L 8 Kr 984/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 Kr 984/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 23. August 1977 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Mit dem am 17. November 1975 eingegangenen Schriftsatz begehrte die verheiratete Klägerin als Mitglied der Beklagten Erstattung der Kosten für die Elektroneuralbehandlung durch Dr. med. W., (Beigeladener zu 2) für die Zeit vom 13. August bis 15. Oktober 1975 und fügte dem die beiden Liquidationen 0827 und 0827 A vom 31. Oktober 1975 über einen Betrag von 653,– DM und von 600,– DM = insgesamt 1.253,– DM bei.

Durch Bescheid vom 8. März 1976 lehnte die Beklagte die Erstattung ab, da die von dem Beigeladenen zu 2) nach dem Croon’schen Verfahren praktizierte Elektroneuraltherapie von der Kassenärztlichen Vereinigung (Beigeladene zu 1) nicht anerkannt sei.

Hiergegen erhob die Klägerin am 11. März 1976 Widerspruch. Sie habe den von dem behandelnden Hausarzt Dr. med. W. St., am 28. August 1975 ausgestellten Überweisungsschein für einen Facharzt für innere Medizin nicht beansprucht und damit der Beklagten Aufwendungen erspart. Dr. med. St. habe sie nur aufgesucht, um sich von diesem – wie in den Jahren zuvor – Tabletten verschreiben zu lassen. Sie sei nicht ausschließlich nach dem Croon’schen Verfahren behandelt worden; deshalb lägen auch zwei gesonderte Rechnungen des Beigeladenen zu 2) vor. Sie habe sich Privatrechnungen erteilen lassen, weil dies so mit der Verwaltungsstelle der Beklagten in vereinbart sei.

Die Beklagte hat das Widerspruchsschreiben vom 10. März 1976, die Zustimmung der Klägerin vom 24. März 1976 sowie die Entscheidung der Widerspruchsstelle vom 21. April 1976 dem Sozialgericht Marburg (SG) am 19. Mai 1976 gemäß § 85 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugeleitet und beantragt, den als Klage zu behandelnden Widerspruch abzuweisen.

Nach Beiziehung der Behandlungsunterlagen des prakt. Arztes Dr. med. St. hat das SG durch Urteil vom 23. August 1977 die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 8. März 1976 (und 21. April 1976) verurteilt, der Klägerin die Kosten für die Elektroneuraltherapie in Höhe von 1.253,– DM zu erstatten. Das SG hat die Berufung zugelassen. Die Voraussetzungen des § 182 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. § 368 e S. 1 RVO seien gegeben. Zwar sei unstreitig, die Elektroneuraltherapie vom wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer noch nicht als wissenschaftlich, ausreichend geklärt angesehen. Aufgrund der in dem Verfahren – S-3a/Kr – 11/75 – eingeholten schriftlichen Auskunft von der Landesärztekammer Hessen gelte dies nach Mitteilung des wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer jedoch nur grundsätzlich; andererseits werde diese Methode zunehmend angewendet, so daß vorliegend die Anerkennung der Elektroneuraltherapie als Sachleistung zu rechtfertigen sei. Die Behandlung habe der seinerzeit an Diabetes, LWS-Syndrom, Ketonurie, Angiopathie erkrankten Klägerin gut getan, was unstreitig sei. Nach dem in dem o.a. Parallelverfahren als Sachverständigen gehörten Oberarzt Prof. Dr. med. L. der Universitätsnervenklinik beruhe der Erfolg der Elektroneuraltherapie vorwiegend auf einer psychischen Komponente. Nachteilige Folgen dieser seit etwa 25 Jahren in der Bundesrepublik praktizierten Methode seien nicht zu erkennen. Kassenpatienten sei deshalb diese Behandlung nicht zu versagen.

Gegen das ihr am 2. September 1977 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. September 1977 bei dem Hessischen Landessozialgericht (HLSG) Berufung eingelegt. Die sogenannte Elektroneuraltherapie nach. Dr. med. R. C., in der das Neuroprontgerät zu Diagnosezwecken und ein Perduktor als Therapiegerät angewendet werden, sei nach. Auffassung des nach § 14 des Bundesmanteltarifvertrages gebildeten "Ausschusses für Untersuchungs- und Heilmethoden” wissenschaftlich noch nicht genügend erprobt und, gehöre nicht zur kassenärztlichen Behandlung. Eine Kostenerstattung der auf private Kosten durchgeführten Neuraltherapie scheide nach der Rechtsprechung aus (vgl. BSG, Urteil vom 20. Juli 1976 – 3 RK 18/76). Bei der Vernehmung des Beigeladenen zu 2) in dem Parallelverfahren – S-3a/Kr – 11/75 – durch das SG sei eine objektive Bewertung der Neuraltherapie nicht zu erlangen gewesen. Die Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. med. L., als Vertreter der Schulmedizin, zu dieser umstrittenen Behandlungsmethode habe dieses Gericht übergangen wie auch die angebliche Zustandsbesserung durch diese Behandlungsmethode ohne Anhörung eines neutralen Sachverständigen als nicht gesichert angesehen werden könne. Schließlich werde der Erstattungsanspruch der Höhe nach bestritten.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 23. August 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Durch Beschluss vom 17. Januar 1978 hat der Senat die Hessen (Beigeladene zu 1) und Dr. med. W., (Beigeladener zu 2) gemäß § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zu dem Verfahren beigeladen.

Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Verwaltung- und Gerichtsakten – besonders die des Parallelverfahrens S-3a/Kr – 11/75 – Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die kraft Zulassung statthafte Berufung, über die trotz Ausbleibens des Klägers und seines Prozeßbevollmächtigten sowie des Beigeladenen zu 2) der Senat entscheiden konnte, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 110 Abs. 1 SGG), ist frist- und formgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Abs. 1 i.V.m. § 150 Nr. 1 SGG).

Die Beigeladene zu 1), die , und der Beigeladene zu 2), Dr. med. , waren dem Verfahren gemäß § 75 Abs. 2 SGG durch Beschluss vom 17. Januar 1978 beizuladen, da die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann.

Die Berufung der Beklagten ist auch begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der durch die streitige Elektroneuraltherapiebehandlung privatärztlich von den Beigeladenen zu 2) liquidierten Kosten im Betrag von 1.253,– DM. Der Auffassung des SG, im vorliegenden Fall sei die Anwendung der Elektroneuraltherapie als Sachleistung zu rechtfertigen, weil diese Methode vermehrt angewendet werde und bei der Klägerin zu einem angeblich noch heute anhaltenden Heilerfolg geführt habe, kann nicht beigepflichtet werden.

Die Voraussetzungen des § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a RVO sind nicht erfüllt. Nach dieser Bestimmung ist ärztliche Behandlung dem Anspruchsberechtigten als Sachleistung zur Verfügung zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 20. Juli 1976 – 3 RK 18/76); sie muß ausreichend und zweckmäßig sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 182 Abs. 2 RVO). Diese Voraussetzungen sind nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu bestimmen (vgl. § 368 e RVO), wobei die ärztliche Behandlung nur durch approbierte Ärzte ausgeübt werden darf (§ 122 RVO), die an der kassenärztlichen Versorgung mitwirken (§§ 368 ff. RVO). Ärzte und Krankenkassen (§ 225-RVO, § 44 KVLG) haben zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung zusammenzuwirken. Entsprechend den §§ 368 a bis s RVO (vgl. § 368 Abs. 1 RVO) haben die kassenärztlichen Vereinigungen die den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung im Rahmen des § 368 Abs. 2 RVO sicherzustellen und den Krankenkassen gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, daß die kassenärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht (§ 368 n Abs. 1 RVO).

Die Beurteilung der Behandlungsmethoden, die den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen sollen, obliegt im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung nicht den Krankenkassen. Vielmehr regelt der aufgrund der ergänzenden Vorschrift des § 368 g RVO zwischen der kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Bundesverbänden der Orts-, Betriebs-, Innungs- und Landwirtschaftlichen Krankenkassen abgeschlossene Bundesmanteltarifvertrag – Ärzte vom 1. August 1959 (DOK 1959, 439 = BKK 1959 Sp 503), zuletzt geändert durch die Änderungsvereinbarung vom 1. Oktober 1974 (= BKK 1974, 310) die kassenärztliche Versorgung, die den Berechtigten gegenüber den Krankenkassen nach Gesetz, Satzung und versicherungsrechtlichem Abkommen zusteht. Dabei bildet er den allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge (§ 368 g Abs. 2 RVO) und ist verbindlich, soweit Ausnahmen nicht vorgesehen sind.

Die Elektroneuraltherapie nach Dr. med. R. C., ist nach Auflassung des Ausschusses für Untersuchungs- und Heilmethoden klinisch, und wissenschaftlich noch nicht genügend erprobt und gehört daher nicht zur kassenärztlichen Behandlung, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist.

Dabei darf sich das Gericht hinsichtlich der wissenschaftlichen Anerkennung einer bestimmten Behandlungsmethode auf die gutachtlichen Äußerungen der Vertreter der Schulmedizin stützen (vgl. BSG, Beschluss vom 14. März 1975 – e RK 38/73 = USK Sammlungs-Nr. 7516/3/1975). Die Anhörung eines Vertreters der wissenschaftlich nicht anerkannten Lehrmethode ist dagegen nicht erforderlich. Auch in dem o.a. Rechtsstreit hat das BSG die Erstattung der Kosten für eine in der Privatklinik des Beigeladenen zu 2) durchgeführte Elektroneuraltherapie verneint, eine Auffassung, die auch der Hessische Minister des Innern im Erlaß vom 29. Juli 1976 (StAnz für das Land Hessen 1976, 1458) – unter Aufhebung des entgegenstehenden Erlasses des. Hessischen Ministers für Finanzen aus dem Jahre 1957 – vertritt. Danach können grundsätzlich keine Beihilfen zu Aufwendungen für die Elektroneuraltherapie gewährt werden.

Aber auch eine Kostenerstattung der auf private Kosten durchgeführten Elektroneuraltherapie der Klägerin ist nicht möglich (vgl. BSG, Urteil vom 20. Juli 1976 – 3 RK 18/76). Die Beklagte hat sich im Rahmen ihrer Entscheidungsbefugnis gehalten, indem sie sich auf die gutachtlichen Äußerungen der maßgebenden Vertreter der Schulmedizin – hier: u.a. Prof. Dr. med. L., in dem Parallelverfahren des SG (S-3a/Kr – 311/75) – berufen hat (vgl. ferner die Antwort des Prof. Dr. med. S., vom 14. Dezember 1968 an den Beigeladenen zu 2).

Gehört die Entscheidung, ob eine bestimmte Therapieform als notwendig Behandlung anzusehen ist, medizinisch-wissenschaftlich in den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen zu 1), so fällt diejenige über die Notwendigkeit in den Zuständigkeitsbereich der Krankenkassen, die die finanziellen Lasten für die notwendige Behandlung im Rahmen der an die Kassenärztliche Vereinigung zu entrichtenden Gesamtvergütung zu tragen haben (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 1. Juni 1977 – 3 RK 41/75).

Hiervon ausgehend hat die Beklagte zu Recht eine Kostenerstattung für die bei der Klägerin durch den Beigeladenen zu 2) durchgeführte privatärztliche Behandlung mit Elektroneuraltherapie abgelehnt, weil dieses Verfahren auch nach Überzeugung des Senats nach den Regeln der ärztlichen Kunst nicht zweckmäßig war und auch nicht den Geboten der Wirtschaftlichkeit und Notwendigkeit entsprach (§ 368 e RVO). Diese Maßstäbe bestimmen sich nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft unter Zugrundelegung der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung, wobei sich der Senat auf die Äußerungen der Vertreter der Schulmedizin – ohne nochmalige Beweiserhebung – stützen durfte (vgl. BSG, Beschluss vom 14. März 1975 – 3 RK 38/73). Die Erprobung wissenschaftlich (noch) nicht fundierter Behandlungsmethoden gehört nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. auch Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 368 e RVO, Anm. 2a). So hat der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer mehrfach – zuletzt 1975 – die Auffassung vertreten, daß die Elektroneuraltherapie generell noch nicht als wissenschaftlich ausreichend geklärt anzusehen und ihre Anwendung grundsätzlich nicht "ausreichend” und "zweckmäßig” im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung sei. Nach der im Parallelverfahren des SG Marburg – S-3a/Kr – 11/75 – erteilten Auskunft des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, Hamburg, vom 9. März 1977 ist diese Behandlungsmethode bisher deshalb nicht als eine wissenschaftlich fundierte Heilmethode anerkannt, weil sich keine klare Beziehung zwischen ihr und der Änderung subjektiver Beschwerden nachweisen ließ. Insoweit handele es sich offenbar um Suggestivwirkungen. Soweit sich der Beigeladene zu 2) auf die Placebofunktion der Elektroneuraltherapie beruft, können derartige Effekte nicht von der Beklagten honoriert werden.

Bei der Wirksamkeit dieser Therapie kommt es entgegen der Auffassung des SG auch nicht auf die subjektiven Empfindungen Der insoweit an einer persönlichen Darstellung interessierten Klägerin an, wie auch die Einhaltung des Maßes des Notwendigen nicht schon aus maßvollen Liquidationen des Beigeladenen zu 2) hergeleitet werden kann. Eine über einen jahrelangen Zeitraum erfolgte Anwendung einer Behandlungsmethode – z.B. Akupunktur und Zelltherapie – beweist noch nicht, daß diese mit den Regeln der ärztlichen Kunst vereinbar ist.

Die Beklagte hat die streitigen Rechnungen (Liquidationen) auch nicht teilweise zu erstatten, da der Beigeladene zu 2) in derartigen Fällen der Privatbehandlung in seiner Privatklinik diese Behandlungsmethode offensichtlich bevorzugt und diese bei der Klägerin angewendete Behandlung zusammen mit den ihr vorausgehenden diagnostischen und sonstigen Maßnahmen als Einheit angesehen werden muß.

Schließlich hat die Beklagte der Klägerin auch keine nachweisbare Kostenzusage erteilt; vielmehr kann es sich insoweit lediglich nur um eine falsche Schalterauskunft von Bediensteten der Beklagten gehandelt haben, die allenfalls Anlaß für die Erhebung einer Amtshaftungsklage geben könnte. Für eine solche sind jedoch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sachlich unzuständig.

Nach alledem war das angefochtene Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG; die über die Nichtzulassung der Revision auf § 100 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved