Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Speyer (RPF)
Aktenzeichen
S 12 U 235/04
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 U 82/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft liegen hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zwischen Einwirkungen von Herbiziden und Pestiziden in der Landwirtschaft und der Entstehung von ALS-Erkrankungen nicht vor.
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 30.11.2006 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die auf Hinterbliebenenleistungen gerichtete Klage als unzulässig abgewiesen wird.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist, ob bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin in Bezug auf dessen amyotrophe Lateralsklerose (ALS) die Voraussetzungen einer Berufskrankheit (BK) oder einer Wie-Berufskrankheit (§ 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung – RVO – bzw § 9 Abs 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VII) erfüllt waren.
Der 1942 geborene und am 23.5.1999 verstorbene Ehemann der Klägerin (H) erlernte von 1959 bis 1961 den Beruf eines Pflanzenschutztechnikers und arbeitete danach im Garten- und Weinbau. Von 1971 bis 1978 war er mit der Erforschung von Pflanzenschutzmitteln in der Firma S betraut. Von 1979 bis April 1982 arbeitete er als Gärtner in der Grünflächenabteilung der Stadt F. Von 1982 bis 1995 war er neben der Tätigkeit in seinem eigenen Winzer- und Obstbaubetrieb als Subunternehmer Firma der S mit dem Befüllen von Kesselwagen mit Spritzmitteln befasst.
Im Januar 1997 erstattete der Nervenarzt Dr B (T ) eine Anzeige über eine BK bei H. Dr V (Oberarzt der Neurologischen Klinik der Universität M ) berichtete der Beklagten im April 1997: Bei der ALS, an welcher H leide, handele es sich um ein degeneratives Nervenleiden ungeklärter Ursache; vereinzelt seien Fallberichte über toxische Einflüsse veröffentlicht worden; eine Einschätzung, ob ein begründeter Verdacht auf das Vorliegen einer BK vorliege, sei ihm nicht möglich.
Die Technische Abteilung der Beklagten führte im Dezember 1997 aus, H sei einer erheblichen beruflichen Belastung durch Pflanzenschutzmittel ausgesetzt gewesen. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch Prof Dr Dr D (Neurologische Klinik des Städtischen Klinikums K ) vom Juni 1998, der ausführte: Ein sicherer Zusammenhang zwischen Toxinen und einer ALS habe bisher nicht bewiesen werden können. Eine BK liege aus neurologischer Sicht nicht vor; empfohlen werde aber die Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens. Der Staatliche Gewerbearzt A äußerte sich im Juli 1998: Nach Durchsicht der aktuellen Fachliteratur könne ein Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Pflanzenschutzmitteln und ALS nicht bestätigt werden. Daraufhin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6.10.1998 und Widerspruchsbescheid vom 17.6.1999 die Anerkennung einer BK sowie einer Wie-BK (§ 9 Abs 2 SGB VII) ab.
In dem anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Speyer (S 12 U 259/99) schlossen die Beteiligten einen Vergleich, wonach die Beklagte eine nochmalige Prüfung der arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen einer BK bzw Wie-BK vornehmen werde. Sodann holte die Beklagte eine Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom September 2002 ein, wonach dort keine neuen Erkenntnisse darüber vorlägen, ob eine Exposition gegenüber Pestiziden und Herbiziden eine ALS verursachen könne. Daraufhin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 8.10.2002 und Widerspruchsbescheid vom 20.7.2004 erneut die Anerkennung als BK sowie Wie-BK ab.
Am 5.8.2004 hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat auf ihren Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten von PD Dr M (Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität M ) vom Juni 2006 eingeholt. Dieser hat dargelegt: Bei H habe eine Mischexposition vorgelegen, sodass die Erkrankung nicht unter eine bestimmte Nummer der BKV subsumiert werden könne. Zwar sei es nach dem Stand der Wissenschaft möglich, dass neben genetischen Faktoren auch Umweltfaktoren einschließlich Pestiziden und Herbiziden als Mitursache einer ALS, an welcher H verstorben sei, in Betracht kämen. Dies sei jedoch wissenschaftlich nicht gesichert. Auch für Personen, die wie H in einem sehr hohen Maße gegenüber Herbiziden exponiert gewesen seien, gebe es keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass diese beim Menschen eine ALS verursachen könnten.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, die ALS von H als BK bzw wie eine BK anzuerkennen und ihr als Rechtsnachfolgerin von H Verletztenrente sowie Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Durch Urteil vom 30.11.2006 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Bei H seien weder die Voraussetzungen einer BK noch einer wie eine BK zu entschädigenden Erkrankung (§ 9 Abs 2 SGB VII) erfüllt gewesen. Denn die ALS von H sei nicht mit Wahrscheinlichkeit beruflich bedingt gewesen, wie aus dem Gutachten des PD Dr M hervorgehe.
Gegen dieses ihren Prozessbevollmächtigten am 8.2.2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 8.3.2007 eingelegte Berufung der Klägerin, die vorträgt: PD Dr M habe die Toxizität der beruflichen Schadstoffeinwirkungen von H unterschätzt. Er habe insbesondere einer Kombinationswirkung, ua in Bezug auf Belastungen durch Schwefelkohlenstoff, nicht hinreichend Rechnung getragen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Speyer vom 30.11.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8.10.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.7.2004 aufzuheben, die ALS ihres verstorbenen Ehemannes als BK bzw wie eine BK anzuerkennen und ihr als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes Verletztenrente sowie Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Prozessakte S 12 U 259/99 (SG Speyer) sowie die Prozessakte des vorliegenden Rechtsstreits verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zur Begründung verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs 2 SGG), wobei er Folgendes ergänzt:
Hinsichtlich des Antrags der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ist die Klage unzulässig, weil es an der erforderlichen vorherigen Durchführung eines Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens fehlt. Im übrigen ist die Klage zulässig, hat jedoch keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Verletztenrente als Sonderrechtsnachfolgerin (§ 56 Abs 1 Nr 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch –SGB I) ihres verstorbenen Ehemanns, weil bei dem Verstorbenen die Anforderungen einer BK oder einer Wie-BK nicht erfüllt waren.
Die Voraussetzungen der BK Nr 1305 ("Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff") lagen nicht vor. Bei den sog "offenen-BK-Tatbeständen", bei denen in der BK-Liste lediglich eine Erkrankung genannt wird, ohne dass eine bestimmte berufliche Noxe aufgeführt ist, kommt die Anerkennung als BK nur in Betracht, wenn festgestellt wird, dass die angeschuldigte Noxe generell geeignet ist, die konkrete Erkrankung zu verursachen (BSG 18.8.2004 – B 8 KN 1/03 U R). Dies ist vorliegend ausgehend von den Darlegungen von PD Dr M (Bl 41 seines Gutachtens) zu verneinen. Zwar können Pflanzenschutzmittel zu Schwefelkohlenstoff metabolisiert werden. Die toxikologische Plausibilität des Zusammenhangs genügt jedoch für die Feststellung der generellen Geeignetheit nicht. Unabhängig davon spricht im Fall des Versicherten entscheidend gegen eine Verursachung durch Schwefelkohlenstoff, dass eine isolierte Pyramidenbahnschädigung durch Schwefelkohlenstoff sehr ungewöhnlich ist. Im Falle einer wesentlichen Intoxikation von Schwefelkohlenstoff wäre zusätzlich mit anderen neurologischen Schädigungen zu rechnen gewesen, zB Schäden am Sehnerv, Akkomodationsstörungen oÄ, die indes nicht feststellbar waren.
Auch die BK Nr 1317 ("Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische") lag bei dem Verstorbenen nicht vor. Nach PD Dr M (Bl 36 seines Gutachtens) ist aus toxikologischer Sicht von einer relativ geringgradigen Lösungsmittelbelastung auszugehen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Beurteilung unzutreffend ist, sind nicht ersichtlich. Deshalb erübrigen sich Feststellungen, ob bei dem Versicherten – evtl neben der ALS – überhaupt eine Polyneuropathie iSd BK Nr 1317 vorgelegen hat.
Ferner bestand bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin auch keine BK Nr 1307 ("Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen"). Ebenso wie bei der BK Nr 1305 gilt auch insoweit, dass es der Feststellung der generellen Geeignetheit zur Verursachung einer ALS bedürfte, um im konkreten Fall von H von einem wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang ausgehen zu können. Hinreichend gesicherte Erkenntnisse hinsichtlich eines solchen Ursachenzusammenhangs sind aber bezüglich ALS allgemein für Umweltnoxen nicht gesichert, wie aus den Ausführungen von PD Dr M hervorgeht (S. 26 ff des Gutachtens). PD Dr M hat im Übrigen bei seiner Begutachtung auch Phosphate im Blick gehabt, wie aus seiner Erwähnung der Organophosphate im Zusammenhang mit der Erörterung des Aussagewertes eines Biological Monitorings (S. 34 des Gutachtens) hervorgeht.
Soweit die Klägerin zeitweise die BK Nr 1303 ("Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol") angesprochen hat, fehlt es an jeglichen Hinweisen für die generelle Geeignetheit zur Verursachung einer ALS. Auch insoweit ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass für diese Erkrankung ein Ursachenzusammenhang hinsichtlich aller Umweltnoxen nicht gesichert ist.
Letztlich fehlt es auch an den Voraussetzungen für eine Entschädigung als Wie-Berufskrankheit, wobei offen bleiben kann, ob insoweit § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) – anwendbar für Versicherungsfälle vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 – oder § 9 Abs 2 SGB VII – anwendbar für Versicherungsfälle ab dem 1.1.1997 – einschlägig wäre. Denn es mangelt an hinreichenden generellen Erkenntnissen für eine Überhäufigkeit von ALS-Erkrankungen infolge chemischer Substanzen, wie sie auf den verstorbenen Ehemann der Klägerin eingewirkt haben. Aus den eingehenden Darlegungen von PD Dr M folgt, dass genügende Anhaltspunkte für einen generellen Zusammenhang zwischen Einwirkungen durch Pestizide und Herbizide und einer ALS nicht vorhanden sind. Dies gilt auch für eine Kombinationswirkung mehrerer schädigender Einwirkungen. Soweit die Klägerin die von PD Dr M zitierte schwedische Studie aus dem Jahre 1992 als nicht aussagekräftig ansieht, ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO bzw des § 9 Abs. 2 SGB VII nur erfüllt wären, wenn gesicherte positive Erkenntnisse über eine vermehrte Häufigkeit von ALS-Leiden aufgrund der Substanzen, denen H während seiner beruflichen Tätigkeit ausgesetzt war, vorliegen würden. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die Gesamtbeurteilung von PD Dr M hinsichtlich des epidemiologischen Aussagewerts der von ihm zitierten Studien steht im Einklang mit dem Ergebnis der von dem Gutachter referierten Übersichtsarbeiten (S. 26 ff. des Gutachtens). Dem Umstand, dass Substanzen, mit denen der verstorbene Ehemann der Klägerin in Berührung kam, mittlerweile EU-rechtlich verboten sind, kommt keine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung des Zusammenhangs mit einer bestimmten Erkrankung – hier: ALS – zu. Die von der Klägerin angestellten Vergleiche mit dem Fall eines anderen Versicherten, der mit seinem Klagebegehren hinsichtlich der Anerkennung seines Morbus Parkinson durch die Einwirkung von Schädlingsbekämpfungsmitteln in der Landwirtschaft als Wie-BK vor dem LSG Rheinland-Pfalz erfolgreich war – in diesem Fall erkannte die zuständige Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft den Versicherungsfall aufgrund eines Gutachtens von PD Dr M an – , greifen nicht durch. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Parkinson´schen Erkrankung – eine Erkrankung des extrapyramidalen Nervensystems – können auf die ALS, die eine Schädigung pyramidaler Nerven darstellt, nicht ohne weiteres übertragen werden, wie aus den Ausführungen des PD Dr M hervorgeht (vgl S. 37 des Gutachtens).
Einer zusätzlichen neurotoxikologischen Begutachtung bedarf es nicht. Zwar hat PD Dr M in seinem Gutachten angemerkt, die Zellbiologie sei nicht sein "Arbeitsgebiet" (S. 39 seines Gutachtens). Da aber keine hinreichenden Fakten dafür vorliegen, dass ein solches Gutachten zu weitergehenden Erkenntnissen führen würde, ist dessen Einholung nicht angezeigt, zumal auch PD Dr M ein solches ausdrücklich nicht empfohlen hat (S. 40 seines Gutachtens).
Der Senat hat von der Ladung des Sachverständigen PD Dr M zum Termin zur mündlichen Verhandlung abgesehen. Eine solche wäre nur notwendig, wenn die Klägerin rechtzeitig vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung des Senats den Fragekomplex hinreichend konkretisiert hätte, zu dem sie Fragen an PD Dr M stellen wollte (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1). Daran fehlt es indes.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist, ob bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin in Bezug auf dessen amyotrophe Lateralsklerose (ALS) die Voraussetzungen einer Berufskrankheit (BK) oder einer Wie-Berufskrankheit (§ 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung – RVO – bzw § 9 Abs 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VII) erfüllt waren.
Der 1942 geborene und am 23.5.1999 verstorbene Ehemann der Klägerin (H) erlernte von 1959 bis 1961 den Beruf eines Pflanzenschutztechnikers und arbeitete danach im Garten- und Weinbau. Von 1971 bis 1978 war er mit der Erforschung von Pflanzenschutzmitteln in der Firma S betraut. Von 1979 bis April 1982 arbeitete er als Gärtner in der Grünflächenabteilung der Stadt F. Von 1982 bis 1995 war er neben der Tätigkeit in seinem eigenen Winzer- und Obstbaubetrieb als Subunternehmer Firma der S mit dem Befüllen von Kesselwagen mit Spritzmitteln befasst.
Im Januar 1997 erstattete der Nervenarzt Dr B (T ) eine Anzeige über eine BK bei H. Dr V (Oberarzt der Neurologischen Klinik der Universität M ) berichtete der Beklagten im April 1997: Bei der ALS, an welcher H leide, handele es sich um ein degeneratives Nervenleiden ungeklärter Ursache; vereinzelt seien Fallberichte über toxische Einflüsse veröffentlicht worden; eine Einschätzung, ob ein begründeter Verdacht auf das Vorliegen einer BK vorliege, sei ihm nicht möglich.
Die Technische Abteilung der Beklagten führte im Dezember 1997 aus, H sei einer erheblichen beruflichen Belastung durch Pflanzenschutzmittel ausgesetzt gewesen. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch Prof Dr Dr D (Neurologische Klinik des Städtischen Klinikums K ) vom Juni 1998, der ausführte: Ein sicherer Zusammenhang zwischen Toxinen und einer ALS habe bisher nicht bewiesen werden können. Eine BK liege aus neurologischer Sicht nicht vor; empfohlen werde aber die Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens. Der Staatliche Gewerbearzt A äußerte sich im Juli 1998: Nach Durchsicht der aktuellen Fachliteratur könne ein Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Pflanzenschutzmitteln und ALS nicht bestätigt werden. Daraufhin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6.10.1998 und Widerspruchsbescheid vom 17.6.1999 die Anerkennung einer BK sowie einer Wie-BK (§ 9 Abs 2 SGB VII) ab.
In dem anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Speyer (S 12 U 259/99) schlossen die Beteiligten einen Vergleich, wonach die Beklagte eine nochmalige Prüfung der arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen einer BK bzw Wie-BK vornehmen werde. Sodann holte die Beklagte eine Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom September 2002 ein, wonach dort keine neuen Erkenntnisse darüber vorlägen, ob eine Exposition gegenüber Pestiziden und Herbiziden eine ALS verursachen könne. Daraufhin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 8.10.2002 und Widerspruchsbescheid vom 20.7.2004 erneut die Anerkennung als BK sowie Wie-BK ab.
Am 5.8.2004 hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat auf ihren Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten von PD Dr M (Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität M ) vom Juni 2006 eingeholt. Dieser hat dargelegt: Bei H habe eine Mischexposition vorgelegen, sodass die Erkrankung nicht unter eine bestimmte Nummer der BKV subsumiert werden könne. Zwar sei es nach dem Stand der Wissenschaft möglich, dass neben genetischen Faktoren auch Umweltfaktoren einschließlich Pestiziden und Herbiziden als Mitursache einer ALS, an welcher H verstorben sei, in Betracht kämen. Dies sei jedoch wissenschaftlich nicht gesichert. Auch für Personen, die wie H in einem sehr hohen Maße gegenüber Herbiziden exponiert gewesen seien, gebe es keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass diese beim Menschen eine ALS verursachen könnten.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, die ALS von H als BK bzw wie eine BK anzuerkennen und ihr als Rechtsnachfolgerin von H Verletztenrente sowie Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Durch Urteil vom 30.11.2006 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Bei H seien weder die Voraussetzungen einer BK noch einer wie eine BK zu entschädigenden Erkrankung (§ 9 Abs 2 SGB VII) erfüllt gewesen. Denn die ALS von H sei nicht mit Wahrscheinlichkeit beruflich bedingt gewesen, wie aus dem Gutachten des PD Dr M hervorgehe.
Gegen dieses ihren Prozessbevollmächtigten am 8.2.2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 8.3.2007 eingelegte Berufung der Klägerin, die vorträgt: PD Dr M habe die Toxizität der beruflichen Schadstoffeinwirkungen von H unterschätzt. Er habe insbesondere einer Kombinationswirkung, ua in Bezug auf Belastungen durch Schwefelkohlenstoff, nicht hinreichend Rechnung getragen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Speyer vom 30.11.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8.10.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.7.2004 aufzuheben, die ALS ihres verstorbenen Ehemannes als BK bzw wie eine BK anzuerkennen und ihr als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes Verletztenrente sowie Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Prozessakte S 12 U 259/99 (SG Speyer) sowie die Prozessakte des vorliegenden Rechtsstreits verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zur Begründung verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs 2 SGG), wobei er Folgendes ergänzt:
Hinsichtlich des Antrags der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ist die Klage unzulässig, weil es an der erforderlichen vorherigen Durchführung eines Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens fehlt. Im übrigen ist die Klage zulässig, hat jedoch keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Verletztenrente als Sonderrechtsnachfolgerin (§ 56 Abs 1 Nr 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch –SGB I) ihres verstorbenen Ehemanns, weil bei dem Verstorbenen die Anforderungen einer BK oder einer Wie-BK nicht erfüllt waren.
Die Voraussetzungen der BK Nr 1305 ("Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff") lagen nicht vor. Bei den sog "offenen-BK-Tatbeständen", bei denen in der BK-Liste lediglich eine Erkrankung genannt wird, ohne dass eine bestimmte berufliche Noxe aufgeführt ist, kommt die Anerkennung als BK nur in Betracht, wenn festgestellt wird, dass die angeschuldigte Noxe generell geeignet ist, die konkrete Erkrankung zu verursachen (BSG 18.8.2004 – B 8 KN 1/03 U R). Dies ist vorliegend ausgehend von den Darlegungen von PD Dr M (Bl 41 seines Gutachtens) zu verneinen. Zwar können Pflanzenschutzmittel zu Schwefelkohlenstoff metabolisiert werden. Die toxikologische Plausibilität des Zusammenhangs genügt jedoch für die Feststellung der generellen Geeignetheit nicht. Unabhängig davon spricht im Fall des Versicherten entscheidend gegen eine Verursachung durch Schwefelkohlenstoff, dass eine isolierte Pyramidenbahnschädigung durch Schwefelkohlenstoff sehr ungewöhnlich ist. Im Falle einer wesentlichen Intoxikation von Schwefelkohlenstoff wäre zusätzlich mit anderen neurologischen Schädigungen zu rechnen gewesen, zB Schäden am Sehnerv, Akkomodationsstörungen oÄ, die indes nicht feststellbar waren.
Auch die BK Nr 1317 ("Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische") lag bei dem Verstorbenen nicht vor. Nach PD Dr M (Bl 36 seines Gutachtens) ist aus toxikologischer Sicht von einer relativ geringgradigen Lösungsmittelbelastung auszugehen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Beurteilung unzutreffend ist, sind nicht ersichtlich. Deshalb erübrigen sich Feststellungen, ob bei dem Versicherten – evtl neben der ALS – überhaupt eine Polyneuropathie iSd BK Nr 1317 vorgelegen hat.
Ferner bestand bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin auch keine BK Nr 1307 ("Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen"). Ebenso wie bei der BK Nr 1305 gilt auch insoweit, dass es der Feststellung der generellen Geeignetheit zur Verursachung einer ALS bedürfte, um im konkreten Fall von H von einem wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang ausgehen zu können. Hinreichend gesicherte Erkenntnisse hinsichtlich eines solchen Ursachenzusammenhangs sind aber bezüglich ALS allgemein für Umweltnoxen nicht gesichert, wie aus den Ausführungen von PD Dr M hervorgeht (S. 26 ff des Gutachtens). PD Dr M hat im Übrigen bei seiner Begutachtung auch Phosphate im Blick gehabt, wie aus seiner Erwähnung der Organophosphate im Zusammenhang mit der Erörterung des Aussagewertes eines Biological Monitorings (S. 34 des Gutachtens) hervorgeht.
Soweit die Klägerin zeitweise die BK Nr 1303 ("Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol") angesprochen hat, fehlt es an jeglichen Hinweisen für die generelle Geeignetheit zur Verursachung einer ALS. Auch insoweit ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass für diese Erkrankung ein Ursachenzusammenhang hinsichtlich aller Umweltnoxen nicht gesichert ist.
Letztlich fehlt es auch an den Voraussetzungen für eine Entschädigung als Wie-Berufskrankheit, wobei offen bleiben kann, ob insoweit § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) – anwendbar für Versicherungsfälle vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1.1.1997 – oder § 9 Abs 2 SGB VII – anwendbar für Versicherungsfälle ab dem 1.1.1997 – einschlägig wäre. Denn es mangelt an hinreichenden generellen Erkenntnissen für eine Überhäufigkeit von ALS-Erkrankungen infolge chemischer Substanzen, wie sie auf den verstorbenen Ehemann der Klägerin eingewirkt haben. Aus den eingehenden Darlegungen von PD Dr M folgt, dass genügende Anhaltspunkte für einen generellen Zusammenhang zwischen Einwirkungen durch Pestizide und Herbizide und einer ALS nicht vorhanden sind. Dies gilt auch für eine Kombinationswirkung mehrerer schädigender Einwirkungen. Soweit die Klägerin die von PD Dr M zitierte schwedische Studie aus dem Jahre 1992 als nicht aussagekräftig ansieht, ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO bzw des § 9 Abs. 2 SGB VII nur erfüllt wären, wenn gesicherte positive Erkenntnisse über eine vermehrte Häufigkeit von ALS-Leiden aufgrund der Substanzen, denen H während seiner beruflichen Tätigkeit ausgesetzt war, vorliegen würden. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die Gesamtbeurteilung von PD Dr M hinsichtlich des epidemiologischen Aussagewerts der von ihm zitierten Studien steht im Einklang mit dem Ergebnis der von dem Gutachter referierten Übersichtsarbeiten (S. 26 ff. des Gutachtens). Dem Umstand, dass Substanzen, mit denen der verstorbene Ehemann der Klägerin in Berührung kam, mittlerweile EU-rechtlich verboten sind, kommt keine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung des Zusammenhangs mit einer bestimmten Erkrankung – hier: ALS – zu. Die von der Klägerin angestellten Vergleiche mit dem Fall eines anderen Versicherten, der mit seinem Klagebegehren hinsichtlich der Anerkennung seines Morbus Parkinson durch die Einwirkung von Schädlingsbekämpfungsmitteln in der Landwirtschaft als Wie-BK vor dem LSG Rheinland-Pfalz erfolgreich war – in diesem Fall erkannte die zuständige Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft den Versicherungsfall aufgrund eines Gutachtens von PD Dr M an – , greifen nicht durch. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Parkinson´schen Erkrankung – eine Erkrankung des extrapyramidalen Nervensystems – können auf die ALS, die eine Schädigung pyramidaler Nerven darstellt, nicht ohne weiteres übertragen werden, wie aus den Ausführungen des PD Dr M hervorgeht (vgl S. 37 des Gutachtens).
Einer zusätzlichen neurotoxikologischen Begutachtung bedarf es nicht. Zwar hat PD Dr M in seinem Gutachten angemerkt, die Zellbiologie sei nicht sein "Arbeitsgebiet" (S. 39 seines Gutachtens). Da aber keine hinreichenden Fakten dafür vorliegen, dass ein solches Gutachten zu weitergehenden Erkenntnissen führen würde, ist dessen Einholung nicht angezeigt, zumal auch PD Dr M ein solches ausdrücklich nicht empfohlen hat (S. 40 seines Gutachtens).
Der Senat hat von der Ladung des Sachverständigen PD Dr M zum Termin zur mündlichen Verhandlung abgesehen. Eine solche wäre nur notwendig, wenn die Klägerin rechtzeitig vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung des Senats den Fragekomplex hinreichend konkretisiert hätte, zu dem sie Fragen an PD Dr M stellen wollte (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1). Daran fehlt es indes.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
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