L 14 P 868/97

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 25 P 1369/97
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 14 P 868/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Versorgungsvertrag der Pflegekasse mit Verwandten oder Verschwägerten eines Pflegebedürftigen (bis zum dritten Grad) sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, ist unzulässig. Dies gilt auch für die Zeit vor dem 25. Juni 1996 (Inkrafttreten des Ausschlußtatbestandes).
2. Ein Rechtsstreit zur Klärung der Frage des Abschlusses eines Versorgungsvertrages mit einer einzelnen Pflegekraft setzt im Rahmen der Zulässigkeit ein Vorverfahren voraus.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 21. April 1997 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten den Abschluß eines Einzelvertrages zur Erbringung häuslicher Pflege nach § 77 des Elften Sozialgesetzbuches (SGB XI).

Die 1941 geborene Klägerin ist die Ehefrau des Mitglieds der Beklagten, W. B. bei dem ein fortgeschrittener Morbus Parkinson sowie der Zustand nach Myokardinfarkt besteht. Die Klägerin, die ganztags berufstätig ist, pflegt ihren Ehemann in der häuslichen Umgebung.

Am 3. Januar 1995 (Eingang bei der Beklagten) stellte die Klägerin formlos bei der Beklagten einen Antrag auf Bezug von Sachleistungen nach dem neuen Pflegeversicherungsgesetz ab dem 1. April 1995 für die Pflege ihres als schwerpflegebedürftig anerkannten Ehemannes. Die Klägerin legte zum Nachweis ihrer Qualifikation als Pflegekraft ihren Ausweis über die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Kinderkrankenschwester vom 31. März 1965 vor sowie eine Bescheinigung der Krankenpflegehochschule des Agnes-Karl-Verbandes über die Teilnahme an einem Ausbildungslehrgang für Unterrichtstätigkeit und Leitung von Krankenpflegeschulen sowie den Abschluß einer entsprechenden Prüfung.

Mit Datum vom 30. Januar 1995 (Eingang bei der Beklagten am 3. Februar 1995) stellte der Ehemann der Klägerin, W. B., einen Formularantrag auf häusliche Pflegehilfe der Stufe III als Sachleistung durch einen Vertragspartner der Pflegekasse.

Mit Bescheid vom 15. Mai 1995 lehnte die Beklagte in einem an die Klägerin adressierten Bescheid die Durchführung eines Einzelvertrages nach § 77 SGB XI ab, und zwar mit der Begründung, nach einer "Grundsatzentscheidung des Bundesministers für Arbeit” würden Angehörige als Versicherungspartner der Pflegekasse ausscheiden. Der Bescheid enthielt die Belehrung, daß innerhalb eines Monats Widerspruch bei der Beklagten erhoben werden könne. Mit ihrem am 1. Juni 1995 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, der Antrag auf Abschluß eines Vertrags nach § 77 SGB XI werde auch im Namen des Mitglieds der Beklagten, W. B., gestellt. Die Ablehnung des Vertragsabschlusses durch die Beklagte sei nicht gerechtfertigt. Bei der "Grundsatzentscheidung des Bundesministers für Arbeit” handele es sich nur um "Positionspapier”, dem nicht zu folgen sei. Die Klägerin sei Pflegeperson und Pflegekraft in einem. Der Beklagten sei in diesem Falle ein Ermessen nach § 77 SGB XI eingeräumt, ob und mit wem sie den dort vorgesehenen Vertrag abschließen möchte, ohne daß von vornherein Familienangehörige ausgeschlossen sein könnten. Aufgrund der Qualifikation der Klägerin und unter Beachtung des in § 2 SGB XI normierten Grundsatzes, daß dem Pflegebedürftigen ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht werden solle, sei das Ermessen der Beklagten zum Abschluß auf Null reduziert. Mit Schreiben vom 26. September 1995 teilte die Beklagte der Klägerin daraufhin mit, es sei ihr nicht möglich, einen Betreuungsvertrag nach § 77 SGB XI abzuschließen. Wie bei den Versorgungsverträgen mit Pflegeeinrichtungen gemäß § 73 Abs. 2 SGB XI sei im übrigen auch bei den Verträgen mit einzelnen Pflegekräften nach § 77 SGB XI der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ohne Vorverfahren gegeben. Gegebenenfalls müsse also direkt der Klageweg beschritten werden.

Mit der am 7. November 1995 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangenen Klage (– S-25/P 429/95 –) hat der Ehemann der Klägerin, W. B. geltend gemacht, Pflegesachleistung gemäß dem SGB XI sei ihm dadurch zu gewähren, daß "als geeignete Pflegeperson gemäß § 77 SGB XI” die Klägerin anerkannt werde. Mit Schriftsatz vom 6. Februar 1996 hat der Ehemann der Klägerin in dem von ihm geführten Verfahren die Beiladung seiner Ehefrau als in Betracht kommende Pflegekraft zu seinem Verfahren angeregt, nachdem die Beklagte in der Klageerwiderung (unter anderem vom 9. Januar 1996) nicht nur den Anspruch der Klägerin auf Abschluß eines Einzelvertrages nach § 77 Abs. 1 SGB XI verneint, sondern zudem auch die Aktivlegitimation des Mitglieds W. B. zur Einklagung dieses Rechtes bestritten hatte.

Mit Schriftsatz vom 26. Februar 1997 hat die Klägerin nunmehr im eigenen Namen die Aufhebung des Bescheides vom 15. Mai 1995 und ihre Zulassung als geeignete Pflegekraft zur Pflege ihres Ehemannes, des Mitglieds W. B. beantragt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21. April 1997 hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin zu Protokoll erklärt, daß der Schriftsatz vom 25. Februar 1997 als Klageerweiterung gedacht sei.

Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat daraufhin das Verfahren der Klägerin von dem ihres Ehemannes abgetrennt (Beschluss vom 21. April 1997). Das Verfahren des Ehemannes der Klägerin, W. B. gegen die Beklagte hat das Gericht bis zur Nachholung des Vorverfahrens ausgesetzt. Zwischenzeitlich ist insoweit ein (zurückweisender) Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1997 ergangen.

Mit Urteil vom 21. April 1997 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main die Klage der Klägerin abgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Klage sei wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig. Der Lauf der Klagefrist habe mit Bekanntgabe des Bescheides der Beklagten vom 15. Mai 1995 an die Klägerin begonnen. Die Frist betrage vorliegend gemäß § 66 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – ein Jahr, da der Bescheid vom 15. Mai 1995 mit einer unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehen worden sei. Die Ablehnung des Abschlusses eines Vertrages mit Einzelpersonen nach § 77 SGB XI sei – ebenso wie bei den Versorgungsverträgen mit Pflegeeinrichtungen nach den §§ 72 und 73 SGB XI – als Verwaltungsakt anzusehen, der mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage angefochten werden könne. In entsprechender Anwendung von § 73 Abs. 2 Satz 2 SGB XI finde ein Vorverfahren indes nicht statt. Die Klagefrist nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG sei durch den von der Klägerin erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid vom 15. Mai 1995, der am 1. Juni 1995 bei der Beklagten eingegangen ist, nicht gewahrt. Dieser Widerspruch könne nicht als Klage umgedeutet werden, da die Klägerin nach dem Hinweis der Beklagten im Schriftsatz vom 26. September 1995 keinen Antrag auf Weiterleitung ihres Widerspruchs als Klage gestellt habe noch sonst unmißverständlich zum Ausdruck gebracht habe, daß ihr Widerspruch als Klage aufzufassen sei, nachdem sie die Auffassung der Beklagten, daß ein Widerspruchsverfahren in Vertragsangelegenheiten grundsätzlich ausscheide, geteilt und die Bescheidung ihres Widerspruchs nicht weiter verfolgt habe. Die Einhaltung der Klagefrist für die Klägerin sei auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Streitgenossenschaft entbehrlich. Da es sich vorliegend zwischen den Eheleuten nicht um eine notwendige Streitgenossenschaft handele, würden die Fristen für jeden Streitgenossen getrennt laufen. Die Klägerin sei erst durch den Schriftsatz vom 25. Februar 1997 in den anhängigen Rechtsstreit ihres Ehegatten eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt sei die für sie maßgebliche Klagefrist bereits abgelaufen.

Gegen das ihrem Prozeßbevollmächtigten mit Empfangsbekenntnis am 24. Juni 1997 zugestellte Urteil hat die Klägerin die am 7. Juli 1997 beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingegangene Berufung eingelegt. Sie trägt vor, ihr könne eine Versäumung der Klagefrist nicht entgegengehalten werden. Sie habe fristgerecht, nämlich innerhalb der Monatsfrist, gegen den Bescheid vom 15. Mai 1995 entsprechend der Rechtsmittelbelehrung Widerspruch eingelegt. Das Gericht hätte diesen Widerspruch als Klage umdeuten können und auch müssen. Es könne nicht zur Verfristung der Klage kommen, wenn es die Beklagte unterlasse, einen Widerspruch an das Sozialgericht weiterzuleiten. Die zulässige Klage sei auch begründet, da die Klägerin über die fachliche Qualifikation als Pflegekraft verfüge. Die Tatsache, daß sie die Ehefrau des zu Pflegenden sei, ändere nichts daran, daß ein Vertrag gemäß § 77 SGB XI mit ihr geschlossen werden könne.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 21. April 1997 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Mai 1995 zu verurteilen und mit ihr als geeigneter Pflegekraft einen Vertrag zur Sicherstellung der häuslichen Pflege ihres Ehemannes W. B. zu schließen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main für zutreffend und ist der Auffassung, die Klage sei unzulässig und könne im übrigen auch in der Sache keinen Erfolg haben.

Der Senat hat Blatt 1 – 64 der Gerichtsakte (S 25 P 4290/95) zum Bestandteil der Gerichtsakte in dem hier anhängigen Verfahren gemacht.

Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 Abs. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 SGG).

In der Sache ist die Berufung nicht begründet. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat die Klage durch Urteil vom 21. April 1997 – im Ergebnis – zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 1995 ist nicht zu beanstanden.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts geht der Senat indessen von der Zulässigkeit der Klage aus.

Streitgegenstand ist im vorliegenden Falle die Verpflichtung der Beklagten, mit der Klägerin als Einzelperson einen Vertrag zur Sicherstellung der häuslichen Pflege ihres Ehemannes nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI abzuschließen.

Die Zulässigkeit des Rechtsweges zu den Sozialgerichten im Rahmen dieser Vertragsstreitigkeiten nach § 77 Abs. 1 SGB XI ergibt sich aus der generellen Zuweisung in § 51 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – (BSG, Beschluss vom 8. August 1996 – 3 BS 1/96 –).

Richtige Klageart gegen die Versagung des Vertragsabschlusses durch die Beklagte ist nach Auffassung des Senats die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, da die Ablehnung des Angebotes auf Abschluß des Versorgungsvertrages bzw. die Versagung des Vertragsabschlusses einen – im Ermessen der Beklagten stehenden – Verwaltungsakt darstellt. Die Rechtsnatur der Versagung des Vertragsschlusses, von dem die Klageart und die Einhaltung einer Klagefrist abhängt, ist umstritten. Teilweise wird vertreten, daß die allgemeine – unbefristete – Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG statthaft sein müsse, da in § 77 SGB XI (ebenso wie in den §§ 72, 73 SGB XI) Vertragspartner gegenüber ständen, die gerade nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander stehen würden (so Spellbrink in Hauck/Wilde, Sozialgesetzbuch – SGB XI – Soziale Pflegeversicherung, Stand: 1. August 1997, § 77 Rdnr. 27; Neumann; Die Zulassung einzelner Pflegekräfte zur pflegerischen Versorgung, NZS, 1995, Seite 397, 400). Nach Auffassung des Senats ist indessen dem Bundessozialgericht zu folgen, welches unter anderem für den Krankenhausbereich entschieden hat, daß die Ablehnung der Bereiterklärung zum Abschluß von Versorgungsverträgen einen Verwaltungsakt darstellt, da sie einseitig dem betroffenen Leistungserbringer den Status eines Vertragspartners und damit die Beteiligung an der auf öffentlich-rechtlicher Grundlage durchzuführenden Versorgung der Versicherten verwehrt (siehe unter anderem BSGE 51, Seite 126, 132; BSG, Urteil vom 29. Mai 1996 – 3 RK 26/95 –; sowie die Gesetzesmaterialien zu den §§ 72, 73 SGB XI, BT-Drucksache 12/5262 zu § 82 zu Abs. 2). Für die Qualifizierung der Ablehnung des Vertragsangebotes als Verwaltungsakt und der dadurch bedingten Notwendigkeit der Einhaltung der Klagefrist spricht vor allem das Argument der Rechtssicherheit, dem bei Fragen der Zulassung zum Sozialversicherungssystem entscheidende Bedeutung zukommen muß, gerade weil es auch um die Rechte am Vertragsschluß nicht unmittelbar beteiligter Dritter geht (Maschmann, Grundfragen des Rechts der Leistungserbringung in der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI), SGb 1996, Seite 49, 55; BSGE 51, a.a.O.).

Die mit Schreiben vom 25. Februar 1997 erhobene Klage ist nicht wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig. Nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG sind Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen binnen eines Monats nach der Zustellung, oder, wenn nicht zugestellt wird, nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben. Hat ein Vorverfahren stattgefunden, so beginnt die Frist mit der Zustellung des Widerspruchsbescheides (§ 87 Abs. 2 SGG). Vorliegend ist die Klagefrist nicht mit Bekanntgabe des Bescheides vom 15. Mai 1995 in Lauf gesetzt worden, gegen den die Klägerin fristgerecht (binnen der Monatsfrist nach § 84 SGG) Widerspruch erhoben hat. Maßgeblich für den Beginn der Klagefrist ist vielmehr die Zustellung des Widerspruchsbescheides (die – noch – nicht erfolgt ist); denn nach Auffassung des Senats ist die Durchführung eines Vorverfahrens bei Streitigkeiten über die Ablehnung eines Vertragsschlusses nach § 77 Abs. 1 SGB XI erforderlich und damit grundsätzlich Klagevoraussetzung. Eine Ausnahme vom Vorverfahrenszwang nach § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG durch Bestimmung in einem (förmlichen) Gesetz (§ 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGG) liegt nicht vor. § 77 SGB XI selbst enthält eine solche Bestimmung nicht. Nach Auffassung des Senats ist bei einer Ablehnung der Bereiterklärung zum Vertragsschluß nach § 77 Abs. 1 SGB XI auch nicht die Vorschrift des § 73 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz SGB XI analog heranzuziehen, die beim Abschluß von Versorgungsverträgen mit ambulanten Pflegeeinrichtungen den Verzicht des Vorverfahrens bestimmt. Gegen eine analoge Anwendung dieser Vorschrift spricht, daß der Rechtsschutz auch in anderen leistungserbringungsrechtlichen Verhältnissen (wie bei den Verträgen über Pflegehilfsmittel nach § 78 SGB XI) gesetzlich nicht geregelt ist und eine Regelungslücke somit nicht vorliegt (Neumann, a.a.O., Seite 400). Gegen eine Heranziehung der Vorschriften über den Rechtsschutz nach § 73 Abs. 2 Satz 2 SGB XI und den Verzicht auf ein Vorverfahren bei einer Ablehnung des Vertragsschlusses nach § 77 Abs. 1 SGB spricht auch, daß der Gesetzgeber den Abschluß von Versorgunsverträgen der Pflegekassen mit ambulanten Pflegeinrichtungen nach den §§ 71 bis 76 SGB XI völlig anders gestaltet hat als den Vertragsschluß mit Einzelpersonen als sonstigen Leistungserbringern nach § 77 Abs. 1 SGB XI. Versorgungsverträge nach den §§ 72 ff. SGB XI erfordern im Gegensatz zu den nach § 77 Abs. 1 SGB XI möglichen Verträgen mit einzelnen Pflegekräften ein besonderes – förmliches – Zulassungsverfahren. Andererseits besteht bezüglich der Versorgungsverträge nach den §§ 72 ff. SGB XI mit Pflegeeinrichtungen ein Kontrahierungszwang der Pflegekassen (§ 72 Abs. 3 Satz 1 SGB XI) während der Abschluß von Versorgungsverträgen mit sonstigen Leistungserbringern wie einzelnen geeigneten Pflegekräften nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in das Ermessen der Pflegekassen gestellt ist. Selbst wenn man die als Kann-Vorschrift ausgestaltete Bestimmung in § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI verfassungskonform als Soll-Vorschrift auslegen müßte (so Neumann, a.a.O., Seite 399) bleibt der Unterschied zu dem im Gesetz ausdrücklich angeordneten Kontrahierungszwang bei Versorgungsverträgen mit Pflegeeinrichtungen bestehen.

Vorliegend bedeutet das Erfordernis eines Vorverfahrens als Klagevoraussetzung grundsätzlich, daß dieses noch nachzuholen wäre, da die Klage bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides unzulässig ist. Ausnahmsweise hält der Senat indes vorliegend die nochmalige Überprüfung des Bescheides vom 15. Mai 1995 in einem besonderen Verwaltungsverfahren (Vorverfahren) nicht mehr für notwendig.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 37, 88; 39, 265), der sich der Senat insoweit anschließt, ist die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens dann nicht notwendig, wenn die Behörde – wie im vorliegenden Fall die Beklagte – eine Entscheidung in der Annahme ablehnt, ein Widerspruchsverfahren sei nicht erforderlich. Zum anderen sprechen gegen die Nachholung eines (förmlichen) Widerspruchsbescheides prozeßökonomische Gründe. Die Beklagte hat sich gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 26. September 1995 sowie mehrfach im Klageverfahren des Ehemannes der Klägerin dahingehend geäußert, daß sie einen Versorgungsvertrag gemäß § 77 Abs. 1 SGB XI mit der Klägerin nicht abschließen könne, da die Klägerin Angehörige des Pflegebedürftigen sei. Wie der Terminsbevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 26. März 1998 bestätigt hat, ist daher nicht zu erwarten, daß die Beklagte in einem nachzuholenden Widerspruchsbescheid etwas anderes sagen wird als in ihren Schriftsätzen, zumal Ermessungserwägungen nicht – mehr – maßgeblich sind, nachdem § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI durch das Erste Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (1. SGB XI-Änderungsgesetz) vom 14. Juni 1996 dahingehend geändert worden ist, daß die Vorschrift nunmehr einen ausdrücklichen gesetzlichen Ausschluß enthält bezüglich der Verträge mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben.

Die Zulässigkeit der Klage wäre nach Auffassung des Senats im übrigen selbst dann anzunehmen, wenn man – wie das Sozialgericht – in analoger Anwendung des § 73 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz SGB XI eine gesetzliche Ausnahme vom Vorverfahrenszwang annimmt. Eine Klageänderung (Klageerweiterung) durch Beitritt der Klägerin in den Prozeß ihres Ehemannes kann in der Anregung auf Beiladung der Klägerin im Schriftsatz vom 6. Februar 1996 gesehen werden. Diese Anregung ist innerhalb der in einem solchen Falle für die Klägerin geltenden Jahresfrist nach § 66 Abs. 2 SGG erfolgt. Für eine entsprechende Auslegung dieses Beiladungsantrags spricht einmal, daß eine Klageänderung nicht ausdrücklich erklärt werden muß (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Auflage, München 1993, § 99 Rdnr. 13) sowie die Tatsache, daß vorliegend eine große Rechtsunsicherheit durch die streitigen und bisher gerichtlich nicht geklärten Fragen bezüglich der Rechtsqualität der Ablehnung des Vertragsschlusses durch die Beklagte und der Notwendigkeit der Durchführung eines Vorverfahrens bestand.

Die Klage der Klägerin auf Abschluß eines Einzelvertrages nach § 77 SGB XI bzw. auf Zulassung als Pflegekraft zur Sicherstellung der häuslichen Pflege ihres Mannes ist indes unbegründet. Der Senat ist nicht daran gehindert, in der Sache zu entscheiden, obgleich das Sozialgericht Frankfurt am Main aufgrund seiner Rechtsauffassung eine sachliche Entscheidung nicht getroffen hat. Darin liegt keine unzulässige Verschlechterung der Stellung der Klägerin. Das Berufungsgericht kann in einem solchen Falle nach Ermessen die Streitsache an die erste Instanz zurückweisen (§ 159 Abs. 1 Satz 1 SGG) und muß regelmäßig der eigenen sachlichen Entscheidung den Vorzug geben, sofern – wie vorliegend – die Sache spruchreif ist (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 123 Rdnr. 5; Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, Band II, 4. Auflage, § 123 Anm. 4; BSGE 15, 169, 172).

Die Klägerin hat nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI keinen Anspruch gegenüber der Beklagten auf Abschluß eines Einzelvertrages mit ihr als geeigneter Pflegekraft zur Sicherstellung der häuslichen Pflege ihres Ehemannes, W. B ... Als Ehefrau des Pflegebedürftigen, die mit diesem in häuslicher Gemeinschaft lebt, ist sie vielmehr nach der Vorschrift von dem Personenkreis ausdrücklich ausgeschlossen, mit dem solche Verträge geschlossen werden können.

In § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI heißt es: Zur Sicherstellung der häuslichen Pflege und hauswirtschaftlichen Versorgung kann die zuständige Pflegekasse einen Vertrag mit einzelnen geeigneten Pflegekräften schließen, soweit und solange eine Versorgung nicht durch einen zugelassenen Pflegedienst gewährleistet werden kann; Verträge mit Verwandten oder Verschwägerten der Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, sind unzulässig.

§ 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in der oben zitierten Fassung ist durch das 1. SGB XI-Änderungsgesetz vom 14. Juni 1996 mit Wirkung vom 25. Juni 1996 neu gefaßt und der Ausschlußtatbestand des Satz 1 2. Halbsatz eingefügt worden. Die Neuregelung ist auch im vorliegenden Fall anwendbar, obgleich die Neufassung während des hier laufenden Verfahrens, das heißt nach Antragstellung und (ablehnender) Bescheiderteilung in Kraft getreten ist. Bei einer Verpflichtungsklage, einerlei ob sie wie hier mit einer Anfechtungsklage erhoben wird oder allein, richtet sich das materielle Begehren nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BSGE 3, 95, 103; Meyer-Ladewig, a.a.O., § 54 Rdnr. 34). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz des maßgeblichen Zeitpunkts ergibt sich vorliegend auch nicht aufgrund der Tatsache, daß es bei den nach § 77 Abs. 1 SGB XI möglichen Vertragsabschlüssen auch um die Zulassung eines Bewerbers zu einer beruflichen Betätigung geht (siehe dazu grundsätzlich Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14. März 1961 – 1 C 48/57 – in NJW 1961, Seite 1275). Auch bei ordnungsgemäßer Handhabung des bisherigen Rechts wäre die Klägerin nicht bei Inkrafttreten der Neufassung des § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI im Besitz der Zulassung gewesen bzw. der Vertrag mit der Pflegekasse zustande gekommen. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 15. Mai 1995 – auch nach der alten Rechtslage – zutreffend den Vertragsschluß abgelehnt und die Vorschrift restriktiv dahingehend ausgelegt, daß mit Angehörigen eine solche vertragliche Möglichkeit nach § 77 Abs. 1 SGB XI a.F. nicht besteht. Bei häuslicher Pflege durch Angehörige hat der Gesetzgeber nach § 37 SGB XI ein Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen für den Pflegebedürftigen vorgesehen, welches dieser an Stelle der Sachleistung beantragen kann und welches gegenüber dem Wert der Sachleistung wesentlich niedriger ist. Ließe man über § 77 Abs. 1 SGB XI den Abschluß von Einzelverträgen mit Angehörigen zu, wäre über diesen Umweg die Möglichkeit eröffnet, die günstigeren Sachleistungswerte zu beziehen und über die Vergütungsregelung tatsächlich ausgezahlt zu bekommen (siehe auch Dalichau/Grüner/Müller-Alten, Pflegeversicherung, Sozialgesetzbuch 11. Buch, Stand: 1. Dezember 1997, Band I, § 77 Erläuterungen II Seite 2 und III Seite 9). Die restriktive Auslegung des § 77 a.F. SGB XI im Hinblick auf den Personenkreis, mit dem die Verträge geschlossen werden können, entspricht damit dem gesetzgeberischen Willen auch vor Inkrafttreten der Neufassung. So heißt es in den Materialien zur Neufassung des § 77 Abs. 1 Satz 1 durch das 1. SGB XI-Änderungsgesetz auch, daß die Neufassung des Satzes 1 der "Klarstellung” diene und durch die Einführung des 2. Halbsatzes in Satz 1 "deutlich” gemacht werde, daß die Regelung auf die Pflege durch Angehörige keine Anwendung findet. Dadurch – so heißt es ausdrücklich in den Materialien – wird die Umgehung des Anspruchs auf Pflegegeld (§ 37) und damit eine Überschreitung des Finanzrahmens der Pflegeversicherung verhindert (BT-Drucksache, 13/3696 zu Nr. 25 (§ 77) zu Buchstabe a). Das in § 2 SGB XI normierte Selbstbestimmungsrecht des Pflegebedürftigen findet an dem (gesetzlichen) Ausschluß seine Grenze (s. a. Spellbrink in Hauck/Wilde, a.a.O., Rdnr. 8).

Der Ausschlußtatbestand in § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz n.F. SGB XI ist auch nicht verfassungswidrig, gemessen an Artikel 3 des Grundgesetzes (GG). Der Gesetzgeber hat bei der häuslichen Pflege unterschieden zwischen der nicht erwerbsmäßigen Pflege durch Pflegepersonen, insbesondere durch Angehörige (§ 19 SGB XI), und der erwerbsmäßigen Pflege durch – fremde – Pflegekräfte. Bei beiden Tatbeständen der Pflege muß diese in geeigneter Weise sichergestellt sein (siehe § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). Daß der Gesetzgeber diese beiden – unterschiedlichen – Tatbestände hinsichtlich der Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Finanzrahmens der Pflegeversicherung auch unterschiedlich behandelt hat und bei Pflegepersonen, die den Pflegebedürftigen nahestehen, eine geringere Vergütung – in Form des Pflegegeldes nach § 37 SGB XI – vorsieht, ist nach Artikel 3 GG (Gleichbehandlungsgrundsatz) nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da der Rechtsstreit im Rahmen von Vertragsstreitigkeiten nach § 77 Abs. 1 SGB XI bisher höchstrichterlich nicht geklärt und von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Rechtskraft
Aus
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