L 18 U 161/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 1 U 5002/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 U 161/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 15.03.2005 aufgehoben und unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2002 und des Teilvergleiches vom 15.03.2005 die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 03.02.1999 bis 27.09.2000 eine Rente nach einer MdE von 100 vH zu gewähren.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren und die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Klageverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Höhe die Folgen eines Arbeitsunfalls zu entschädigen sind.

Der 1944 geborene Kläger, der seit dem 19. Lebensjahr unter Morbus Bechterew leidet und seit 1994 eine Rente wegen Er-werbsunfähigkeit bezieht, erlitt als mithelfender Familienan-gehöriger im landwirtschaftlichen Betrieb seines Sohnes am 02.02.1999 einen Unfall. Er stürzte aus einer Höhe von etwa drei Metern von einer Leiter. In der Unfallanzeige vom 12.02.1999 wurde angegeben, er habe sich eine Prellung der Wirbelsäule zugezogen. Nach der Erstversorgung erfolgten aufgrund fortbestehender Beschwerden weitere Untersuchungen des Klägers. Eine MRT-Untersuchung der Brustwirbel- und Halswirbelsäule am 29.10.1999 führte zur Feststellung einer Spondylodiszitis im Segment Th 12/L1 bei gleichzeitiger Spondylarthritis. Anlässlich einer Untersuchung in der W.-Klinik Schwerpunktklinikum Zentrum für Wirbelsäulenchirurgie am 16.03.2000 wurde die Diagnose einer Instabilität im Segment Th 12/L1 (Andersson-Läsion) gestellt bei vorliegender Totalkyphose bei Morbus Bechterew. Gleichzeitig erfolgte die Indikation zur Operation, die nach Aufnahme am 27.09.2000 am 18.10.2000 in der W.-Klinik erfolgte (u.a. Stabilisierung des Überganges Brust-Lendenwirbelsäule). Postoperativ bis Ende August 2001 trug der Kläger ein Korsett.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Orthopäden Dr. V. (W.-Klinik) vom 29.11.2001 ein. Dieser stellte nach Untersuchung am 08.10.2001 fest, dass es durch das Ereignis zu einer instabilen Fraktur im Bereich Th12/L1 gekommen sei. Klinisch habe eine lokale Schmerzhaftigkeit im thorako-lumbalen Übergang bestanden. Die Beeinträchtigkeit der Erwerbsfähigkeit betrage vom Auftreten der Fraktur bis zur Abnahme des Korsetts 100 vH.

Zu dem Gutachten hörte die Beklagte den beratenden Arzt Dr. H. , der die Anerkennung eines instabilen Bruches Th 12/L 1 als Unfallfolge empfahl und für die Zeit 02.02.1999 bis 27.09.2000 von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH ausging (Stellungnahme vom 26.03.2002). Die eben-falls gehörte Orthopädin Dr. B. ging unter dem 09.04.2002 davon aus, dass hinsichtlich des Unfallhergangs, des klinischen Verlaufs und der Dokumentation der Röntgenbilder die unfallbedingte Genese der Erkrankung im Segment Th 12/L 1 sehr wahrscheinlich sei. Der vorliegende Befund rechtfertige bis zum Zeitpunkt der Operation eine MdE von 20 vH. Es hätten Schmerzen im Bereich der Fraktur bestanden, die ständig zu Behandlungen und Arztbesuchen sowie weiterer Diagnostik geführt hätten.

Mit Bescheid vom 22.10.2002 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 02.02.1999 als Arbeitsunfall an. Aufgrund des erlittenen instabilen Bruchs zwischen dem 12. Brustwirbelkörper und 1. Lendenwirbelkörper bei vorbestehender Versteifung der Wirbelsäule im Rahmen eines Morbus Bechterew erkannte sie als Unfallfolgen an: Reizlose Narbe über dem Brust-/Lendenwirbelsäulenübergang, Verschmächtigung der Rückenmuskulatur (teilweise), Bewegungseinschränkung im Brust-/Lendenwirbelsäulenübergang (teilweise), liegendes Osteosynthesematerial, Stabilisierung im Segment Th 12/L 1. Sie gewährte dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung für die Zeit 03.02.1999 bis 27.09.2000 nach einer MdE von 20 vH, 28.09.2000 bis 31.08.2001 nach einer MdE von 100 v.H und vom 01.09.2001 bis 07.10.2001 nach einer MdE von 20 vH. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18.12.2002).

Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhoben und für den an den Unfallzeitpunkt anschließenden Zeitraum eine Rente nach einer MdE von 100 vH sowie für die Zeit ab 01.09.2001 eine Rente auf Dauer nach einer MdE von 50 vH begehrt. Er hat vorgebracht, dass der unbehandelte Wirbelbruch zu andauernden Schmerzen geführt habe. Aufgrund der Schmerzen habe er liegen müssen. Jede Bewegung habe er als Stich in der Wirbelsäule wahrgenommen. Die Schmerzen seien nur aufgrund der Einnahme von Schmerzmitteln auszuhalten gewesen.

Das SG hat den Chirurgen Dr. S. zum ärztlichen Sachver-ständigen bestellt (Gutachten vom 01.12.2003/18.09.2004). Dr.S. hat ausgeführt, dass die über den 08.10.2001 hinaus verbliebenen Unfallfolgen mit einer MdE von 10 vH einzuschätzen seien. Für die Zeit vor der Operation sei bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen, dass die zu dieser Zeit bestehenden Funktionsstörungen vorwiegend durch den Morbus Bechterew bedingt gewesen seien. Das Beschwerdebild bedinge allenfalls eine MdE von 20 vH. Der auf Antrag des Klägers gehörte Orthopäde Dr. M. (W.-Klinik) ist für die Zeit ab 08.10.2001 von einer MdE von 20 vH ausgegangen und hat für den Zeitraum nach dem Unfall an einer MdE von 100 vH aufgrund der mit der Fraktur verbundenen starken Schmerzen festgehalten (Gutachten vom 12.05.2004/09.11.2004).

Die Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung am 15.03.2005 einen Teilvergleich insoweit geschlossen, als die Beklagte dem Kläger über den 08.10.2001 hinaus für die aner-kannten Unfallfolgen Rente nach einer MdE von 20 vH gewährt. Der Kläger hat noch beantragt, die Beklagte zur Gewährung einer Rente für die Zeit vom 02.02.1999 (gemeint: 03.02.1999) bis 27.09.2000 nach einer MdE von 100 vH zu gewähren.

Mit Urteil vom 15.03.2005 hat das SG die Klage abgewiesen und sich zur Begründung auf die Ausführungen des Dr. S. gestützt. Dr. M. habe nicht berücksichtigt, dass das Unfallereignis vom 02.02.1999, das die vermehrte Schmerz-symptomatik letztlich ausgelöst habe, nur als rechtlich unwe-sentliche Ursache für den neuen Schaden zu bewerten sei. Es habe der bestehende Schaden des Morbus Bechterew mitgewirkt, der rechtlich die allein wesentliche Ursache des Gesamtschadens dargestellt habe.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er bezieht sich auf die Ausführungen des Dr. M. , der als behandelnder Arzt den Beschwerdegang tatsächlich und nicht nur nach Aktenlage beurteilen könne. Bereits nach der Lebenserfahrung sei derjenige, der sich als gesunder Mensch eine vergleichbare Verletzung zuziehe, mit erheblichen Schmerzen belastet und bewegungsunfähig, so dass eine MdE von 100 vH bestehe. Dies habe auch für einen Versicherten zu gelten, der unter Morbus Bechterew leide.

Der Senat hat den Orthopäden Dr.N. mit Gutachten vom 31.05.2007/11.10.2007 gehört. Das Ereignis vom 02.02.1999 sei wesentlich mitverantwortlich für die Entstehung der Anderson Läsion Th 12/L 1. Die MdE betrage für den Zeitraum bis zum stationären Aufenthalt 100 vH. Aufgrund der Fraktur sei der Kläger nicht in der Lage gewesen, einer Tätigkeit mit Positionswechseln oder gar leichter körperlicher Belastung nachzugehen. Ursächlich für die MdE seien die erwartungsgemäß teilweise starken Schmerzen im thorakolumbalen Übergang bereits bei kleinen Bewegungen durch Kontakt der frakturierten Knochenfragmente miteinander.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 15.03.2005 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22.10.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2002 und des Teilvergleiches vom 15.03.2005 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 03.02.1999 bis 27.09.2000 eine Rente nach einer MdE von 100 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialge-richts Würzburg vom 15.03.2005 zurückzuweisen.

Die von Dr.N. vorgenommene Einschätzung der MdE entbehre jeglicher Grundlage. Sie widerspreche den anerkannten Erfahrungssätzen. Eine MdE von 100 vH sei bei einer vollständigen Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung mit vollständigen Lähmungen des Stammes und der Beine, mindestens von Segment D 1 an abwärts mit Störungen der Blasen- und Mastdarm-funktion anzunehmen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Ver-waltungsakte der Beklagten und auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG) und auch begründet. Das SG hat unzutreffend die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 22.10.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2002 ist, soweit er noch Gegenstand des Verfahrens ist, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger kann die Gewährung der Rente für den noch streitigen Zeitraum 03.02.1999 bis 27.09.2000 nach einer MdE von 100 vH beanspruchen.

Die Voraussetzungen für die Zahlung der Rente gemäß §§ 7 Abs 1, 56 Abs 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) für die Zeit ab 03.02.1999 (§ 72 Abs 1 Nr 2 SGB VII) bis 27.09.2000 liegen vor, insbesondere für eine Gewährung nach einer MdE von 100 vH. Der Kläger hat infolge des Unfalls eine instabile Fraktur im Bereich Th 12/LH 1 (Andersson-Läsion) erlitten. Dass das Unfallereignis wesentlich (mit)ursächlich für diese Gesundheitsstörung ist, ergibt sich aus den Ausführungen der im Verfahren von der Beklagten herangezogenen Gutachter und der gerichtlich gehörten Sachverständigen. Auch Dr.S. geht in dem Gutachten vom 01.12.2003 von einer wesentlichen Mitursächlichkeit des Ereignisses aus.

Zur Bemessung der MdE weist die Beklagte zwar zutreffend dar-auf hin, dass die von Dr.N. (wie auch Dr.V. und Dr.M.) angenommene MdE von 100 vH nicht den unfallversicherungsrechtlichen und -medizinischen Erfahrungssätzen entspricht. Unabhängig davon, dass diese Erfahrungssätze für die Entscheidung im Einzellfall nicht bindend sind, können diese für die anzustellende Beurteilung der Unfallfolgen nicht herangezogen werden. Die Erfahrungssätze haben erst nach einer gewissen Gewöhnung und Anpassung an den Zustand der unfallbedingten Schädigung Geltung; erfahrungsgemäß liegen kurze Zeit nach Ausheilung der akuten Verletzung die angemessenen Entschädigungssätze höher (Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11.Aufl., Teil 2 Ziff.2.1). Dies muss erst recht für die Bewertung der beim Kläger unmittelbar nach der traumatischen Schädigung bestehenden und nicht ausgeheilten Unfallfolgen gelten. Insofern hat Dr. N. in der ergänzenden Stellungnahme vom 11.10.2007 zutreffend darauf hingewiesen, dass die vereinfachte Beurteilung der MdE nach den Erfahrungssätzen bei ausgeheilten Dauerfolgen einer Schädigung im Bereich der Wirbelsäule anwendbar ist, aber bei der Beurteilung einer frischen Fraktur im Bereich der Wirbelsäule nicht möglich ist.

Zur Überzeugung des Senats ist aufgrund der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Klägers und der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten von einer MdE von 100 vH auszugehen. Zu berücksichtigen ist, dass die aufgrund des Morbus Bechterew vorbestehenden Beeinträchtigung mit in die Bewertung einzubeziehen ist. Für die MdE-Bemessung ist ein Vorschaden von Bedeutung, wenn zwischen dem Vorschaden und den Unfallfolgen eine funktionelle Wechselwirkung besteht, so dass sich die Unfallfolgen anders auswirken als im Normalfall (BSG Urteil vom 29.01.1959 BSGE 9,104,110). Dies war hier der Fall. Die Unfallfolgen wurden durch den Vorschaden beeinflusst. Aufgrund der instabilen Fraktur mit einer ventralen Verschiebung im Segment Th 12/L 2 sowie einer Einengung des Spinalkanals hat sich eine vermehrte Kyphosierung oberhalb der Fraktur im Bereich der Brustwirbelsäule herausgebildet. Posttraumatisch ist es durch die Fraktur zu einer deutlichen Verschlechterung der vorbestehenden Kyphosierung gekommen (Dr.M. vom 12.05.2004). Demnach treffen die Folgen des Unfalls den Kläger erheblich stärker als einen Gesunden, so dass diese Verstärkung MdE-erhöhend zu berücksichtigen ist.

Dies zugrunde gelegt und nach dem Ausprägungsgrad der unfallbedingten Befunde rechtfertigt sich eine MdE von 100 vH. Dr.N. hat herausgestellt, dass der Kläger in der Mobilität stark eingeschränkt war. Der Kläger hatte unfallbedingt Schmerzen bei jeder Bewegung. Aufgrund des Kontaktes der frakturierten Knochenfragmente traten Schmerzen im thorako-lumbalen Übergang bereits bei kleinen Bewegungen auf. Tätigkeiten mit Positionswechsel, Arbeiten in aufrechter Körperposition oder gar mit einer leichten körperlichen Belastung waren dem Kläger nicht möglich. Dr.M. hat nicht nur auf die erhebliche Schmerzsymptomatik bei sämtlichen Bewegungen des Rumpfes hingewiesen, sondern auch auf das Benutzen zweier Gehhilfen beim Gehen und die Einnahme von Analgetika in deutlich erhöhter Dosierung herausgestellt (Stellungnahme vom 09.11.2004).

Nach allem war das Urteil aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Anteilig war der erstinstanzlich geschlossene Teilvergleich zu berücksich- tigen.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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