines angemessenen Barbetrages als Leistung des weiteren notwendigen Lebensunterhaltes in Einrichtungen nach § 35 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) auch für die Zeit vom 31.10.2005 bis zum 22.02.2006. Zwar war während des Aufenthaltes in der Klinik F der größte Teil des laufenden Lebensunterhaltes des Klägers, vor allem Unterkunft und Ernährung, durch die Einrichtung gedeckt. Jedoch war der Kläger, der über kein anderweitiges Einkommen verfügt, nicht in der Lage, die laufenden Bedürfnisse, die nicht von der Einrichtung befriedigt wurden, zu decken. Das Vorliegen des entsprechenden Bedarf ist auch über den vom Beklagten bereits anerkannten Zeitraum vom 21.02.2006 bis zum 21.03.2006 hinaus zwischen den Beteiligten grundsätzlich unstreitig.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist ein Anspruch ist gegenüber dem Beklagten auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil der Kläger dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II war. Der Leistungsausschluss nach § 21 SGB XII bzw. § 5 Abs. 2 SGB II greift vorliegend nicht ein. Denn gemäß § 7 Abs. 4 SGB II in der Fassung bis zum 31.07.2006 (a. F.) erhält keine Leistung nach dem SGB II, wer für länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Dies war beim Kläger der Fall.

Zwar befand sich der Kläger für weniger als 6 Monate in der Fachklinik F. Der dortige Aufenthalt dauerte nur vom 18.10.2005 bis zum 31.03.2006. Indes sind die Zeiten der Haft und des sich anschließenden Aufenthaltes in einer therapeutischen Einrichtung zum Drogenentzug zusammenzurechnen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 08.08.2006 Az.: L 9 B 70/06 AS ER; LSG Baden- Württemberg, Beschl. v. 27.03.3006, Az.: L 8 AS 1171/06). Da sich der Kläger bereits seit dem 24.03.2004 bis zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Fachklinik F in Haft in der JVA X befand, befand er sich damit insgesamt für deutlich länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 SGB II a. F ... Entgegen der Auffassung des Beklagten handelt es sich auch bei der Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt um eine Unterbringung in einer stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 SGB II a. F ... Im Anwendungsbereich von § 7 Abs. 4 SGB II a. F. ist umstritten, ob es sich bei der Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt um eine Unterbringung in einer stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 SGB II handelt. Überwiegend wird hierzu vertreten, dass der Begriff der stationären Einrichtung i.S.v. § 7 Abs. 4 SGB II a. F. in einem umfassenderen Sinne als in dem von § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu verstehen ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 18.01.2006, Az.: L 20 B 68/05 SO ER; Beschl. v. 31.08.2005, Az.: L 19 B 48/05 AS ER; Bayerisches LSG, Beschl. v. 27.10.2005, Az.: L 11 B 596/05 AS ER; SG Frankfurt, Beschl. v. 14.06.2006, Az.: S 55 SO 173/06 ER; SG Dresden, Beschl. v. 28.07.2006, Az.: S 34 AS 1134/06 ER; Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 34; Hauck/Noftz/Hengelhaupt SGB II, § 9 Rn. 69). Hiervon abweichend wird jedoch vertreten, dass der Einrichtungsbegriff in § 13 SGB XII auf das SGB II übertragen werden müsse (vgl. LSG Sachsen-Bremen, Beschl. v. 22.09.2005, Az.: L 8 AS 196/05 ER; Beschl. v. 07.03.2006, Az.: L 7 AS 423/05 ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 14.11.2005, Az.:L 9 B 260/05 ER).

Für die Bewertung von Justizvollzugsanstalten als stationäre Einrichtungen spricht vor allem der Sinn und Zweck von § 7 Abs. 4 SGB II. Das SGB II hat das Ziel, die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürtigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben zu stärken und dazu beizutragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Dabei umfasst die Grundsicherung für Arbeitssuchende Leistungen zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit und zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Auch wenn das SGB II anders als das Arbeitsförderungsrecht (SGB III) eine Verfügbarkeit nicht voraussetzt, lässt sich doch das Ziel der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess zumindest bei einem länger als 6 Monate dauernden Aufenthalt nicht erreichen (vgl. LSG NRW, Beschl. v. 31.08.2005, Az.: L 19 B 48/05 AS ER).

Dieser Auslegung hat sich der Gesetzgeber durch die Änderung von § 7 Abs. 4 SGB II ab dem 01.08.2006 angeschlossen und den Meinungsstreit zumindest für zukünftige Fälle entschieden. In dieser Neufassung, die vorliegend unmittelbar noch keine Anwendung findet, weil es sich um einen zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung bereits abgeschlosenen Leistungszeitraum handelt, hat der Gesetzgeber klargestellt, dass grundsätzlich keine Leistungen nach dem SGB II erhält, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist nunmehr der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung ausdrücklich gleichgestellt (§ 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II) Etwas anderes gilt nur dann, wenn trotz der Unterbringung in einer stationären Einrichtung eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens in einem Umfang von 15 Stunden wöchentlich erfolgt (§ 7 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 SGB II). Diese Änderungen betonen den unverändert fortbestehenden Wiedereingliederungsgedanken des SGB II und stellen klar, dass Leistungen nach dem SGB II tatsächlich nur derjenige erhalten soll, bei dem das Gesetzesziel der Wiedereingliederung auch erreicht werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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