L 8 Kr 1413/78

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 6 Kr 43/78
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 Kr 1413/78
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Wiedergewährung von Krankengeld nach Ablauf der Dreijahresfrist des § 183 Abs. 2 S. 1 RVO ist unabhängig von der gewählten Form in jedem Fall ein Verwaltungsakt.
2. Dieser Verwaltungsakt ist der Bindungswirkung des § 77 SGG fähig.
3. Ist die Wiedergewährung nicht unter zulässigem Vorbehalt erfolgt und liegt Arbeitsunfähigkeit vor, so kann das wiedergewährte Krankengeld nur unter den Voraussetzungen des § 1744 RVO entzogen werden (Anschluß an BSG v. 20.12.1978 – 3 RK 42/78 = SozR 2200 § 183 Nr. 9).
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 29. September 1978 sowie die Bescheide der Beklagten vom 12. Januar 1978 und vom 26. Januar 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 1978 aufgehoben.

II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über den 31. Dezember 1977 hinaus Krankengeld im gesetzlichen Umfang weiterzugewähren.

III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Weitergewährung von Krankengeld in der dritten Blockfrist.

Der 1936 geborene Kläger war ab 9. Januar 1956 als Lagerarbeiter bei der Firma O. AG Versicherungspflichtig beschäftigt und Mitglied der beklagten Betriebskrankenkasse. Am 16. Juni 1971 erkrankte er an einer Ischiasneuritis, Tachycardie und vegetativer Dystonie. Die Beklagte zahlte ihm Krankengeld vom 16. Juni 1971 bis 10. Januar 1973, vom 16. Juni 1974 bis 31. Dezember 1975 und erneut ab 16. Juni 1977, weil der Kläger wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig war und zu den genannten Zeitpunkten die zweite bzw. dritte Blockfrist begann.

Bereits während des ersten Krankengeldbezuges hatte der Kläger am 19. Oktober 1972 bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) H. einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gestellt. Nach Ablehnung seines Antrags durch Bescheid vom 18. Juni 1973 und Abweisung der dagegen erhobenen Klage durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Darmstadt vom 21. Februar 1974 wurde ihm aufgrund des Urteils des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. August 1975 mit Bescheid vom 15. September 1976 Versichertenrente für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis 30. September 1976 gewährt. Den Antrag des Klägers auf Weitergewährung der Rente vom 23. September 1976 lehnte die LVA Hessen durch Bescheid vom 2. Januar 1978 ab, die dagegen erhobene Klage wurde durch Urteil des SG Darmstadt vom 7. Mai 1980 abgewiesen.

Durch Bescheide vom 12. Januar 1978 und 26. Januar 1978 teilte die Beklagte dem Kläger unter Hinweis auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. Oktober 1977 – 3 RK 35/78 – und – 3 RK 8/77 – mit, daß die Zahlung von Krankengeld mit Wirkung vom 31. Dezember 1977 einzustellen sei. Den Widerspruch des Klägers wies sie durch Widerspruchsbescheid vom 31. März 1978 mit der Begründung zurück, daß der Kläger – wie ihm mitgeteilt worden sei – am 1. Februar 1973 gemäß § 257 a Abs. 1 Satz 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgrund eines Anspruchs auf Familienkrankenhilfe Mitglied der beigeladenen Barmer Ersatzkasse (BEK) geworden sei, da über seinen Rentenantrag vom 19. Oktober 1973 noch nicht entschieden gewesen sei. Nach den genannten Urteilen des BSG habe danach u.a. auch ab 16. Juni 1977 ein Anspruch auf Krankengeld nicht bestanden, weil es an einer Mitgliedschaft mit Anspruch darauf gefehlt habe. Die Beklagte zahlte dem Kläger das Krankengeld insgesamt noch bis zur Zustellung des Bescheides am 13. April 1978; auf die Rückforderung für den Monat Januar 1978 hat sie zwischenzeitlich verzichtet.

Die am 9. Mai 1978 erhobene Klage, mit der der Kläger die Zahlung von Krankengeld über den 31. Dezember 1977 hinaus im Rahmen der Blockfrist begehrte, hat das SG Darmstadt durch Urteil vom 29. September 1978 mit der Begründung abgewiesen, daß ein Anspruch auf Krankengeld mangels Mitgliedschaft nicht bestanden habe. Diese sei am 10. Januar 1973 erloschen, da der Kläger von diesem Zeitpunkt an kein Arbeitsentgelt aus einer Versicherungspflichtigen Beschäftigung mehr erzielt habe. Weder das bis zum März 1977 andauernde Beschäftigungsverhältnis bei der Fa. O. noch die Gewährung von Krankengeld schließe eine Mitgliedschaft ein, wie aus § 183 Abs. 1 RVO zu ersehen sei. Als Rentenantragsteller und Rentner sei der Kläger zwar gemäß §§ 315 a, 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO Pflichtversicherter der Kasse gewesen, jedoch ohne Anspruch auf Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Ebensowenig habe die Familienkrankenhilfe einen solchen Anspruch begründet, so daß dahinstehen könne, ob zwischenzeitlich auch eine Mitgliedschaft nach § 257 a RVO bestanden habe.

Gegen das am 23. November 1978 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12. Dezember 1978 Berufung eingelegt. Er trägt vor: Selbst wenn der Bescheid über die Bewilligung von Krankengeld rechtswidrig gewesen sein sollte, sei ein Widerruf gemäß § 48 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) ausgeschlossen, weil der Kläger auf seinen Bestand habe vertrauen dürfen. Außerdem sei er gemäß § 165 Abs. 1 Nr. 1 RVO und nicht als Rentenantragsteller pflichtversichert gewesen, so daß weder § 315 a RVO noch § 257 a RVO zur Anwendung komme. Zumindest sei er – selbst bei zwischenzeitlicher Zuständigkeit der BEK – wieder Mitglied der Beklagten geworden. Bis zur Zubilligung der Rente habe er Anspruch auf Krankengeld gehabt, der nach Wegfall der befristeten Rente wieder aufgelebt sei.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 29. September 1978 sowie die Bescheide der Beklagten vom 12. Januar 1978 und 26. Januar 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 1978 aufzuheben und ihm über den 31. Dezember 1977 hinaus Krankengeld im Rahmen der Blockfrist weiterzugewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Beschluss vom 29. Mai 1980 beigeladene BEK, die einen am 3. April 1978 gestellten Antrag des Klägers auf Krankengeld durch Bescheid vom 11. April 1978 abgelehnt hat, ist der Auffassung, daß die Beklagte dem Kläger innerhalb der dritten Rahmenfrist nach den Grundsätzen des Urteils des BSG vom 19. Januar 1980 – 3 BK 5/79 – Krankengeld zu zahlen habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere auf den der Kassenakten der Beklagten, der Beigeladenen und der LVA Hess sowie der Gerichtsakten S-2/J-17/78, die vorgelegen haben, Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 Abs. 1 SGG).

Sie ist auch begründet.

Die Beklagte war nicht berechtigt, dem Kläger die seit 16. Juni 1977 wiedergewährten Leistungen ab 1. Januar 1978 zu entziehen. Der Kläger kann sich vielmehr auf die Bestandskraft der Leistungsbewilligung gemäß § 77 SGG berufen, wonach Verwaltungsakte, gegen die ein Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt worden ist, für die Beteiligten in der Sache bindend sind, wenn nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist.

Die Wiedergewährung von Krankengeld an den Kläger nach Ablauf der Drei Jahresfrist nach § 183 Abs. 2 Satz 1 RVO am 16. Juni 1977 war ein Verwaltungsakt, d.h. die Maßnahme einer Verwaltungsbehörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur Regelung eines Einzelfalls. Ein solcher kann, sofern – wie in der Krankenversicherung – eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben ist, schriftlich, mündlich oder auch auf andere Weise erlassen werden (vgl. auch die Regelung in §§ 1, 37 Abs. 2 Satz 1 VwVfG vom 25.05.1976 BGBl. I 1253). Selbst wenn die Leistungsbewilligung nicht durch ausdrücklichen Bescheid oder durch formlose Schreiben, sondern nur mündliche oder – wie hier – durch Mitteilung in Form eines Auszahlungsscheins oder gar nur durch konkludente Handlung (Überweisung des Geldes) erfolgt, handelt es sich immer um einen Verwaltungsakt (so Urteil des BSG vom 20.12.1978 – 3 RK 42/78 SozR 2200 § 183 Nr. 19). Das Urteil des 3. Senats des BSG vom 23. November 1976 – 3 RK 86/63 (SozR § 77 SGG Nr. 55) steht nicht entgegen. Darin ist zwar ausgeführt, daß bei der Leistungsgewährung am "Schalter”, insbesondere bei der Zahlung von Krankengeld, regelmäßig ein "schlichtes” Verwaltungshandeln und kein der Bindungswirkung des § 77 SGG fähiger Verwaltungsakt anzunehmen sei, weil die Natur dieser zur Existenzsicherung bestimmten Leistung regelmäßig eine gründliche Prüfung des Sachverhalts ausschließe und die Leistung deshalb – auch für den Empfänger erkennbar – nur unter dem Vorbehalt späterer genauerer Prüfung gewährt werde. Auch der Auszahlungsschein wurde nicht als Leistungsbescheid, sondern lediglich als Unterlage für die technische Abwicklung des Leistungsfalls gewertet. Der gleiche Senat hat in seinem o.a. Urteil vom 20. Dezember 1978, das einen gleichgelagerten Fall betraf, gegen diese Rechtsprechung jedoch zu Recht unter eingehender Auseinandersetzung mit dem Begriff des Verwaltungsaktes grundsätzliche Bedenken zum Ausdruck gebracht und sie jedenfalls für den Fall abgelehnt, daß es sich – wie hier – nicht um die Erstgewährung, sondern um die Wiedergewährung von Krankengeld handelt, weil dann die Voraussetzungen, die für die Annahme einer erleichterten Rücknehmbarkeit von Leistungsgewährungen maßgebend waren, nicht vorlägen. Auch beim Kläger besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß die Beklagte das Krankengeld den Umständen nach nur "schlicht” und (oder) aufgrund summarischer Prüfung mit einem für diesen Fall u.U. anzunehmenden Vorbehalt gewähren konnte und gewährt hat, da die durchgehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers wegen derselben Krankheit völlig außer Streit stand und steht und die Berechnungsgrundlagen für das Krankengeld – abgesehen von der Dynamisierungsvorschrift des § 182 Abs. 8 RVO – sich nicht geändert haben. Die Rücknahme der Leistungsgewährung erfolgte auch nur deshalb, weil die Beklagte aufgrund der von ihr zitierten Urteile des BSG nachträglich zu der Auffassung gelangte, daß ihre rechtliche Beurteilung des Falles nicht richtig sei.

Der Verwaltungsakt, mit dem die Beklagte dem Kläger danach das Krankengeld vorbehaltslos wiedergewährt hat, ist mit seinem Erlaß für die Beklagte bindend geworden (vgl. auch § 43 Abs. 1 VwVfG). Die Voraussetzungen, unter denen rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte, durch die Leistungen festgestellt worden sind, zurückgenommen werden dürfen, sind durch das Dritte und Sechste Buch der RVO im wesentlichen erschöpfend und abschließend geregelt (BSGE 18, 84; 24, 203 SozR § 77 RVO Nr. 23). Im vorliegenden Fall ist grundsätzlich § 1744 RVO anwendbar (vgl. BSG SozR 2200 § 183 Nr. 19), wonach unter den in den Nrn. 1 bis 6 näher geregelten Voraussetzungen gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eines Versicherungsträgers eine Prüfung beantragt und vorgenommen werden kann. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob die Beklagte die für den Entzug der Leistungen angeführten Urteile des BSG richtig verstanden hat, d.h. ob die zu Beginn der dritten Blockfrist aufgrund des Antrags auf Weitergewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente vom 23. September 1976 bestehende Formalmitgliedschaft des Klägers als Rentenantragsteller (§ 315 a RVO) zum Wiederaufleben des Krankengeldanspruchs nicht ausreichte (vgl. dazu Urteile des BSG vom 28.11.1979 – 3 RK 90/78 –, 12.12.1979 – 3 RK 36/79 und 29.1.1980 – 3 RK 57/79). Es konnte auch unentschieden bleiben, ob die vom Kläger nicht abgewählte Kassenzuständigkeit der Beklagten und nicht die der "Familienkasse” gemäß § 257 a Abs. 1 S. 3 RVO gegeben war (vgl. dazu Urteile des BSG vom 19.12.1979, 8b/3 RK 25/77 und 8.5.1980 – 8a RK 11/79) und ob die Beklagte selbst unabhängig davon zur Abwicklung des Versicherungsfalls hinsichtlich der Barleistungen verpflichtet war (§ 212 RVO; BSGE 31, 69; 1, 161).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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