L 8 AS 504/08 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 3682/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AS 504/08 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 27. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung im Rahmen der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der 1965 geborene Antragsteller ist deutscher Staatsangehöriger, ledig und allein stehend. Er bezieht seit 22.08.2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Seit 08.07.1985 ist bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 anerkannt. Der Antragsteller leidet an einem Diabetes mellitus Typ 1, der mit einer konventionellen Insulintherapie behandelt wird. Im Zeitraum vom 22.08.2006 bis zum 31.01.2007 gewährte ihm die Antragsgegnerin wegen dieser Erkrankung einen monatlichen Mehrbedarf in Höhe von 51,13 EUR. Für spätere Zeiträume erfolgte die Leistungsbewilligung ohne Berücksichtigung eines Mehrbedarfs. Mit Bescheid vom 18.09.2007 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller auch für die Zeit vom 01.10.2007 bis zum 31.03.2008 Leistungen in Höhe von monatlich 756,17 EUR, aber ohne Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung.

Ein förmlicher Widerspruch gegen diese Entscheidung wurde nicht eingelegt. Der Antragsteller stellte aber am 02.10.2007 (und bereits per Fax am 29.09.2007) einen Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung und wies darauf hin, dass er diesen Mehrbedarf bereits mit dem Antrag vom 22.08.2007 geltend gemacht habe. Als Nachweis für seine Erkrankung legte er ein Attest seiner behandelnden Ärztin vom 23.08.2006 vor. Darin wird dem Antragsteller Folgendes bescheinigt: "Diagnose: Diabetes mellitus Typ 1; Therapie: konventionelle Insulintherapie; Kost: Diabeteskost; Es besteht die Notwendigkeit für eine kostenaufwändige Ernährung." Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 04.10.2007 und Widerspruchsbescheid vom 15.10.2007 ab. Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller am 29.10.2007 Klage beim Sozialgericht Ulm (S 12 AS 3921/07); das Verfahren ist noch anhängig.

Bereits am 08.10.2007 hatte der Antragsteller beim SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und darauf hingewiesen, dass er auf die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung angewiesen sei. Die Durchführung der ärztlich verordneten Ernährungstherapie sei ihm mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln nicht möglich. Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 27.12.2007 (S 12 AS 3682/07 ER) abgelehnt und der hiergegen vom Antragsteller am 28.01.2008 eingelegten Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die gemäß den §§ 172ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Beschwerde des Antragstellers ist nicht begründet. Der Senat ist ebenso wie das SG der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II beim Antragsteller nicht erfüllt sind und es daher an einem Anordnungsanspruch fehlt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928). Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG NJW 2003, 1236, 1237; BVerfG NVwZ 2004, 95, 96). Dies gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinen Begehren verfolgt (BVerfG NVwZ 2004, 95, 96). Dies gilt insbesondere, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Außerdem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928).

Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG NJW 2003, 1236, 1237). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Diese besonderen Anforderungen an Eilverfahren schließen andererseits nicht aus, dass die Gerichte den Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache vermeiden, indem sie zum Beispiel Leistungen nur mit einem Abschlag zusprechen (vgl. BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928; SG Düsseldorf, NJW 2005, 845, 847).

Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das (nach dem bis zum 31.12.2007 geltenden Recht) 65. Lebensjahr noch nicht vollendet bzw. (nach dem ab 01.01.2008 geltenden Recht) die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sowie hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen, sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Der Senat geht davon aus, dass diese Voraussetzungen beim Antragsteller im streitigen Zeitraum vom 08.10.2007 bis zum 31.03.2008 vorliegen. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfassen auch Leistungen für Mehrbedarfe nach § 21 SGB II. Nach Abs. 5 dieser Vorschrift erhalten Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Zu diesem Personenkreis gehört der Antragsteller jedoch nicht.

Hinsichtlich der Art der Erkrankung, die einen Mehrbedarf begründen können, und der Höhe der Krankenkostzulage können nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 15/1516, S. 57) die hierzu vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelten und an typisierten Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Heft 48, 2. Aufl. 1997) herangezogen werden, die sowohl den Gerichten wie auch den Leistungserbringern verlässliche Informationen zum Zwecke einer einheitlichen Verwaltungshandhabung geben. Die Bezugnahme des Gesetzgebers auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins hat diese zu einer Art antizipierten Sachverständigengutachten gemacht (Urteil des erkennenden Senats vom 14.12.2007, L 8 AS 1462/07; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. Juni 2006 - L 20 B 109/06 AS - [juris]; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.05.2007 - L 7 AS 4815/06 -; Urteil vom 27.06.2007 - L 2 AS 731/07 -; Beschluss des erkennenden Senats vom 05.12.2007 - L 8 AS 5421/07 ER-B -). Bei der Anwendung der Empfehlungen ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese aus dem Jahr 1997 stammen und seitdem nicht mehr überarbeitet worden sind.

Grundlage und Bestandteil der Empfehlungen (Anlage 3) ist ua das Rationalisierungsschema 1994 der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin. Da es inzwischen das Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM) e.V., der Deutschen Adipositas Gesellschaft e.V., der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin (DAEM) e.V., der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) e.V., der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) e.V., des Verbandes der Diätassistenten - Deutscher Bundesverband (VDD) e.V. und des Verbandes der Diplom-Oecotrophologen (VDOE) e.V. gibt, hält es der Senat für angebracht, die Empfehlungen des Deutschen Vereins unter Berücksichtigung des Rationalisierungsschemas 2004, auf das auch der Antragsteller im Rahmen seiner Begründung eingegangen ist, zu modifizieren. Denn auch dieses Rationalisierungsschema soll allen als Orientierung dienen, die für eine dem derzeitigen Wissensstand entsprechend zusammengesetzte Vollkost, leichte Vollkost und für Kostformen zur Therapie der verschiedensten Erkrankungen (Diäten) verantwortlich sind. Danach ist beim insulinabhängigen Diabetes vom Typ 1 mit konventioneller Insulintherapie, wie er auch beim Antragsteller vorliegt, ein festes Mahlzeitenschema mit abgestimmter Kohlenhydratmenge und Insulindosis erforderlich. Die Energiezufuhr richtet sich nach dem individuellen Bedarf. Im Übrigen gelten für Typ-1-Diabetiker die Vollkostregeln bezüglich der Zusammensetzung der Kost. Daraus ist nicht ersichtlich, dass und weshalb die Ernährungsweise für Diabetiker kostenaufwändiger sein soll. Nach den Ernährungsempfehlungen für Diabetiker 2001 der Deutschen-Diabetes-Gesellschaft (www.diabetes-deutschland.de) sind spezielle Diabetikerprodukte oder Diätprodukte für Diabetiker nicht erforderlich. Viele Lebensmittel, die als "für Diabetiker geeignet" deklariert würden, enthielten große Fett- und Energiemengen und seien häufig teurer als reguläre Produkte. Der Senat ist daher weiterhin der Auffassung, dass die Erkrankung an Diabetes keinen Mehrbedarf für eine kostenaufwändige Ernährung begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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